Naturgefahren: Künstliche Intelligenz verbessert Frühwarnsystem
Bei Geröll- und Schlammlawinen bleibt oft wenig Zeit, um die Bevölkerung zu warnen. Mit seismischem Monitoring und maschinellem Lernen entwickelten Forscher der ETH Zürich und der WSL am Illgraben bei Leuk VS ein Alarmsystem, das Murgänge früher erkennt.
Von Michael Keller*
Murgänge sind Gemenge aus Geröll, Erde und Wasser. Oft
entstehen sie bei Starkregen in steilem alpinem Gelände und donnern
unkontrolliert durch Schluchten und Bergbäche ins Tal. Allein in der Schweiz
gibt es mehrere hundert Ereignisse pro Jahr. Der Klimawandel begünstigt das
Naturphänomen, weil Permafrostböden zusehends instabil werden und
Extremwetterereignisse zunehmen. Sind Murgänge besonders gross oder treten sie
an unerwarteten Orten auf, entfalten sie ein erhebliches Zerstörungspotenzial,
das Menschen, Infrastruktur und Umwelt bedroht.
Um die Gefahr in exponierten Gebieten zu mindern, spielen
Warnsysteme eine wichtige Rolle. Entscheidend ist, die nahenden Schlamm- und
Geröllmassen möglichst früh und zuverlässig zu erkennen. Heute basieren
Alarmsysteme auf Instrumenten, die typischerweise in zugänglichen,
tiefergelegenen Talabschnitten installiert werden müssen. So registrieren sie
Ereignisse erst relativ spät – ein weitverbreitetes Problem bei der Detektion
von Murgängen.
Forschende der ETH Zürich und der eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft WSL haben nun einen neuartigen Detektor entwickelt, der Murgänge früher erkennen kann als bisher verwendete System. Er identifiziert schon kleinste Erschütterungen aus sicherer Distanz, die Murgänge kurz nach ihrer Auslösung verursachen. Ihren neuartigen Ansatz stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Fabian Walter, ETH-Professor für Gletscherseismologie, in der Fachzeitschrift «Geophysical Research Letters» vor. Für ihre Studie wählten die Forscherinnen und Forscher den Illgraben bei Leuk im Kanton Wallis.
Quelle: Michaela Wenner
Im Einzugsgebiet löst sich bei starken Regenfällen das Geschiebe aus den lockeren Erdschichten.
Messungen beim Illgraben
An den steilen Hängen des oberen Einzugsgebietes des
Gerinnes bricht häufig Fels- und Erdmaterial ab – es entstehen mitunter
gewaltige Geröll- und Schlammlawinen, die sich über zwei bis drei Kilometer
durch die tief eingeschnittene Schlucht des Illgrabens wälzen. Anschliessend
erreichen sie das Haupttal und legen noch einmal diese Distanz zurück, bevor
sie in die Rhone münden. Die WSL betreibt am Illgraben seit gut 20 Jahren ein
Observatorium mit Messstationen, um die Bildung und Bewegung von Murgängen zu
studieren und ihre Masse, Dichte und Geschwindigkeit zu bestimmen.
In den 1960er-Jahren wurde das untere Gerinne des Illgrabens
saniert und mit mehreren Talsperren gesichert, sodass die meisten Niedergänge
im Gerinne verbleiben und umliegendes Gelände, etwa die Mündung des Illgrabens
in die Rhone, nicht gefährden. Da verschiedene Wanderwege nahe am Graben und
durch das Gerinne verlaufen, alarmiert seit 2007 ein Frühwarnsystem vor
Murgängen.
Dieses System basiert auf Sensoren im Bachbett, darunter
Geophone, Radar- und Lasermessgeräte sowie Videokameras. Die Instrumente
erfassen vorbeiziehende Murgänge zwar zuverlässig, sind aber nur im unteren
Abschnitt des Tals einsetzbar, wo der Wildbach zugänglich ist. Das begrenzt die
Warnzeit auf wenige Minuten.
Verwendung von Seismometern
An diesem Schwachpunkt setzt die neue Studie an. «Wir wollen
Steinschläge und Murgänge so früh wie möglich detektieren, um die Bevölkerung
in Risikogebieten mit genügend Vorlaufzeit zu warnen», erklärt Malgorzata
Chmiel, Erstautorin des Papers und Postdoktorandin in Walters Forschungsgruppe
an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH
Zürich. Statt Murgänge mit üblichen Instrumenten zu überwachen, verwenden
Walter und sein Team seismische Sensoren, die normalerweise bei der Messung von
Erdbeben eingesetzt werden.
Mit Seismometern lassen sich auch Erschütterungen von Murgängen
aufzeichnen. Diese können je nach Ereignisgrösse sogar mehrere Kilometer
entfernt sein. «Somit sind Murgänge bereits potenziell detektierbar, wenn sie
sich noch in höher gelegenen und unzugänglichen Gebieten befinden», erklärt
Walter den Vorteil des neuartigen Überwachungssystems. Zu diesem Zweck
installierten die Forschenden ein Netzwerk von Seismometern rund um das
Einzugsgebiet des Illgrabens.
Mittels KI Unterscheiden lernen
Die eigentliche Herausforderung lag jedoch darin, einen Detektor zu schaffen, der in einem kontinuierlichen Strom seismischer Daten spezifisch die Erschütterungen eines Murgangs von anderen Bodenvibrationen unterscheiden kann. Denn auch Kuhherden, entfernte Baustellen oder der Bahn- und Strassenverkehr lassen die Erde zittern.
Walters Team setzte auch maschinelles Lernen ein, eine Methode der künstlichen Intelligenz (KI), bei der ein Rechner selbständig anhand von Trainingsdaten lernt, wie er Muster in grossen Datensätzen erkennen kann. Die Forscherinnen und Forscher trainierten den Lernalgorithmus mit Signalen früherer Massenbewegungen, die sie zuvor am Illgraben aufgezeichnet hatten, insgesamt Daten von 22 Ereignissen wurden dazu verwendet.
Danach
testeten sie ihr System unter realen Bedingungen mit seismischen Monitoring-Daten
in Echtzeit. Das Resultat: Von 13 Murgängen und kleineren Flutereignissen, die
sich im Sommer 2020 am Illgraben ereigneten, erkannte der KI-Detektor jedes
einzelne zuverlässig – ohne Fehlalarme zu auszulösen. «Dabei erfasste der
Algorithmus bereits die ersten Erschütterungen weit oben entstehender
Murgänge», betont Walter. Am Illgraben erhöhte dies die Warnzeiten um
mindestens 20 Minuten im Vergleich zu bestehenden Detektionssystemen. «Das ist
eine enorme Verbesserung», erklärt Walter.
Generalist oder Spezialist?
Mit ihrer Studie lieferten die Wissenschaftler den Nachweis,
dass sich Murgänge mit seismischen Daten und maschinellem Lernen frühzeitig
erkennen lassen. Der Illgraben bietet dazu ein ideales Naturlabor, und der
Ansatz funktioniert dort gut. Allerdings benötigt die Methode einen
umfangreichen Datensatz von Signalen über Murgänge, um den Algorithmus zu
trainieren. «Solche Trainingsdaten sind woanders fast nie verfügbar», räumt der
Spezialist für seismische Massenbewegungen ein.
Noch ist unklar, inwiefern der am Illgraben trainierte
Detektor generell auch Murgänge in anderen Einzugsgebieten erkennen kann. Die
Forscherinnen und Forscher wollen den Algorithmus künftig so erweitern, dass er
auch mit weniger oder vielleicht sogar ohne ortsspezifische Trainingsdaten
auskommt.
Kooperation für Früherkennung
Die Ambitionen des Forschungsteams gehen aber noch weiter.
Der neuartige Detektor ist ein erster Meilenstein in einem übergeordneten
Projekt von WSL und Swisscom Broadcast. Die Forschungskooperation, an der auch
Walters Gruppe massgeblich beteiligt ist, will das Monitoring von
Massenbewegungen im gesamten Alpenraum verbessern. Swisscom Broadcast
entwickelt dazu eine Plattform, die Datenströme aus unterschiedlichen Quellen
zusammenführt und in Echtzeit auswertet, um Naturgefahren frühzeitig zu
erkennen.
Derzeit bezieht die Naturgefahren-Plattform in erster Linie Daten von Fabian Walters seismischen Sensoren sowie von Seismografen des Schweizerischen Erdbebendienstes. Die Forschenden arbeiten daran, in Zukunft weitere relevante Datenquellen einzubinden – von Niederschlagswerten und Messungen von Veränderungen des Permafrosts über seismisches Monitoring anhand von Glasfaserkabeln bis hin zu einer Vielzahl von Internet-of-Things-Sensoren. «Um solche riesigen Datenmengen zu verarbeiten, braucht es Big-Data-Verfahren und intelligente Algorithmen», sagt Walter. Der KI-Detektor für Murgänge ist ein erster Schritt in diese Richtung.
* Der Beitrag von Michael Keller ist zuerst in
den ETH-News erschienen.