Gehäutete Räume aus Latex im Kunstmuseum Bern
Die Winterthurerin Heidi Bucher hat eine ganz eigene Methode entwickelt. Sie «häutete» Räume mit Hilfe von Latex. So entstanden verblüffende, grossflächige Werke, die Oberflächenstrukturen haargenau abbilden.
Die Methode hat Heidi Bucher der Archäologie entlehnt: Bahnen feiner Gaze werden mit Fischkleister auf Oberflächen geklebt. Anschliessend wird die Fläche mit flüssigem Latex bestrichen. Die getrockneten Schichten zieht sie anschliessend wieder vom Untergrund ab. Diese künstliche Haut, die alle Strukturen des Untergrundes haarfein aufgenommen hat, lässt sich nur mit grosser Anstrengung von der Oberfläche lösen.
In der aktuellen
Ausstellung im Kunstmuseum Bern laufen neben ihren Kunstwerken an
mehreren Orten Filme, die nachvollziehen lassen, wie zeit- und
kraftintensiv diese Arbeitsweise war. Wenn Bucher die Oberflächen
kompletter Zimmer «häutet» sieht man sie das Material mit blossen
Händen auf den Oberflächen verteilen und später am Latexfilm ziehen, um
ihn langsam wieder vom Untergrund abzulösen.
«Auf diese Weise entstand ein sehr präziser Abdruck der Oberfläche. Heidi Bucher hat diese Häute stundenlang unter Einsatz des ganzen Körpers von der Wand gerissen», erzählt Kuratorin Kathleen Bühler. «Ssie wollte mit diesem Vorgang den Raum von allem reinigen, was darin geschehen ist, ihn weich und beweglich machen. So wollte sie zeigen, dass Wandelbarkeit immer möglich ist, auch für Gebäude.»
1978 ist Heidi Bucher mit Latex auf das «Herrenzimmer» ihres grossbürgerlichen Elternhauses in Winterthur losgegangen, ihre Weise mit der Vergangenheit umzugehen. Das Zimmer war zu Lebzeiten ihrer Eltern dem männlichen Teil der Familie und deren Besuchern vorbehalten und diente gleichzeitig der Präsentation der Jagdtrophäen und Waffen ihres Vaters.
«Buchers Mutter wird als sehr liebevoll und
zugewandt beschrieben. Ihr Vater, ein Patron alter Schule, war fest in
der Männlichkeitsrolle seiner Zeit verhaftet. Immerhin durfte seine
Tochter einen Beruf erlernen, was damals noch eine Seltenheit und
überhaupt nur für weiblich zugeschriebene Berufe denkbar war, wie in
Buchers Fall dem Schneiderhandwerk», so Bühler weiter.
Herrschaftsansprüche auflösen
Einige Werke Buchers sind bis Anfang August im Kunstmuseum Bern ausgestellt. Im Juli eröffnet parallel eine zweite Ausstellung im Muzeum Susch. Beiden ging vor wenigen Monaten eine grosse Retrospektive im Haus der Kunst in München voraus. Dort wurde das «Herrenzimmer» zum ersten Mal seit Jahrzehnten in einer Ausstellung gezeigt. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte damals Bucher arbeite «mit der Akribie eines Hannibal Lecter», wenn sie den Räumen an ihr Oberflächen rückt. Sie ziele auf die Herrschaftsansprüche, die sich in Architektur abbildeten.
Quelle: Markus Tretter
Die abgezogene «Haut» des Herrenzimmers hängt bis Anfang August im Kunstmuseum Bern.
In dieser Neuorientierungsphase fand sie die Technik, die heute als ihr Hauptwerk betrachtet wird. Ihre Interventionen, bei denen sie der Architektur Stück für Stück buchstäblich ihre Oberflächlichkeit abringt, zelebrieren Ablösung und Erneuerung. Ihre Themen sind stets die gleichen. Sie will das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, das ihre Zeit noch so erdrückend prägte, auflösen, die sozialen Zwänge aufbrechen, die unschönen Teile der eigenen Vergangenheit verarbeiten. Auch dem längst verlassenen Haus ihrer Grosseltern, der Obermühle in Winterthur, rückt sie ab 1980 zwei Jahre lang mit dieser Methode auf die Substanz.
In Bern sieht man grossflächige Werke, alle unter dem Titel «Ahnenhaus». Zahlreiche abgenutzte Böden, die sie gehäutet hat und die nun mit allen Schrunden und Kratzern an den grosszügigen Wänden des Kunstmuseums hängen. Auch das «Ahnenhaus» war durch und durch von starren Strukturen und den selbst und von der Gesellschaft auferlegten bürgerlichen Zwängen durchdrungen.
Tabakbraun nachgedunkelt und fragil
Die ehemals so hellen, weichen, zarten Latexhäute, die Bucher vor Jahrzehnten geschaffen hat, sind heute dunkel und höchst fragil. Die Alterungsprozesse des Latex machen den Museen den Erhalt der Werke schwer. «Ich habe fast das Gefühl, dass Bucher, deren Werk so lange nur in Off Spaces und kleinen Galerien gezeigt wurde, einfach weil sie eine Frau war, es den Museen heute ein wenig heimzahlt, indem diese heute enorme Mühen in deren Erhalt investieren müssen», räumt die Kuratorin lächelnd ein.
Dem «Herrenzimmer» jedenfalls bringt dieser Alterungsprozess genau die richtige, dunkelbraune Patina – man kann sich der Vorstellung des dicken Zigarrenrauches kaum erwehren, der diese Wände umhüllte, wenn sich die Männer nach dem gemeinsamen Essen hierher zurückzogen. Während die weiblichen Familienmitglieder nebenan diensteifrig den Tisch abräumten und sich in die Küche zurückzogen, um für das nächste gemeinsame Mahl zu sorgen.
Heidi Bucher, Metamorphosen I bis 7. August 2022 im Kunstmuseum Bern
Weitere Informationen zur Ausstellung und zu Öffnungszeiten auf www.kunstmuseumbern.ch
Biographie
Heidi
Bucher (1926 – 1993), geboren als Adelheid Hildegard Müller in
Winterthur, hat ursprünglich Damenschneiderin gelernt. Sie schloss ein
Mode- und Textilstudium an der Kunstgewerbeschule in Zürich an und
gestaltete anfangs vor allem Textil- und Seidencollagen.
Als ihr Mann
Carl Bucher 1970 ein Kunststipendium erhielt, zog sie mit ihm und den
beiden Söhnen nach Kanada und später in die USA. In Kalifornien kam sie
in Berührung mit der damals aufkommenden feministischen Kunst und schuf
seitdem zunehmend grössere, skulpturale Werke.
1973 kehrte sie in die
Schweiz zurück, liess sich scheiden und schuf bis kurz vor ihrem Tod die
Werke, für die sie heute vor allem bekannt ist: Sie kleidete
menschliche Körper, Böden, Türen, Fenster oder ganze Räume mit Latex
ein, den sie später wieder als eine Art Haut abzog und ausstellte. (ava)