Materialforschung: Wie rollende Partikel in Suspensionen wirken
Wenn in Suspensionen wie Lacken, Farben oder Beton winzige Partikel aneinander vorbeirollen, treten mikroskopische Kräfte auf. Materialforscher der ETH Zürich konnten diese nun erstmals genau messen. Die Ergebnisse können dazu beitragen, Suspensionen zu optimieren und neue Anwendungsfelder zu erschliessen.

Quelle: zvg
Künstlerische Darstellung der eigens entwickelten Rasterkraftmikroskop-Nadel zur Messung der Rollreibung von mikroskopisch kleinen, rauen, fluoreszierenden Partikeln.
Suspensionen sind in der Industrie und im Alltag weit verbreitet. Die Materialwissenschaft subsummiert unter dem Ausdruck Flüssigkeiten, in denen kleine feste, aber unlösliche Partikel gleichmässig verteilt sind, wie dies bei Lacken, Farben oder Beton der Fall ist. Wenn in einer solchen Mischung die Konzentration der Teilchen sehr hoch ist, können Phänomene auftreten, die unserem alltäglichen Verständnis von einer Flüssigkeit widersprechen. Wenn eine starke Kraft auf sie einwirkt, können diese sogenannten nicht-newtonschen Flüssigkeiten plötzlich zähflüssig beziehungsweise viskoser werden. Für einen kurzen Moment verhält sich die Flüssigkeit wie ein Festkörper.
Erklärung für Zähflüssigkeit gefunden
Der Grund für diese plötzliche Verdickung sind die in der Suspension vorhandenen Teilchen. Wird die Suspension verformt, müssen sich die Partikel neu anordnen. Energetisch günstiger ist es, wenn sie aneinander vorbeirollen, wann immer dies möglich ist. Unter bestimmten Umständen ist dies jedoch nicht mehr möglich. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich mehrere Partikel ineinander verkanten mit dem Effekt, dass sie dann relativ zueinander rutschen. Das Aneinander vorbeirutschen erfordert jedoch viel mehr Kraft, was das Phänomen der Zähflüssigkeit erklärt.

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Ein rauer Partikel wird auf ein Substrat mit gleichwertigen Eigenschaften gedrückt und horizontal bewegt, um die Reibung zwischen den beiden Oberflächen zu bestimmen. Repräsentatives Bild vom Versuchsaufbau, Aufnahme mit einem Rasterelektronenmikroskop.
Die Wechselwirkungen, die im mikroskopisch kleinen Massstab auftreten, beeinflussen somit das gesamte System und sie sind letztlich entscheidend dafür, wie eine Suspension fliesst. Um sie zu optimieren und ihr Fliessverhalten gezielt zu beeinflussen, gilt es für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verstehen, wie gross die Reibungskräfte zwischen den einzelnen Partikeln sind.
Dabei sind die untersuchten Partikel winzig klein. Messungen vorgenommen mussten jeweils an einem einzelnen runden Partikel. Bei der Versuchsanordnung betrug ihr Durchmesser gerade mal zwölf Mikrometer, was rund zwölf Millionstel Meter entspricht. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Entwicklung eines geeigneten Messverfahrens, um die am Partikel auftretende Rollreibung zu messen.

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Ein eigens hergestellter Partikel aus Quarz mit definierter rauer Oberfläche. Aufnahme mit mit einem Rasterelektronenmikroskop.
Dabei stellt sich dem Forschungsteam eine besondere Herausforderung. Denn für Untersuchungen an Kleinstpartikeln mussten diese mit einer geeigneten Halterung fixiert werden können. Bis ein solche Vorrichtung gefunden war, welche die Anforderungen erfüllte, hatte Doktorand Simon Scherrer schliesslich rund 50 verschiedene Varianten entwickelt und durchgeprobt.
Reibungskräfte messen
Ausgeführt wurden die Messungen durch Materialforschende der ETH Zürich unter der Leitung von Lucio Isa, Professor für Grenzflächen und weiche Materialien. Mit einem Rasterkraftmikroskop wurden sodann die Reibungskräfte einzelner Partikel methodisch gemessen. Dabei wurde das fixierte Kügelchen mit dem Mikroskop über eine flache Oberfläche bewegt, deren Beschaffenheit jener des untersuchten Partikels entspracht. Auf diese Weise imitierten die Forschenden die Situation, bei der sich zwei Partikel aneinander vorbeibewegen. Ziel war es, die dabei auftretenden winzigen Kräfte zwischen den Oberflächen zu messen.

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In einer Suspension können sich raue Partikel ineinander verhaken und das Fliessverhalten beeinflussen. Bild: Raue Partikel zur Verwendung in der Studie, aufgenommen mit einem Rasterelektronenmikroskop.
Um zu verstehen, wie die Oberfläche der Teilchen jeweils das Verhalten der Suspension beeinflusst, wurden verschiedene Partikel mit unterschiedlichen Oberflächen getestet. Dabei habe es sich gezeigt, dass Partikel mit einer glatten Oberfläche einfach und ohne grossen Widerstand aneinander vorbeigeglitten seien, und zwar unabhängig davon, wie fest sie aufeinandergedrückt wurden, wie Scherrer ausführt. Ganz anders dagegen habe sich die Situation bei rauen oder klebrigen Partikeln präsentiert, da sich diese Teilchen ineinander verhaken wie Zahnräder und mit wenig Widerstand rollen. Zuletzt fixierten die Forschenden die Partikel in der Halterung, um deren Gleitreibung zu messen. Diese ist um ein Vielfaches höher als die Rollreibung, und erklärt die dramatische Verdickung der Suspensionen.
Optimales Fliessverhalten ermitteln
Aus ihren Messungen konnten die Forschenden direkt die Koeffizienten für Roll- und Gleitreibung der jeweiligen Partikel ableiten. Diese Zahlenwerte lassen sich in Computermodellen verwenden, um Suspensionen mit hohem Teilchenanteil zu simulieren und so das optimale Fliessverhalten zu ermitteln. Diese Erkenntnisse über die mikroskopischen Mechanismen, die die Ursache für die Verdickung bilden, eröffnen neue Ansätze zur Optimierung von Suspensionen für die Industrie, den Bau oder den Alltag. Davon könnten unter anderem die Betonindustrie profitieren.

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Ein eigens hergestelltes Partikel aus Quarz mit glatter Oberfläche. Zusätzlich beschichtet mit einem Polymer, liessen sich auch klebrige Partikeloberflächen untersuchen. Das Bild wurde mit einem Rasterelektronenmikroskop aufgenommen.
ikroelektronikhersteller beispielsweise setzen schon jetzt dichte Suspensionen mit metallischen, leitenden Partikeln ein, um Bauteile auf Leiterplatten zu löten. Die Lötpaste wird durch schmale Düsen gepresst. Ist der Druck zu gross, kann sich die Paste schlagartig verdicken und die Düse verstopfen. Um ein solches Verhalten verhindern und um Suspensionen optimieren zu können, sei es entscheidend zu wissen, wie sich Partikel auf der Mikroskala verhalten und welche Kräfte dabei auftreten werden, sagt Isa. Die Erkenntnisse der Studie sind auch für die Bauindustrie relevant, indem sich das Fliessverhalten etwas Transport von Beton und Zement besser verstehen lässt. Zudem können sie den Einsatz neuer technischer Anwendungen wie 3D-Druckverfahren beim Bau von Gebäuden unterstützen.
Autor des Beitrags: Peter Rüegg, ETH Zürich / Bearbeitung: sts. Der Beitrag erschien zuvor unter den ETH-News: https://ethz.ch