Industriedenkmal: Die verwunschenen Kohle-Inseln von Nagasaki
Wie eng der Städtebau und die Siedlungsstruktur von wirtschaftlichen Bedingungen abhängen, lässt sich exemplarisch vor der Küste der japanischen Insel Kyushus begutachten. Dort lebten auf den beiden Inseln Hashima und Ikeshima mehrere tausend Menschen, um in den Kohleminen Geld zu verdienen. Seit Einstellung der Förderung ist Hashima zu einer Geisterinsel geworden, während auf Ikeshima die Sozialwohnungsblöcke wie in einem Dornröschenschlaf von Efeu überwuchert werden. Das Baublatt war vor Ort.
Quelle: Rudolf Stumberger
Geführte Besichtigungstour auf der verlassenene Insel Hashima.
Von Rudolf Stumberger
Sie liegt wie ein riesiger, grauer Flugzeugträger aus Stein
im südjapanischen Meer vor Nagasaki, und sie ist ein Symbol für den
wirtschaftlichen Aufstieg Japans nach dem Zweiten Weltkrieg: die Insel Hashima.
Seit 1893 lies Mitsubishi hier in einem Bergwerk Kohle abgebaut. In den
1950er-Jahren war das Eiland mit 5600 Bewohnern dichter besiedelt als Tokio.
Heute ist Hashima ein Industriedenkmal, und die Ruinen der
Gebäude sind von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt. Gut 40 Kilometer
nördlich wiederholte sich auf der Insel Ikeshima das Schicksal der Kohlemine.
Dort wurde noch bis zum Jahr 2001 Kohle gefördert, und noch immer scheinen die
nun leerstehenden Sozialwohnungsblocks der Arbeiterfamilien auf neue Mieter zu
warten.
Ruinen als Touristenattraktion
Die Fahrt mit dem Boot hinüber zur Insel Hashima dauert nur knapp eine halbe Stunde. Das ist auch gut so, denn unentwegt schallt aus einem Lautsprecher der japanische Wortschwall einer Fremdenführerin. Denn Hashima, die verlassene Insel der Bergbauarbeiter, ist mittlerweile zu einem beliebten Touristenziel geworden. Die geführten Touren dorthin sind streng reglementiert und straff organisiert.
Und schliesslich, nach schwankender Fahrt, taucht die Insel
auf und beim Näherkommen werden erste Details sichtbar: Grosse Häuserblocks und
Industriegebäude, deren dunkle Fensterhöhlen sie freilich als Ruinen ausweisen,
sind die stummen, grauen Zeugen einer industriellen Vergangenheit. Das Betreten
der Insel ist streng verboten, es sei denn im Zuge einer geführten
Besichtigungstour, die allerdings penibel überwacht wird.
Der erste Landgang lässt dann erkennen, dass ein grosser Teil der Insel künstlich hinzugebaut wurde. Ursprünglich bestand Hashima aus einem aus dem Wasser ragenden Felsen von einem Drittel der heutigen Grösse. Im Laufe der Jahrzehnte kamen Befestigungen und Aufschüttung hinzu, um der expandierenden Kohleförderung entsprechend Flächen zur Verfügung zu stellen. So erfolgt der erste Schritt auf Hashima auf teilweise geborstenen Beton der Anlegestelle.
Quelle: Rudolf Stumberger
Die Arbeit unter Tage war hart: In rund 1000 Meter Tiefe arbeiteten die Männer bei Temperaturen von rund 30 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von über 95 Prozent.
Von hier aus ist auf der rechten Seite der ehemalige Lagerplatz der geförderten Kohle zu sehen und dahinter in grösserer Entfernung die 1958 errichtete siebenstöckige Schule für die Kinder der Bergarbeiter. Sie verfügte als einziges Gebäude auf der Insel über einen Aufzug. Linker Hand findet man den Eingang zu den Kohleschächten. Hier arbeiteten Tausende von Bergarbeitern in einer Tiefe von bis zu einem Kilometer unter dem Meeresspiegel. Dort wurden vier grosse Kohleflöze in verschiedenen Tiefenlagen über mehr als zehn Tunnel abgebaut. Die Arbeitsbedingungen waren hart – die Temperatur betrug 30 Grad Celsius und die Luftfeuchtigkeit lag bei 95 Prozent.
Die Gefahr von Gasexplosionen war alltäglich und so grüssten sich die Bergleute mit «Goanzen ni», was auf Deutsch schlicht «Sicherheit» bedeutet. Von Beginn der Förderung, im Jahr 1891, bis zum Jahr der Stilllegung 1974, wurden auf der Insel insgesamt 15,7 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Die Spitzenzeit waren dabei die Kriegsjahre. Schon nach der Niederlage Japans 1945 brach die Förderung massiv ein, um sich danach wieder auf bis zu rund 350 000 Tonnen pro Jahr in den 1970er-Jahren aufzuschwingen.
Leben auf der Kohleinsel
Die meisten Menschen lebten auf Hashima aber in den 1950er- und 1960er-Jahren. Ihre mehrstöckigen Wohnhäuser sind vom Aussichtspunkt Nummer drei der Besichtigungstour aus zu sehen. In den Mietskasernen wohnten bis zu 5300 Menschen. Die kleine Stadt hatte alles, was man zum Leben braucht: Läden, Friseurgeschäfte, ein Kino, ein Krankenhaus, einen Markt. Weil der Platz auf Hashima sehr begrenzt war, gab es allerdings keine Bäume. Aber man begann schon damals, die Hausdächer zu bepflanzen. 1958 wurde auch ein Schwimmbad errichtet und mit Meerwasser gefüllt. Das Becken ist heute noch zu sehen.
Auf der Insel war das Trinkwasser rationiert. Zwar gab es ab 1957 eine Pipeline zum Festland, aber die Wohnungen verfügten über keine eigenen Bäder. Das Leben auf der Insel war geprägt durch die unmittelbare Nachbarschaft von Arbeit und Leben, von Bergbau und Wohnen. Der Grund, warum sich die Arbeiter gemeinsam mit ihren Familien dieser räumlichen Enge und den Beschränkungen aussetzen, war der hohe Lohn, der im Bergwerk gezahlt wurde. So war auf Hashima in den 1950er- und 1960er-Jahren die Ausstattung der Familien mit Fernsehern und elektrischen Haushaltsgeräten die höchste im ganzen Land.
Seit 55 Jahren unbewohnt
Heute ist die Insel zu einer Geisterstadt geworden, deren Ruhe nur durch die regelmässig anlandenden Touristen gestört wird. Zwischendurch sieht man vereinzelte Angler an den Kais stehen, die ihre Angelrouten ins Meer werfen. Es sind Fischer der Umgebung. Am 15. Januar 1974 wurde die Mine auf Hashima geschlossen und die Arbeiter zogen fort. Bereits am 20. April desselben Jahres war die Insel vollkommen unbewohnt. Seitdem ist der Zustand der Insel unverändert, ein Denkmal der Industriekultur des 20. Jahrhunderts, das zusehends verfällt.
Doch Hashima war nicht die einzige Bergbauinsel. Ist der «Flugzeugträger» mittlerweile als Touristenattraktion von Nagasaki durchaus bekannt, liegt die Insel Ikeshima noch in einem Dornröschenschlaf. Das kleine Eiland liegt nördlich von Nagasaki und gehört noch zur Präfektur. Hier ist die Bergbau-Geschichte näher an der Gegenwart als bei Hashima. Auf Ikeshima begann man 1958 mit der Kohleförderung. 1985 erreichte sie mit 1,5 Millionen Tonnen ihren Höhepunkt. Damals wurden auf der Insel rund 2000 Haushalte mit insgesamt 7776 Personen gezählt. In den 1990er-Jahren wurde allerdings die Kohle aus dem Ausland immer billiger. Schlussendlich wurde das Bergwerk im November 2001 geschlossen, die 2500 Arbeiter und ihre Familien mussten gehen.
Zurück blieben das Bergwerk und die Sozialwohnungsblocks. Erinnert Hashima mit seinen verfallenen Bauten teilweise an kriegszerstörte Städte, so kommt einem Ikeshima vor wie eine in den Dornröschenschlaf gefallene Insel. Deren Hafen liegt in einer kleinen Bucht. Von der Anlegestelle des Fährschiffs aus ist auf der anderen Seite das Dock mit dem Verladekran zu sehen. Dort wurde die Kohle auf die Schiffe geladen. Dahinter ragt ein Berg in die Höhe.
Auf ihm und um ihn herum liegen die Einrichtungen des Bergwerks mit in die Tunnel führenden Gleisen. Auf ihnen stehen noch Loren und kleine Loks. Vom Hafen aus führt eine Strasse rund um die Insel und hinauf auf die Anhöhe. Es gibt genau eine Ampel. Sie wechselt noch immer von Grün zu Rot, auch wenn nur noch selten ein Auto vorbeikommt. 134 Menschen leben heute noch hier. Ans Festland sind sie durch mehrere Fähren pro Tag angebunden. Das Bergwerk fördert zwar keine Kohle mehr, erfüllt aber noch eine Funktion als Lehrbergwerk. Rund 60 Bergarbeiter aus Vietnam und Indonesien erlernen hier ihren Beruf.
Das Beeindruckendste von Ikeshima sind aber die von den Pflanzen überwucherten Wohnblocks der Arbeiter. Relativ moderne Gebäude mit fünf und mehr Stockwerken sind völlig von Efeu umrankt. Es ist, als wären Neubausiedlungen wie Berlin Marzahn oder Neuperlach im Südosten Münchens von einem Zauber getroffen. Verwunschen wäre wohl das richtige Wort für diesen seltsamen Anblick.
Manchmal lässt sich eine Tür zum Treppenhaus öffnen. Dort sind die Spuren der ehemaligen Bewohner noch zu sehen: Schirme, die an einem Fensterbrett hängen, ein Bündel alter Zeitungen, ein Tretauto aus Plastik für die Kinder. An manchen Türen und Postkästen sind noch die Namen der ehemaligen Bewohner zu lesen. Doch die Wohnungen selbst sind verschlossen. Die Verwaltung kümmert sich um den Erhalt der Häuser, durch die verlassenen Strassen fährt das Feuerwehrauto und sieht nach dem Rechten. Irgendwo müssen auch die Hunderte von Wohnungsschlüsseln aufbewahrt werden, so als kämen demnächst neue Mieter. Dann würde man die Türen wieder aufschliessen.
Ikeshimas Zukunft
Nach Angaben der Präfektur Nagasaki, zu der Ikeshima gehört, lebten Ende Oktober 2018 auf der Insel 134 Personen. Zum Vergleich: Ende März 1970, als die Kohleförderung auf dem Höhepunkt war, wurden auf der Insel 2019 Haushalte mit insgesamt 7776 Personen gezählt.
Seit dem 29. November 2001, als die Mine geschlossen wurde, stehen die meisten der Häuser leer. Darunter sind 53 Wohnblocks der Minen-Company, drei Wohnblocks der Kommune und 70 von insgesamt 90 Privathäusern. Man kann Wohnungen von der Kommune mieten, derzeit steht aber nur eine zur Verfügung. Wie es derzeit bei den Privathäusern und Firmenwohnungen aussieht, ist der Präfektur unbekannt. Auf der Insel gibt es Wildschweine. Planungen für die zukünftige Nutzung, abgesehen von der Minenbesichtigung, gibt es nicht. (rs)