21:01 VERSCHIEDENES

Erdbeben bei Santorini: "Die Ägäis ist der Georisiken-Hotspot in Europa"

Teaserbild-Quelle: Giorgostr, eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Andauernde Erdbeben besorgen die Menschen auf Santorini. Viele sind bereits geflohen, die Angst  ist gross. Weshalb es vernünftig ist, die Insel zu verlassen und was derzeit geschieht erklärt Klaus Reicherter, Leiter des Instituts für Neotektonik und Georisiken an der Rheinisch-Westfälische Technischen Hochschule Aachen (RWTH Aachen), im Interview. Die Region gilt als europäischer Erdbeben-Hotspot. Der Grund liegt in der Geodynamik der Kontinentalplatten und der Geologie.

Vulkanischer Inselbogen in der Ägäis

Quelle: Giorgostr, eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Der vulkanische Inselbogen im Ägäischen Meer: Teil dieses Bogens sind die Halbinsel Methana, die Inseln Milos, Santorini, Nisyros und Kos.

Was passiert gerade bei Santorini?
Klaus Reicherter: Es gibt zwischen den Inseln Santorini und Amorgos seit einigen Tagen einen Erdbebenschwarm, also viele Erdbeben unterschiedlicher Stärke. Momentan geht das bis zur Magnitude 5,3.

Warum gerade dort?

Dort gibt es grosse Verwerfungen, also Brüche in der Erdkruste. Santorini ist Teil des vulkanischen Inselbogens, der sich dort im Ägäischen Meer befindet, dazu gehören die Halbinsel Methana, die Inseln Milos, Santorini, Nisyros und Kos. Das ist ein Vulkanbogen mit aktiven Vulkanen. Folglich ist auch Santorini ein Vulkan, der über der abgetauchten afrikanischen Platte sitzt, die afrikanische Platte sinkt dort unter die eurasische Platte ab. Hinter der abtauchenden Platte ist die Erdkruste sehr häufig im Dehnungszustand. Also vorne direkt an der Plattengrenze – im Bereich südlich von Kreta – herrscht Kompression und weiter im Norden, wo die Vulkane momentan aktiv sind, wird gedehnt. So werden dort Bedingungen für den Aufstieg von Magma geschaffen. Etwas nördlich von Santorini liegt der Kolumbo Vulkan, ein zirka  400 Meter hoher untermeerischer Vulkan, der bis fast unter die Wasseroberfläche reicht. Seine Kammer enthält gerade ungefähr einen Kubikkilometer Magma in einer Magmenkammer in zwei bis vier Kilometern Tiefe. Der Kolumbo hatte in der Vergangenheit bereits massive Eruptionen, zum Beispiel 1649/1650. Damals ragte der Vulkan über die Wasseroberfläche, und der der Eruption folgende Tsunami verursachte große Zerstörungen in der Ägäis.

Es gab weitere Eruptionen, auch schon früher?
Ja. Santorini in seiner heutigen Form ist bei einer gewaltigen Eruption vor rund 3600 Jahren entstanden, eine Eruption, die die gesamte minoische Kultur ausgelöscht hat. Die Flutwellen des Tsunamis auf Kreta waren damals 50 Meter hoch, wir finden auf dieser Höhe Bimsstein von Santorini. Die Insel hat es damals förmlich zerrissen. Die griechischen Kolleginnen und Kollegen forschen dort natürlich sehr intensiv, der Vulkan ist unter dauerndem Monitoring, auch die RWTH ist dort unten aktiv mit einem Forschungsprojekt meiner Kollegin Professorin Nicole Richter und mir.

Was ist das für ein Projekt?
Das Projekt heisst "MULTI-MAREX", es geht um Multi-Gefahren in der Ägäis, also Vulkanausbrüche, Erdbeben und Tsunamis. Die RWTH übernimmt gemeinsam mit dem Karlsruher Institut für Technologie den Onshore-Teil, wir untersuchen die Vulkane und Tsunamiablagerungen an Land. Meine Gruppe beispielsweise bohrt an den Küsten Griechenlands und untersucht, ob und welche Tsunami-Ablagerungen und Spuren anderer Ereignisse es gibt. Und auf Methana zum Beispiel haben wir seismische Stationen errichtet, um die dortigen Vulkanaktivitäten zu untersuchen – zumeist sind das sehr tieffrequente Erdbeben. Wir haben vor, mit dem Projekt-Konsortium dort ein Living Lab, ein Reallabor, zu installieren. Da gehört es auch dazu, vor Ort mit den Menschen zu reden und zu arbeiten. Dabei geht es auch um Katastrophenschutz und Rettungsmassnahmen, zum Beispiel werden wir gemeinsam mit den lokalen Autoritäten und dem Team des Kollegen Professor Holger Schüttrumpf vom Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der RWTH (IWW) Evakuierungsrouten und Schulungen im Falle eines Tsunamis für die Region Kalamata entwickeln.

Aktuell wird in der Region Magnitude 5 bei den Erdstössen erreicht…
 …was ordentlich ist. Aber es gibt noch keine grossen Schäden, es rüttelt und rumpelt. Zum Vergleich: Das Beben von Roermond 1992 hatte eine Richtermagnitude von 5,4, da waren die Leute hier in der Aachener Region durchaus panisch.

Die Menschen fliehen.
Und das ist das Beste, was sie tun können. An der Westseite mit der Steilküste besteht die Gefahr von Felsstürzen, an der flachen Westseite mit den Stränden die Gefahr von Tsunamis. So können wir im Zusammenhang mit dem Vulkanausbruch von 1650 meterhohe Wellen an dieser Küste nachweisen. Im Juli 1956 gab es eine Erdbebenserie mit Magnitude 7,7 und 7,2 – da gab es über 50 Tote auf Amorgos im Norden von Santorini und Santorini selbst, weil ein circa zehn Meterhoher Tsunami die Inseln getroffen hat.

Die Gefahr ist real?
Sehr real. Momentan gehen wir eher von einem grossen Erdbeben als einem Vulkanausbruch aus. Dort gibt es einen tektonischen Graben, eine Dehnungsstruktur. Da wir nun eine ganze Reihe von Vorbeben erlebt haben, ist es sicherlich keine Überreaktion, Santorini zu verlassen.

Das letzte grosse Beben in der Region 1956 hatte eine Stärke von über 7…

 …was ungefähr 1000-mal stärker wäre als die momentanen Beben, was die Energiefreisetzung betrifft. Die Richter-Skala ist logarithmisch, das bedeutet, zwischen 5 und 6 wird 32-mal mehr Energie freigesetzt und zwischen 6 und 7 nochmal 32-mal mehr, also fast 1000-mal mehr zwischen 5 und 7. Zur Veranschaulichung und als Beispiel: Wenn ich eine rohe Spaghetti-Nudel zerbreche, entspricht das Magnitude 5. Die relative Energie, die ich benötige, um 32 Spaghetti zu zerbrechen, würde Magnitude 6 entsprechen und Magnitude 7 würde entsprechend rund 1000 Spaghetti bedeuten. Klar ist, dass die Energie durch die bisherigen 5er-Beben noch nicht abgebaut wurde.

Lässt sich der Punkt bestimmen, an dem die Energie vorerst abgebaut ist?
 Nein. Genau deswegen verlassen die Menschen die Insel auch, weil sie es eben nicht wissen, und wir Forschende ein Erdbeben nicht vorhersagen können.

Wie ist die Situation für die Menschen? Gibt es ein permanentes „Grundrumpeln“?
Nein, nicht kontinuierlich. Es ist nicht so, als sässe man in der U-Bahn und es rumpelt permanent. Die Stösse kommen in Abständen, und bei Magnitude 5 wackelt es schon ganz ordentlich, das spürt man deutlich. Viele Menschen übernachten draussen oder in Autos, weil sie Angst vor Trümmerteilen haben – die Situation ist schon sehr anstrengend und belastend für die Menschen.

Weiss man, warum das jetzt passiert?
Die Krustendeformation dort ist riesig. Die Türkei wird um zirka 25 Millimeter pro Jahr nach Westen, also in die Ägäis hinein, gequetscht, daher gab es dort vor zwei Jahren das starke Beben an der ostanatolischen Störung – dort drückt die arabische Platte in die eurasische Platte hinein. Die Türkei steckt wie ein Zwetschgenkern zwischen dieser ostanatolischen, die Richtung Syrien und östliches Mittelmeer geht, und der nordanatolischen Störung, die Richtung Istanbul geht. Dann haben wir die eingangs angesprochene subduzierende Platte, die sich unter Eurasien schiebt, die ein bisschen zurückrollt, weil sie sehr alt ist, und dadurch eine zusätzliche Saugkraft entwickelt, die den Prozess noch einmal verstärkt. Dort sind es fast 3,5 Zentimeter pro Jahr, zum Vergleich: Bei den Störungen im Aachener Raum messen wir 0,1 Millimeter pro Jahr. Das Deformationsverhalten in der Region ist schon gewaltig, die Ägäis ist der Georisiken-Hotspot in Europa. (Interview RWTH Aachen / mgt / mai)

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