Erdbeben in der Schweiz: Auswirkungen erstmals umfassend ermittelt
Bisher wusste man wenig darüber, wie sich ein Erdbeben in der Schweiz auf Bevölkerung und Gebäude auswirken könnte. Antworten auf diese Fragen liefert seit neustem das erste öffentlich zugängliche Erdbebenmodell, das der Erdbebendienst an der ETH Zürich (SED) gemeinsam mit dem Bundesamt für Umwelt (Bafu), dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) und der ETH Lausanne sowie Partnern aus der Industrie im Auftrag des Bundesrats erstellt hat.
Quelle: Karl Jauslin
So stellte sich Basler Historienmaler Karl Jauslin (1842-1904) das Erdbeben von 1356 in Basel vor. - Das Erdbeben hatte Basel und das Gebiet rund 50 Kilometer im Umkreis der Stadt heimgesucht: Unter anderem stürzte das Dach des Münsters ins Kirchenschiff, Häuser brachen zusammen und gerieten in Brand, die Flammen sollen Überlieferungen zufolge acht Tage gewütet haben.
Im Laufe ihres Lebens erlebt jede Person in der Schweiz mindestens ein Erdbeben, das ernste Schäden verursacht. Damit rangieren Erdbeben neben Pandemien und Strommangellagen unter den grössten Risiken der Schweiz. Sie treten zwar im Vergleich zu anderen Naturgefahren seltener auf, können aber grosse Schäden anrichten.
Das dieser Tage veröffentlichte Erdbebenrisikomodell der Schweiz ermöglicht es laut SED nun zum ersten Mal, zu erwartende Schäden fundiert zu beziffern: Es liefert detaillierte Informationen zur Erdbebengefährdung, zum Einfluss des jeweiligen lokalen Untergrunds, zur Verletzlichkeit von Gebäuden sowie zu den betroffenen Personen und Werten kombiniert. - Während es bei der Erdbebengefährdung um Stärke und Häufigkeit von Beben an bestimmten Orten geht, geht es beim Erdbebenrisiko um die Auswirkungen auf Personen und Gebäude, oder vielmehr die Schäden.
Wiederholt sich zum Beispiel das Basler Beben von 1356 mit einer Magnitude von 6.6 müsste in der Schweiz mit etwa 3’000 Toten und Gebäudeschäden im Umfang von ungefähr 45 Milliarden Schweizer Franken gerechnet werden. Im Schnitt ereignet sich ein solches Erdbeben alle 50 bis 150 Jahre in der Schweiz oder im grenznahen Ausland. Wie der SED schreibt, sollen diese insgesamt 59 Szenarien dazu beitragen, Behörden und Bevölkerung für die Auswirkungen von schadenbringenden Erdbeben in der Schweiz zu sensibilisieren.
Besonders starkes Erdbebenrisiko in Basel
Das grösste Erdbebenrisiko besteht laut dem Modell in Basel.
Ebenfalls hoch ist es in absteigender Reihenfolge in Genf, Zürich, Luzern und
Bern. Auch wenn sich diese Städte im Grad ihrer Gefährdung unterscheiden, gibt
es dort wegen ihrer Grösse viele, teils besonders verletzliche Gebäude, die laut
SED oft auf einem weichen Untergrund stehen, der die Erdbebenwellen wiederum verstärkt.
In den Kantonen Bern, Wallis, Zürich, Waadt und Basel-Stadt muss mit den
meisten Schäden gerechnet werden: Auf diese entfallen rund die Hälfte der
geschätzten finanziellen Verluste, wie der SED schreibt. Gemäss den
Modellberechnungen kann kann angenommen werden, dass Erdbeben über einen
Zeitraum von 100 Jahren allein an Gebäuden und dem, was sich ihnen befindet,
einen wirtschaftlichen Schaden von 11 bis 44 Milliarden Franken verursachen. Zudem
würden etwa 150 bis 1’600 Personen ihr Leben verlieren und etwa 40’000 bis
175’000 kurz- bis langfristig obdachlos werden.
Noch nicht im Modell berücksichtigt sind weitere
hinzukommende Schäden an Infrastrukturen und Verluste im Zuge von Erdbeben. Zum
Beispiel Hangrutschungen, Feuer oder Betriebsunterbrüche. Das Erdbebenrisiko
verteilt sich dabei gemäss SED nicht gleichmässig über die Zeit: Sondern es sei
durch seltene, katastrophale Erdbeben dominiert, die meistens ohne Vorwarnung
aufträten. (mai/mgt)
Welche Produkte und Leistungen bietet das Erdbebenmodell?
Neben Risikoeinschätzungen für gewisse Zeiträume und Orte kann der Erdbebendienst neu anhand des Erdbebenrisikomodells Szenarien erstellen. Damit lassen sich unter anderem die heute zu erwartenden Auswirkungen historischer Schadensbeben in der Schweiz veranschaulichen, zum Beispiel ein Bebeb, das vergleichbar mit jenem ist, dass 1358 Basel heimgesucht hatte.
Weil sich solch schwere Erdbeben aber grundsätzlich überall ereignen können, stellt der SED für jeden Kantonshauptort und eine weitere Ortschaft ein Szenario für ein schadenbringendes Beben mit einer Magnitude 6 bereit. – Im Schnitt ereignet sich ein solches Beben alle 50 bis 150 Jahre irgendwo in der Schweiz oder im grenznahen Ausland. Diese insgesamt 59 Szenarien sollen dazu beitragen, Behörden und Bevölkerung für die Auswirkungen von schadenbringenden Erdbeben in der Schweiz zu sensibilisieren.
Schadensabschätzung bei einem Beben mit einer Magnitude von 3
Basierend auf dem Erdbebenrisikomodell wird der Erdbebendienst nach jedem Beben mit einer Magnitude von 3 oder grösser eine schnelle Schadensabschätzung veröffentlichen. Die schnelle Schadensabschätzung informiert die Bevölkerung und Einsatzkräfte bei weiträumig spürbaren oder schadenbringenden Beben über die zu erwartenden Folgen.
Vereinzelte Schäden sind nahe dem Epizentrum etwa ab einer Magnitude von 4 möglich. Weiter lassen sich die Risiken für Gebäudeportfolios bestimmen oder detaillierte Szenarien für Städte und Agglomerationen erstellen. Als eines der ersten Länder weltweit verfügt die Schweiz damit über eine frei zugängliche Grundlage, um fundierte Entscheide im Bereich Erdbebenvorsorge und Ereignisbewältigung zu treffen.
Zwei Millionen Gebäude und ihre Verletzbarkeit
Bei der Entwicklung des Erdbebenrisikomodells der Schweiz wurde ein Schwerpunkt auf die Aufbereitung der Datengrundlagen gelegt. Für das Modell wurden über drei Millionen einzelne Erdbeben wurden simuliert, die sich in der Schweiz und dem grenznahen Ausland ereignen könnten.
Die mehr als zwei Millionen Wohn-, Geschäfts- und
Industriegebäude in der Schweiz wurden nach bestimmten Kriterien in
Verletzbarkeitskategorien eingeteilt, um die möglichen Schäden infolge von
Erdbeben modellieren zu können. Darüber hinaus liefern verbesserte
Datengrundlagen zu den Verstärkungseffekten des Untergrunds ein deutlich
besseres Bild der lokalen Auswirkungen. Trotz verbesserter Daten sind
Abweichungen von den tatsächlichen Folgen aufgrund der Modellunsicherheiten zu
erwarten. Um diese Unsicherheiten zu verkleinern und damit die Modellaussagen
zu verbessern, wird das Erdbebenrisikomodell in den nächsten Jahren
weiterentwickelt. (mgt/mai)
Massnahmenprogramm des Bundes zur Erdbebenvorsorge
Das Erdbebenrisikomodell ist Teil des Massnahmenprogramms des Bundes zur Erdbebenvorsorge, welches das Bafu koordiniert. Es hat zum Ziel, ein umfassendes Erdbebenrisikomanagement auf Bundesebene sicherzustellen. Somit tragen die Erkenntnisse aus dem Erdbebenrisikomodell zur nationalen Risikoanalyse und zu den Vorsorgeplanungen auf Stufe Bund und Kantone bei. Diese schaffen eine gemeinsame Grundlage, wie Behörden, Bevölkerung und Wirtschaft die Auswirkungen eines Schadenbebens bewältigen und die zerstörten oder beschädigten Bauten und Infrastrukturen wieder instand setzen können.
Zudem dient das nationale Erdbebenrisikomodell der sich im Aufbau befindenden
Schadenorganisation Erdbeben (SOE) als wichtiges Element für die Planung und
Durchführung ihrer Arbeit. Die SOE wird nach einem Erdbeben die zu erwartenden
Kosten aufgrund von Gebäudeschäden abschätzen, damit rasch mit dem Wiederaufbau
gestartet werden kann. (mgt)