Weltweit einmalige Messstation für Erbebenregion in der Türkei
Eine sogenannten Multiparamenter-Bohrloch-Messstation des Deutschen Geoforschungszentrums (GFZ) am Marmarameer registriert sämtliche Deformationsprozesse im Grund, vom Kriechen von Erdplatten bis hin zu Erdbeben. Die Daten sollen helfen, für die stark Erdbebengefährdete Region ein Warnsystem zu entwickeln. Vor kurzem wurde die gemäss GFZ weltweit einmalige Anlage in Betrieb genommen.
Quelle: NOAA National Geophysical Data Center
Bim Izimit-Erdbeben zerstörtes Gebäude in Golcuk, im August 1999. - Bei dem Gebäude handelte es sich laut NOAA um einen siebenstöckigen Stahlbetonrahmenbau mit Hohlziegelausfachung. Die Träger der Stockwerke versagten, und das Gebäude stürzte ein.
Premiere auf der Kapidag-Halbinsel im Nordwesten der Türkei, am Marmarameer: Nach mehreren Wochen andauernden Bohr- und Installationsarbeiten sowie abgeschlossener Testphase hat das Deutsche Geoforschungszentrum (GFZ) dort in diesen Tagen eine Messtation in Betrieb genommen. Wie das GFZ mitteilt, ist sie weltweit einmalig.
Es handelt sich um eine sogenannte Multiparamenter-Bohrloch-Messstation. Sie reicht 120 Meter tief ins Erdreich. Dank modernster Seismometer-Sensoren und hochpräziser Deformationsmessgeräte - sie weisen eine Genauigkeit von einem Hundertstel Atomdurchmesser auf - kann die Messstation gemäss GFZ sämtliche Deformationsprozesse registrieren, die im Untergrund im Gang sind. Vom langsamen Kriechen der Eurasischen und der Anatolischen Kontinentalplatten bis hin zu Erdbeben. Ihr Zweck: die Bewegungen der Eurasischen und der Anatolischen Kontinentalplatten unterhalb des Marmarameeres überwachen. Die neue Messstation ist Teil der Erweiterung, welche die bisher sieben Standorte des GONAF (Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault) ergänzen soll, die das GFZ seit 2015 in der Istanbul-Marmararegion zusammen mit dem türkischen Katastrophenschutz AFAD betreibt. Zusätzliche Standorte an der Nordküste des Marmarameeres sind in Planung.
Mit der neuen Station können man das gesamte Spektrum an Deformationsprozessen in nur einer Bohrung überwachen – dies gebe es so bisher nirgends, erklärt Patricia Martinez-Garzon. Sie koordiniert zusammen mit Marco Bohnhoff das GONAF. - Hinzu kommt eine zweite Bohrung an derselben Stelle der neuen Messstation, in der ein Porendrucksensor auftretende Druckwellen erfasst. Sämtliche Daten werden in Echtzeit parallel nach Potsdam zum GFZ und nach Ankara zu AFAD übermittelt.
In dem Gebiet oder vielmehr in nächster Nähe zur Metropolregion Istanbul mit mehr als 16 Millionen Einwohnern, rechnen Fachleute mit einem starken Erdbeben von einer Magnitude von mehr als 7: «Statistisch gesehen ist so ein Megabeben überfällig», sagt Marco Bohnhoff, der das GONAF auch leitet. «Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wann es kommt – morgen, in den nächsten Monaten oder erst in zwanzig, dreissig Jahren.» Die Region ist massiv gefährdet, nicht nur wegen der Millionen Menschen, die hier zu Hause sind: Die Unternehmen und Arbeitsplätze in und um Istanbul machen etwa 40 Prozent der türkischen Wirtschaftskraft aus.
Erdbeben-Lücke entlang der eurasisch-anatolischen tektonischen Plattengrenze
Das GONAF-Observatorium hat im Laufe der Jahre eine Reihe von Schlüssel-Beobachtungen geliefert, wie der Medienmitteilung des GFZ zu entnehmen ist. So sei es gelungen, die Erdbeben-Lücke entlang der eurasisch-anatolischen tektonischen Plattengrenze systematisch zu unterteilen. - Von einer Lücke spricht man in der Seismologie, wenn der Bereich einer aktiven Plattengrenze oder geologischen Störung während des tektonischen Ladeprozesses über Jahrzehnte Energie sammelt und dabei ruhig bleibt. Je länger dieser Prozess dauert, umso mehr Energie wird aufgestaut, die sich auf einen Schlag entladen kann. Im Fall der nordanatolischen Störung gebe es so eine - aktuell überfällige - Lücke unterhalb des Marmarameeres, schreibt das GFZ. Mit Hilfe von GONAF-Messungen habe diese Lücke dezidiert entschlüsselt werden können: Der östliche Teil dieser Lücke unmittelbar südlich von Istanbul sei komplett verhakt. Dem gegenüber glitten beide Erdplatten weiter westlich fast still und leise aneinander vorbei. «Die angestaute tektonische Energie ist damit unter dem östlichen Marmarameer maximal. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Berechnung der Szenarien im Fall des überfälligen Starkbebens und dessen Folgen auf das Stadtgebiet Istanbuls», erklärt Bohnhoff.
Das GONAF-Observatorium hat sich bislang mit insgesamt sieben Standorten auf die östliche Marmararegion konzentriert. Die seismische Lücke, entlang derer sich das nächste Starkbeben laut Bohnhof und seinen Kollegen mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignen wird, erstreckt sich allerdings über das gesamte Marmarameer von Ost nach West zwischen den letzten beiden Megabeben der Region, dem Izmit-Erdbeben 1999 und dem Ganos-Erdbeben 1912. Istanbul liegt genau dazwischen. - Für eine bessere Überwachung sorgt daher die neue Multiparameter-Bohrloch-Messstation.
Wenige Sekunden Zeit für eine Erdbebenwarnung
Hauptbestreben des GONAF ist es, ein neuartiges prognosebasiertes Erdbebenfrühwarnsystem für den Raum Istanbul zu entwickeln. Dieses zielt darauf ab, eventuelle vor einem starken Erdbeben auftretende Signale vollautomatisch zu analysieren und dann den türkischen Behörden zu übermitteln, um gegebenenfalls Warnungen auszusprechen. Dies sei von kritischer Bedeutung, weil aufgrund der geringen Entfernung von nur wenigen Zehner-Kilometern zwischen der Marmara-Störungszone und dem Ballungsraum Istanbul der Einsatz von klassischen Erdbeben-Frühwarnsystemen bestenfalls wenige Sekunden Zeit für eine Warnung liesse.
(mai/mgt)