12:46 VERSCHIEDENES

Wer hält den Stromtakt, wenn Grosskraftwerke vom Netz gehen?

Teaserbild-Quelle: Stphan van de Schootbrugge, Unsplash

Noch sorgen Grosskraftwerke für einen stabilen Wechselstromtakt im europäischen Stromnetz. Ein Forschungsteam der ETH Zürich haben eine Lösung gefunden, damit Wind- und Solarkraftwerke übernehmen könne.

Windturbine bei einem Tulpenfeld.

Quelle: Stphan van de Schootbrugge, Unsplash

Sollen die Kapazitäten von Wind- und Solarenergie zum blühen gebracht werden, braucht es eine Lösung, die dafür sorgt, dass das Netz stabil bleibt.

Europa soll mit erneuerbarer Energie versorgt werden. Der Ausbau der Kapazitäten der Wind- und Solarkraft und die Bereitstellung von genügend Strom im Winter sind nur zwei der Herausforderungen, die sich dabei stellen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit sind die fundamentalen Folgen für das Stromnetz: Während bisher die Generatoren der klassischen Grosskraftwerke – der Wasser-, Kohle- und Atomkraftwerke – mit ihrer einfachen und trägen Mechanik das Netz stabil hielten, braucht es nun elektronisch gesteuerte sogenannte Wechselrichter. Diese vor Netzfehlern wie Spannungseinbrüchen und Kurzschlüssen zu schützen, ist nicht einfach. Die Gruppe von Florian Dörfler, Professor für komplexe Regelungssysteme an der ETH Zürich, hat für dieses Problem eine Lösung gefunden.

Dazu muss man wissen: Durch Europas Netze fliesst Wechselstrom. Eine Hundertstelsekunde fliesst der Strom in die eine Richtung, eine Hundertstelsekunde in die andere. Diesen Takt geben die Generatoren der Grosskraftwerke vor, die über das Netz miteinander synchronisiert sind. Wind- und Solarkraftwerke hingegen produzieren Gleichstrom. Dieser muss über Wechselrichter in Wechselstrom umgewandelt werden. Die Wechselrichter orientieren sich am Takt des Netzes und speisen ihren Strom synchron dazu ein. Solange genügend grosse Kraftwerke mit Turbinen am Netz sind, funktioniert das. Wenn aber in Zukunft immer mehr Kohle- und Atomkraftwerke vom Netz gehen, fehlen diese Taktgeber, und es braucht dafür einen Ersatz. «Man kann nur einen Takt übernehmen, wenn auch einer vorgegeben wird», sagt Dörfler.

Neue Algorithmen für eine intelligente Regelung

In Zukunft sind netzbildende Wechselrichter gefragt. Das heisst, Wechselrichter, die nicht einfach wie heute einem Takt folgen, sondern aktiv mithelfen, ihn stabil zu halten. Wie solche netzbildenden Wechselrichter bei einem Kurzschluss oder einem Spannungseinbruch im Stromnetz weiterarbeiten und zugleich vor Überlastung geschützt werden können, dafür hatten Ingenieure bisher keine funktionierende Lösung. Bei den heutigen Wechselrichtern sorgt ein Schutzmechanismus dafür, dass sie sich bei einem Netzfehler vom Netz trennen. Dieser Schutz ist notwendig, da der Wechselrichter bei einem starken Spannungseinbruch im Stromnetz versuchen würde, die fehlende Spannung über eine hohe Stromabgabe ins Netz auszugleichen. Dabei würde er überlastet und innerhalb von Millisekunden irreparabel beschädigt.

Mit neuen Algorithmen für eine intelligente Regelung ist es Dörflers Gruppe nun gelungen, die netzbildenden Wechselrichter auch bei einem Netzfehler weiterzubetreiben. Ein rigoroses Abschalten gibt es damit nicht mehr. Damit kann eine Windkraft- oder Photovoltaikanlage auch bei einem Netzfehler am Netz bleiben, weiterhin Strom liefern und so zur Stabilisierung der Netzfrequenz beitragen. Die Anlage kann so die Rolle übernehmen, die heute den klassischen Grosskraftwerken zukommt. Die Steuerung des Wechselrichters misst kontinuierlich die Netzparameter und passt den Wechselrichter über eine Rückkoppelungsschleife in Echtzeit daran an. Die ETH Zürich hat die neuen Algorithmen zum Patent angemeldet.

Netzspannung und Frequenz des Wechselstroms

Die zündende Idee dazu hatte Maitraya Desai, ein Masterstudent von Dörfler, der mittlerweile an der ETH doktoriert. Desai erkannte, dass man bei Netzfehlern die Netzspannung und die Frequenz des Wechselstroms am besten unabhängig voneinander behandelt. Bei einem Netzfehler ist es schwierig, die Spannung zu halten. Der neue Regelalgorithmus konzentriert sich daher auf die Taktfrequenz und versucht, diese unter allen Umständen im Netz stabil zu halten. Dabei begrenzt der Regelalgorithmus den Strom, um eine Überlastung des Wechselrichters zu verhindern, die Spannung lässt er dabei frei schwanken.

Die ETH-Forscherinnen und -Forscher stellten zunächst Berechnungen an, überprüften diese dann in Computersimulationen und schliesslich in einer kleinen Testanlage im Labor. Da es sich um reine Softwareverbesserungen handelt, muss die Industrie keine Demonstrationsanlagen bauen, sondern kann die Algorithmen direkt in ihre Steuerungssoftware übernehmen. Dörfler plant, dazu mit interessierten Industriepartnern eng zusammenzuarbeiten. So sollen unter anderem ETH-Studierende ihre Masterarbeiten in Industrieunternehmen durchführen und dabei helfen, den neuen Ansatz in die Produkte der Industriepartner zu implementieren.

«Wir und andere forschen seit 15 Jahren auf diesem Gebiet», sagt Dörfler. «Unser Ansatz ist derzeit der beste, um das Problem zu lösen.» Die neuen Algorithmen tragen zur Stabilität des Stromnetzes bei, verringern das Risiko von Blackouts und ebnen den Weg von zentralen Grosskraftwerken hin zu einem dezentralen, flexiblen System kleinerer Kraftwerke, die erneuerbare Energie liefern. Damit könnten sie zu einem entscheidenden Baustein der Energiewende werden. ( ETH, Fabio Bergamin, Hochschulkommunikation/mai)

Den Text hier im Original lesen: https://ethz.ch/

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