Klaus Humpert: «Faul sind die Menschen auch in Zukunft»
Im Oktober ist der Freiburger Stadtplaner, Architekt und Vordenker Klaus Humpert mit 91 Jahren gestorben. Kurz vor dem Tod sprach das «Baublatt» mit ihm über Abkürzungen, Trampelpfade, mittelalterliche Stadtplanung und was wir von seiner lebenslangen Forschung lernen können.
Wie sind Sie zu dem «Phänomen des
menschlichen Laufens», wie Sie es im Buch «Lauf-Spuren» nennen, gestossen?
Klaus Humpert: Ich war im Sonderforschungsprojekt
«Natürliche Konstruktionen» mit Frei Otto in Stuttgart involviert. Da haben wir
uns auch das Laufen besonders vorgenommen und da bin ich darauf gekommen, dass
mich das Laufen sehr interessiert. Besonders interessierte mich aber das
Besetzen. Das heisst, wie die Menschen eine Fläche oder einen Standort belegen
oder eben besetzen. Beim Laufen habe ich im Grunde genommen vor allem
Selbstversuche gemacht. Ausserdem habe ich über Jahre Trampelpfade gesammelt und
damit Forschung betrieben. Zu meinem Geburtstag haben mir dann ehemalige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Buch «Lauf-Spuren» geschenkt. Die Fotos
sind alle von mir und auch die Texte sind von mir diktiert im Laufe der Zeit.
Hat sich Ihr Laufen durch Ihre Selbstbeobachtung verändert?
Nein. Das hat sich nicht verändert. Es ging lediglich um die
Bewusstmachung. So habe ich mir, wenn ich einen Weg suchte, bewusst gemacht,
was ich dabei gedacht habe. Wie habe ich mich entschieden, den Weg so zu
nehmen. Dann habe ich Mechanismen rausgefunden wie beispielsweise, dass man
dauernd optimiert und immer mit sich im Gespräch ist. Wobei die Frage meistens
ist, wo soll ich laufen, und dann gibt man sich die Antwort. Das ist der
sichere Weg nachts. Oder das ist der schönere Weg. Oder vor allem: Das ist der
kürzere Weg. Die zentrale Fragestellung ist eigentlich immer, wo ist der
kürzere Weg. Man optimiert permanent den körperlichen Einsatz. Abkürzen ist ja
nichts anderes als Energiesparen.
Sie würden deshalb sagen, der Mensch hat seit jeher
abgekürzt?
Natürlich. Das machen auch alle Tiere. Die Spuren von Kühen
sind genau die gleichen wie diejenigen der Menschen. Auch die Kühe kürzen ab.
Aber wenn sie Gras fressen, tun sie das nicht, da laufen sie hin und her. Aber
wenn sie nach Hause gehen, dann machen sie genau die gleichen Abkürzungen und
wenn sie ein Hindernis haben, laufen sie ganz knapp an diesem Hindernis vorbei.
Wir haben verschiedene Versuche gemacht. So haben wir beispielsweise Leute
dabei fotografiert, wie sie eine unglaubliche Energie aufbringen, um
abzukürzen. Im Winter sind sie zum Beispiel immer ganz knapp um ein Blumenbeet
herum gelaufen und dadurch hat sich an dieser Stelle Eis gebildet. Das hat sie
aber gar nicht gestört. Sie sind lieber auf dem Eis gelaufen, nur damit sie
abkürzen können.
Würden Sie sagen, die Gesetzmässigkeiten des Laufens sind
vor allem Weglänge, Sicherheit, Bodenbeschaffenheit, Steigung und vielleicht
noch die Schönheit des Wegs?
Ja. Wenn sie spazieren gehen, Lustlaufen habe ich das genannt, dann geht es nicht um die Abkürzung. Dann macht man einen Rundweg. Es ist ein Unterschied, ob ich von A nach B will. Dann läuft ein ganz bestimmtes Programm ab, da möchte ich hin und am besten kurz. Aber beim Spazieren ist nur der Weg wichtig und nicht die Energieersparnis. Es geht um die Schönheit, den Blick und vieles andere.
Sie würden daher sagen, der Naturweg, wie Sie ihn nennen,
ist eigentlich immer die Ideallinie?
Ja. Sie müssen sich vorstellen, die Menschheit hat in 99,99
Prozent der Zeit niemals Wege gebaut. Ein Weg ist immer entstanden. Das heisst,
es ist immer ein Trampelpfad. Es ist ein in den Boden Abdrücken der
Laufoptimierung. Erst in modernerer Zeit – die Römer haben damit angefangen –
wird der Weg geplant. Deshalb konnten wir immer stark zwischen Kunst- und
Naturweg unterscheiden. Denn der Kunstweg folgt nicht unbedingt dieser
Optimierung, sondern folgt anderen Logiken wie beispielsweise der Sicherheit. Die
römische Strasse wird auf Fernziele orientiert. Ein Trampelpfad hingegen
beachtet eher die nahen Probleme, ob es beispielsweise feucht ist. Deswegen
konnten mein Sohn Johannes und ich aus der genauen Kenntnis des Laufverhaltens
den römischen Übergang über den Schwarzwald klären. Man hatte immer geforscht,
aber nie rausgefunden, wie die Römer vom Rheintal an die obere Donau gekommen
sind. Erst durch unsere genaue Untersuchung der Naturwege haben wir dann die
römische Strasse gefunden, die eine Planstrasse ist. Die wurde abgesteckt und
ausgebaut.
Wie lange haben Sie dafür gebraucht, die römische Strasse
durch den Schwarzwald zu finden?
Zwei bis drei Jahre haben wir gesucht. Wir haben dann
entdeckt, dass bei der Gemeinde Denzlingen ein römischer Kanal gewesen sein
muss und daneben musste die alte Römische Strasse verlaufen sein, die den
Ausstieg aus dem Rheintal in den Schwarzwald bedeutete. Parallel zur Strasse
haben die Römer nämlich eine Fassung der Glotter gemacht. Da haben wir zum
ersten Mal den Römerweg gefunden, weil der Bach auf über 2,5 Kilometer völlig
gerade in der Gegend liegt, was es in der Natur gar nicht gibt. Die Natur macht
niemals auf 2,5 Kilometer eine ganz gerade Linie.
Sie sagen, nicht nur die Bauwerke sind sehr alt, sondern
auch die Wege. So beruht laut Ihrer Annahme das Bundesstrassennetz im Gegensatz
zum Autobahnnetz zu grossen Teilen auf alten Naturwegen. Davon profitiere man
bis heute. Denn das Problem der Naturwege sei nicht die Linienführung, sondern
der unzureichende Bauzustand gewesen.
Ja. Die Linienführung ist gut, denn die geht immer von Punkt zu Punkt. Das Problem ist, dass man durch die Erfindung der Motorkraft die Geschwindigkeit erhöhen konnte. Wenn man aber die Strassenführung günstiger macht, damit man schneller fahren kann, tritt das Phänomen ein, dass man sich weiter bewegt und trotzdem schneller ankommt. Aus diesem Grund hat das ganze Schnellstrassennetz ein anderes Charakteristikum als das Naturnetz. Letzteres ist viel feingliedriger und hat unglaublich viele Abkürzungen. Das moderne Netz hingegen muss Boden sparen. Im Naturnetz gab es eine rechtwinklige Abzweigung überhaupt nie. Die gab es höchstens an einer Kreuzung von zwei grossen Fernwegen. Aber an dieser Stelle ist niemand abgezweigt. Wer sich entschieden hat, auf den anderen Querweg überzusteigen, der ist Kilometer davor schon abgewichen. Wenn das Ziel 20 bis 30 Grad aus der Lauflinie wandert, dann löst sich der Weg und macht sich einen neuen. Das haben wir nachgewiesen. Ein Auto hingegen macht das nie. Die Autoverkehrsnetze, die werden ganz nah herangeführt und machen einen rechten Winkel. Deswegen würde ein Autonetz niemals für Fussgänger verwendbar sein. Die würden ganz andere Wege in die Gegend legen.
Also kann man zusammenfassen, bis zum motorisierten Verkehr
waren die meisten Strassen sehr alt?
Ja, die sind alle sehr alt und allesamt Sterne. Eine
wichtige Stelle hat wahnsinnig viele Zuläufe und das führte dann, als der
Verkehr zugenommen hat, im Zentrum, wo alle Wege zusammenkommen, zu grossen
Verkehrsproblemen. Das hat schon begonnen, als noch Fuhrwerke gefahren sind. In
Paris hat man deshalb den Boulevard erfunden, weil die Fernwege alle auf den
Marktplatz führten. Die Franzosen haben also sehr früh erkannt, dass sie eine
Ringstrasse um ihr mittelalterliches Netz ziehen müssen, damit es im
Mittelpunkt nicht zu einer Überlastung kommt. Das ist ein Problem, dass wir
heute bei allen Verkehrsnetzen und auch bei deren Umbau haben. Denn das
historische Netz zielt auf die Mitte, was wiederum dazu führt, dass dort wahnsinnige
Überlastungen auftreten. Das Autobahnnetz hingegen hat eine ganz andere
Struktur. Das ist immer ein Vorbei-Netz. Es geht an den Zielen vorbei, niemals
in das Ziel rein. Die Zürcher haben ja damals kurz vor einer Katastrophe
gestanden, weil sie mehrere Autobahnen in das Zentrum geführt haben. Eine
Autobahn muss aber am Zielpunkt vorbeiführen und dann gibt es extra eine
Abzweigung, um in die Stadt hineinzufahren. Momentan ist das fast nicht mehr
korrigierbar. Dieser Ausspruch ‹Ausbau statt Neubau› war einer der
katastrophalsten Begriffe. Dass man gesagt hat, wir bauen die Strasse immer
grösser. Aber an der historischen Strasse liegen die Dörfer und die Gasthäuser
und wenn die Strasse immer grösser wird, dann zerstört sie die ganzen
Siedlungsstrukturen. Dieses Problem wird meistens nicht gesehen.
Sie sind von Haus aus Architekt, waren dann aber lange
Stadtplaner in Freiburg und haben sich vertieft mit Stadtplanung
auseinandergesetzt, waren auch Professor für Städtebau an der Universität in
Stuttgart. Würden Sie sagen, dass die heutige Stadtplanung dem menschlichen
Laufverhalten entgegen läuft?
Das glaube ich nicht. Eine Stadt ist immer ein Ort, wo die
Abkürzungen im Grunde genommen nicht optimiert sind. Die Stadt hat ein Netz,
welches meistens – insbesondere in Amerika – rechtwinklig ist. Und in einem
rechtwinkligen Netz können sie keine Abkürzung machen. Eine Abkürzung ist immer
eine Diagonale. Deswegen hat man bei den Hochleistungsstrassen der letzten zwei
Jahrhunderte, beispielsweise in Barcelona oder in Washington, überall
Diagonalen reingelegt. Mit der Folge, dass die Diagonalen wahnsinnig viel
Verkehr angezogen haben. Aber im Grunde genommen kann man den
Hochleistungsverkehr nicht den kürzesten Weg fahren lassen.
Aber kann man da als Stadtplaner dem menschlichen Laufen
wieder entgegenkommen?
Ja, aber natürlich. Die ganzen Fussgängerzonen sind so
konzipiert. Die Menschen laufen ja heute keine grossen Strecken mehr. Es läuft
fast kein Mensch mehr in eine Stadt, die 20 Kilometer entfernt ist. Aber die
Fahrradnetzstruktur ist jener der Fusswege eigentlich sehr ähnlich. Und die
kann eigentlich dieses Direktwegenetz, das die Fussgänger früher hatten, wieder
verwenden. Deswegen ist ein grosser Vorteil, wenn es ihnen gelingt, ein altes
Netz von den Hochleistungsbelastungen zu befreien und den Fahrradfahrern
zurückzugeben. Denn die Fussgänger laufen heute keine langen Strecken, aber die
Fahrradfahrer bewegen sich wieder in Entfernungen von 10 bis 20 Kilometern und
bevorzugen natürlich dieses Naturnetz.
Also könnte es beispielsweise ein Ansatz für die moderne
Stadtplanung sein, dass man versucht, die alten Naturwege vom motorisierten
Verkehr zu entlasten und für die Fahrradfahrer freizugeben?
Das macht doch die Stadtplanung schon seit längerer Zeit.
Aber natürlich müssen sie dann einen Ersatz schaffen, wo weder Fahrradfahrer
noch Fussgänger sind. Denn die Hauptbewegungen sind nach wie vor
Motorbewegungen, welche nicht einfach durch Handauflegen weggehen. Deshalb muss
das Netz umgebaut werden. Aber der Umbau macht riesigen Ärger, weil er an einer
anderen Stelle wieder die unangenehme Seite der Rechnung bringt, nämlich eine
Strasse. Deswegen ist es immer der grösste Erfolg, wenn sie einen Tunnel bauen.
Dann hat man das Problem oben weg. Aber der Tunnelbau ist erstens teuer und
zweitens kann man nicht das gesamte Netz unter den Boden legen, auch wenn ein
Tunnel sicher ein Lösungsansatz sein kann, wie man ja in der Schweiz sieht.
Aber eine Bewusstmachung der alten Naturnetze könnte bei der
Planung eines neuen Netzes schon hilfreich sein?
Das könnte hilfreich sein. Aber ich habe in der Planung
immer wieder festgestellt, dass man damit auf wenig Gegenliebe stösst. Wenn ich
gesagt habe: «Liebe Leute, dieser Verkehrsweg ist schon 3000 bis 4000 Jahre
alt. Lasst uns doch diesen Weg jetzt nicht einfach schlachten und eine
Grünfläche machen. Lasst ihm doch die Bewegungsstruktur für Fussgänger und
Fahrradfahrer offen.» Aber man hat nicht viel Resonanz, wenn man versucht, ein
gewisses Bewusstsein für die alte Struktur zu schaffen. Da steht das
Tagesgeschäft im Weg. Aber versuchen Sie es mal. Sie haben in der Schweiz eine
ganz gute Wegforschung, was Römerstrassen und Ähnliches betrifft. So haben Sie
beispielsweise eine schöne Römerstrasse, die von Freiburg nach Augusta Raurica
führt und trotzdem ist sie heute überall auf der B3. Und bei neuen
Strassenprojekten wie der B3 wird an keiner Stelle die Erinnerung an die alte
Struktur sichtbar gemacht. Hier im Dreisamtal, wo ich wohne, haben wir eine
alte Weggabelung, die ist sicher 2000 Jahre alt. Aber jetzt ist sie
abgeschnitten und den Feldern zugeschlagen worden, weil alte Wegstrukturen
nicht rechtwinklig sind, sondern immer Abzweige machen – wie Zweige von Bäumen.
Und die moderne Landwirtschaft mag solche Spitzen und Gabeln nicht. Denn der Traktor
kann besser fahren, wenn die Felder rechtwinklig sind.
Sie haben nachgewiesen, dass mehr Trampelpfade entstehen,
wenn – wie beispielsweise in Parkanlagen – viele rechte Winkel vorkommen, weil
die Leute abkürzen.
Ja, die Planer wie auch die Gärtner machen wohl der Grafik wegen viele rechtwinklige Anordnungen. Und dann wundern sich die Gärtner, wieso die Ecken in den Grünanlagen immer abgeschnitten werden. Aber wenn man das ein bisschen wüsste, könnte man die Wege gleich so anlegen, dass kein Mensch einen neuen Weg macht. Auf jedem Plan kann man das sofort einzeichnen. Sie können die Leute um 20 bis 30 Grad abweichen lassen, das ertragen sie. Aber wenn Sie die Leute zu sehr aus der Richtung, wo sie hinwollen, abdrängen, dann verlassen sie die schön vorgegebenen Wege und laufen die kürzere Strecke. Da haben sie auch recht.
Sie haben sich auch viel mit mittelalterlicher Stadtplanung
befasst, sozusagen ihr zweites Steckenpferd. Wie gehen diese zwei Themen, das
Laufen und die mittelalterliche Stadtplanung, für Sie zusammen?
Bei der Forschung über die mittelalterliche Stadtplanung ist
es immer sehr gut, wenn man sich alte Pläne besorgt. So ab 1850 wurden die
ersten ordentlichen Pläne gemacht. Und wenn Sie sich dann die Strassen ansehen,
bemerken Sie, dass sie vorwiegend noch auf den alten Wegstrukturen verlaufen.
In dieser Hinsicht sind Kenntnisse und das Einzeichnen des alten Wegenetzes
sehr hilfreich. In meinem Buch zeige ich auf, wie sich in Freiburg ein lockeres
Wegenetz fächerartig über die Altstadt ausgebreitet hat. Die Kernziele sind
sofort angefahren worden. Als die Stadt geplant wurde, lag darunter also eine
Art Fächer. Ein Fächer ist aber für eine Stadtplanung keine gute Grundlage, das
wissen die Karlsruher. Das konnte man im Barock machen, aber trotzdem ist das
eine extrem hinderliche Struktur, weil Fächerwege keine ökonomischen
Erschliessungen sind. Denn ein Tortenstück ist keine gute Erschliessung.
Deswegen haben sie in Freiburg beispielsweise eine grosse Diagonalstrasse
geschlachtet. Es gibt heute Oberlinden und Unterlinden und das ist genau die
Strecke, wo diese Diagonale entlangführte. Das heisst, dass in den Linden noch
die Erinnerung an die alte Strasse erhalten ist. Aber das interessiert die
Freiburger nicht, weil sie es sowieso nicht wahrhaben wollen, dass sie geplant
wurden.
Wieso?
Die mittelalterlichen Städte sind alle beleidigt, wenn man
ihnen sagt, ihre Stadt sei geplant worden. Das finden sie ganz fürchterlich,
denn sie wollen gewachsen sein. Aber da kann ich ihnen auch nicht helfen.
Nehmen Sie beispielsweise die Zähringer, die Bern geplant haben. Wenn Sie den
Grundriss von Breisach betrachten, dann ist er mit jenem von Bern fast
identisch. Die Stadt ist auch vom selben Mann, dem letzten Zähringer Berthold
dem Fünften, ausgebaut worden. Auf dem Berg oben so eine gebogene Wurst. Was
ich gefunden habe bei der mittelalterlichen Stadtplanung war, dass sie so
besessen waren von den Kurven. Die wollten unbedingt die Kurven und haben sie
sogar sehr aufwändig mit dem Seil eingemessen. Diese Orgien von Kurven findet
man nur hier in Mitteleuropa und vornehmlich in Deutschland. Denn was ist schon
die Gotik anderes als eine Orgie von unglaublich vielen Kreisen, die
miteinander ein System bilden. Mein Beitrag war, das auf den Tisch zu legen.
Aber bisher haben sich die Städte geweigert, den Ball aufzunehmen. Ich werde
aber bald nicht mehr da sein und dann sollen sie mal kucken.
Sie sagen also, dass die Städte viel mehr geplant wurden,
als man lange Zeit angenommen hat?
Ja, vor allem beim Grundriss der Stadt. Denn beim Grundriss
haben sie festgelegt, wo erschlossen und wo gebaut wird. Zentrales Ziel war die
Ausweisung von Hofstätten. Wenn der Stadtplaner weggegangen ist, hat er eine
ganze Menge von klar ausgesteckten Grundstücken gehabt, die vergeben werden
konnten an Leute, die sich verpflichten, da ein Haus zu bauen. Der ganze Trick
dieser mittelalterlichen Stadtgründung war, dass man eine Fläche ausgewiesen
hat, dass man 200 bis 500 rechteckige Grundstücke ausgesteckt hat. Und dann hat
man gesagt: «Liebe Leute, ihr kriegt so ein Grundstück, das ihr sogar vererben
könnt, aber ihr werdet verpflichtet, dort innerhalb eines Jahres ein Haus zu
bauen. Wenn ihr eine Ware herstellt, werdet ihr verpflichtet, sie auf dem Markt
anzubieten. Und vor allem werdet ihr verpflichtet, euch an der Verteidigung der
Stadt zu beteiligen.» Damit hatten die Herrscher eine wunderbare Burg und
gleichzeitig eine Burgmannschaft, ohne dass sie Geld dafür ausgeben mussten,
sondern im Gegenteil noch Steuern dafür abgesahnt haben. Das war eine geniale
Erfindung, die zum ersten Mal 1066 auftaucht und dann innerhalb von ungefähr
200 Jahren über 2000 Mal in Europa praktiziert wurde, bis alles voll gesetzt
war.
Im Gegensatz zum Mittelalter bewegen wir uns heute
vornehmlich auf vorgegebenen, schon bebauten Wegen. Was macht das mit dem
Menschen, wenn das ‹Freilaufen›, wie Sie es nennen, fast nicht mehr möglich
ist?
Sie können doch noch genug frei laufen. Wenn ich hier aus
Freiburg rausgehe, dann bin ich in zehn Minuten im Wald. Da kann ich laufen, wo
und wie ich will. Aber die Leute laufen ja gar nicht so arg viel frei. Sie joggen und fahren mit ihren Mountainbikes wie Wahnsinnige die Waldwege runter. Trotzdem glaube ich,
die Möglichkeit zu wandern und die Landschaft zu erleben, gibt es noch. In der
Pandemie entdecken die Leute wieder, dass sie in nächster Nähe wunderbare
Wanderungen machen können. Ich bin also nicht der Meinung, dass wir schon in
einer Form der Eingezwängtheit sind. Wir zwängen uns viel mehr ein, weil wir
immer diesen kleinen Apparat vor uns haben. Die eigene Beschränkung oder
Beschränktheit ist viel grösser. Da glaube ich allerdings, dass es zeitliche
Schwankungen gibt. Wenn ich sehe, wieviel auch wieder zurückgebaut wird. Sie
werden sich wundern, wie viele Strassen, die vierspurig waren, im Verlaufe der
nächsten 20 Jahre wieder auf zweispurig runtergehen. Und da werden riesige
Fahrradwege und Baumstreifen gemacht. Die Städte mit riesigen Strassen haben
dann einen Vorteil, weil sie viel Fläche haben, die sich zurückholen und
umwidmen lässt. Also in der Hinsicht glaube ich, dass den Menschen eine ganze Menge
einfällt.
Sie sprechen aber auch von einer Renaissance des Laufens,
weil wir uns doch ein Defizit erkaufen, wenn wir uns immer für den leichteren
Weg mit Maschinen entscheiden.
Also faul sind die Leute auch in Zukunft. Glauben Sie ja
nicht, dass die Menschen plötzlich die Faulheit und die Bequemlichkeit
verlieren. Evolutionsmässig wären sie auch bald am Ende, wenn sie nicht ständig
optimieren würden. Aber inzwischen kriegen sie Fahrräder schon für 10000 Euro.
Da wird optimiert, dass es aus Karbon ist und noch leichter und noch toller,
aber dafür fahren sie dann ein paar Kilometer weiter. Aber ich glaube, dass
auch das Schwankungen sind. Das geht mal vor und mal zurück.
Womit beschäftigen Sie sich zurzeit?
Ich beschäftige mich seit bald 20 Jahren mit mittelalterlichen Bildern. Kennen Sie die manessische Handschrift? Die ist in Zürich erstellt worden und die früheste Miniatur. An der vermesse ich die ganze Zeit. Denn sie ist genau so gemacht wie die mittelalterlichen Städte. Aber das ist ein anderes Thema.
Zur Person
Quelle: Edition Esefeld & Traub
Klaus Humpert.
Klaus Humpert war einer der einflussreichsten
Städtebauexperten der vergangenen Jahrzehnte. Geboren 1929 in Frankfurt wuchs
er im Schwarzwald auf und studierte von 1949 bis 1954 Architektur in Karlsruhe.
Ab 1955 arbeitete er bei der Staatlichen Bauverwaltung in Freiburg, wechselte
aber 1965 ins Stadtbauamt Freiburg und war von 1970 bis 1982 Leiter des
Planungsamtes. Von 1982 bis 1994 war er Professor für Stadtplanung an der
Universität Stuttgart. Im Rahmen dieser Tätigkeit erforschte er nicht nur
zusammen mit Frei Otto den Sonderforschungsbereich «Natürliche Konstruktionen»,
sondern widmete sich ab 1990 intensiv der mittelalterlichen Stadtplanung.
Ausserdem war er über 30 Jahre lang Jurymitglied in über 500 Wettbewerben in
den Bereichen Architektur, Städtebau, Landschaftsarchitektur und Kunst. So war
er unter anderem Preisrichter für Stuttgart 21 oder die Erweiterung des
Frankfurter Flughafens. Im Laufe seiner Karriere erhielt er diverse
Auszeichnung, darunter auch den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland
2004.
Die Hauptthese seiner Forschung zur mittelalterlichen
Stadtentwicklung ist, dass die Städte nicht «natürlich» gewachsen sind, sondern
von Städtebauern nach einem festgelegten Schema geplant worden sind. Er
entdeckte in diversen Stadtgrundrissen diverse Gesetzmässigkeiten, die er als
Hinweis darauf verstand. Insbesondere interessierten ihn dabei die Kreise und
Kurven, die man vor allem in mitteleuropäischen Städten findet. Dieselbe
Methode wie bei den Städten kann laut Humpert auch in mittelalterlichen
Miniaturen wie der Manesse nachgewiesen werden, an denen er bis zuletzt
vermass. Allerdings stiess Humpert mit seinen Theorien zur mittelalterlichen
Stadtplanung bei anderen Altertumsexperten auf Kritik. So widersprächen andere
Forschungsergebnisse Humperts Rekonstruktionen.
«Sein genaues Beobachten, getrieben von einer kindlichen Neugierde, immer über den Tellerrand zu schauen, eröffnete ihm eine Bandbreite neuer Forschungsthemen, darunter sein Interesse an den Laufwegen des Menschen im freien Gelände», schrieb die «Bauwelt» kurz nach seinem Ableben. Denn Klaus Humpert starb am 10. Oktober im Alter von 91 Jahren. Damit verliert die Stadtplanung nicht nur einen Grossen seines Fachs, sondern vor allem einen offenen Geist, einen Entdecker und Vordenker, der zusammen mit seinen Studentinnen und Studenten gerne die Stadt auf dem Velo erkundete.
Buchtipp
«Lauf-Spuren» von Klaus Humpert, Anette Gangler und Jörg
Esefeld ist in der Edition Esefeld& Traub erschienen (ISBN:
978-3-9809887-1-1). Das Buch umfasst 122 Seiten. Der Preis liegt bei 50
Franken.
Die englische Version mit dem Titel «Trails, Tracks and Traces» liegt seit 2020 vor (ISBN 978-3-9818128-4-8).