Bauen mit Lehm: Traditioneller Baustoff erlebt eine Renaissance
Mit Lehm wurde bereits vor Jahrtausenden gebaut.
Architektonische Zeitzeugen aus dem ökologischen Material sind rund um den
Globus zu finden. Dennoch gerieten Lehm und die verwendeten Bautechniken in
Europa fast in Vergessenheit. Der Architekt Jean Dethier gibt in seinem
Kompendium einen umfassenden Überblick von der Antike bis heute.
Quelle: Trevor H. J. Marchand
In der Region Hadramaut im Osten von Jemen liegt Schibam. Wegen der einzigartigen Altstadt mit mehrstöckigen Wohnhäusern aus Lehmziegeln gehört die Stadt zum Unesco-Weltkulturerbe.
Lehm ist ein altvertrautes Baumaterial, das sozusagen zu
unseren Füssen liegt. Er ist einer der einfachsten, ökologischsten und in
grossen Mengen vorkommender Baustoff, der weltweit zur Verfügung steht. Seit
der Antike nutzten die Menschen die unter dem fruchtbaren Mutterboden liegende
Lehmschicht, um ihre Behausungen und Nutzgebäude zu errichten. Von der
kleinsten Hütte bis zu prachtvollen Palästen oder Sakralbauten wurden Gebäude
häufig aus Lehm erbaut.
Die Lehmbauweise ist durch eine enorme Vielfalt geprägt, der
teilweise eine ausserordentliche konzeptuelle Qualität zugrunde liegt. Viele
dieser aussergewöhnlichen Bauten stellen immer noch ein fast unbekanntes Kunst-
und Kulturerbe der Menschheit dar, befinden sie sich doch oft an Orten, wo der
Massentourismus noch nicht Einzug gehalten hat.
Licht ins Dunkel bringt nun der belgische Architekt und Autor Jean Dethier. In seinem über 500 Seiten umfassenden Buch liefert er einen detaillierten Überblick über die Lehmbaustrukturen von den Anfängen bis zur Gegenwart und beleuchtet aus technischer, kultureller und historischer Sicht die enorme Vielfalt dieser traditionellen Bauweise.
Jahrzehntelange Forschung
Die Publikation gründet auf
50 Jahren intensiver Recherche sowie 20 Jahren Planung. Beispiele aus etwa
hundert Ländern auf fünf Kontinenten sind erfasst. Unterstützt wurde er zudem
von Fachautoren und Experten wie Francis Kéré, Martin Rauch, Anna Heringer oder
Dominique Gauzin-Müller, die Texte zu zeitgenössischen Möglichkeiten und Perspektiven
des Lehmbaus beisteuerten.
Mehr als 600 Fotos, rund 100 Zeichnungen und Pläne
ermöglichen einen Einblick in das handwerkliche Können und künstlerische
Schaffen vergangener Kulturen, die technischen Entwicklungen sowie in das
gegenwärtige Bauschaffen.
Quelle: James Wang
Zwei Gebäude aus unterschiedlichen Epochen: In Dandaji, Niger, wurde 2016 die neue Moschee (Hintergrund) gebaut und die ehemalige Moschee zur öffentlichen Bibliothek umgebaut. Beides sind Lehmbauten.
Baustoff mit vielen Facetten
Lehm ist wieder im Trend. Was seit mehreren Jahrtausenden entstanden und überdauert hat, gibt den heutigen Baumeistern Inspiration. Natürliche und ökologische Ressourcen dort einzusetzen, wo sie vorkommen, schont nicht nur Natur und Umwelt, es schafft Individualität und Charakter und wirkt sich zudem auf das Raumklima und den damit verbundenen Wohnkomfort aus.
Im Buch gibt der Autor einen gesamtkunsthistorischen Abriss, geht neben den historischen Beispielen auch auf die modernen Entwicklungen im Lehmbau ab Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre ein. Seit 1980 ist eine verstärkte Rückbesinnung auf die fast vergessene Bauweise zu verspüren.
Einführend stellt Dethier die verschiedenen Arten von Lehmbaukonstruktionen vor, unter anderem aus Lehmziegeln oder gestampfter Erde, und beschreibt die unterschiedlichen Konstruktionsweisen von Wänden, Dächern oder Säulen. Seine Recherchen führten ihn rund um die Welt.
In weiten Teilen
Europas, Afrikas, Asiens, Amerikas und Australiens sind die Lehmbauten
vergangener Zeit nach wie vor sichtbar. Archäologische Forschungen an den
historisch bedeutendsten Stätten, ebenso Untersuchungen an den Überresten
einfacher Behausungen haben den Beweis erbracht, dass Lehm seit der Antike zum
Bauen genutzt wurde.
Eine grosse Anzahl dieser Bauten der Lehmarchitektur wurde
ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen. Zu diesen historischen Meisterwerken
gehören die Tempel und Paläste von Mesopotamien. Sie stellen durch die
Erfindung des Lehmziegels eine wichtige Etappe in der Entwicklung der
Lehmbaukunst dar. Bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. wurden sie dort für den
Hausbau verwendet, in den ersten Jahrtausenden mit der Hand geformt. Die
Technik wurde dann mittels Holzformen zur Serienfertigung ausgebaut.
Quelle: Gert Chesi
Die Dörfer der Dogon befinden sich in Westafrika im Osten von Mali. Die Lehmbauten wurden direkt unterhalb der Felswand der Falaise de Bandiagara erbaut.
Selbst Bauwerke, deren Erscheinungsbild nicht auf eine
Lehmkonstruktion vermuten lassen wie das berühmte Ishtar-Tor von Babylon, das
heute im Berliner Pergamonmuseum zu bestaunen ist, besitzen oft einen Kern aus
Lehmziegel. In diesem Falle wurde es anschliessend mit gebrannten Ziegeln
verkleidet.
Auch Teilstücke der Chinesischen Mauer, die Grosse Moschee
von Djenné in Mali oder komplette Stadtanlagen im arabischen Raum gehören in
die Liste der aus Lehm erbauten Architekturdenkmäler. Selbst die Alhambra in
Granada besitzt eine mächtige Festungsmauer aus Stampflehm. In Afrika und Asien
sind Siedlungsanlagen in Lehmbauweise auch heute noch typisch. Die Anlage
kompletter Medinas basiert auf dem vor Jahrtausenden in Mesopotamien
entwickelten Modell von Lehmsiedlungen.
Alternative und Experiment
Das Buch ist aber nicht nur ein Rückblick auf eine fast vergessene Baukultur. Der Autor führt ebenso Beispiele für die Verwendung von Lehm im 20. Jahrhundert an. In den beiden Weltkriegen wurde beispielsweise die stabilisierende Eigenschaft von Lehm genutzt, um Schützengräben zu verstärken. In Frankreich wurden gar die mit lehmiger Erde gefüllten Sandsäcke zum Schutz der Fassaden und Innenräume von Sakralbauten genutzt. In Deutschland wurden nach den beiden Kriegen aufgrund eine nationalen Strategie Zehntausende Wohngebäude in Lehmbauweise errichtet, dies aufgrund des Mangels an anderen Baustoffen.
Experimentelle Bauten entstanden auch in den USA, wo
privilegierte Schichten ihr Geld gerne in neue architektonische Projekte in
Lehmbauweise investierten, die sie in Zonen errichten liessen, wo der traditionelle
Adobe-Lehmbau historisch verankert war. Die neuen Häuser dienten bevorzugt als
Urlaubsdomizil.
Quelle: Redaktionsarchiv
Auch in der Schweiz gibt es zahlreiche moderne Gebäude in Lehmbauweise wie die Vogelwarte Sempach LU, die 2015 aus Stampflehm erbaut wurde.
Schnell und günstig bauen
Auch Le Corbusier beschäftigte sich in dem Buch «Les
Constructions ‹Murondins›» mit den Grundprinzipien des Bauens mit Stampflehm
und Adobe (spanischer Begriff für luftgetrocknete Lehmziegel). Nach dem Zweiten
Weltkrieg sah er darin eine Möglichkeit des schnellen und günstigen
Wiederaufbaus von kleinen Häusern und Schulen. Er konzipierte 1946 ein
komplettes Siedlungsprojekt in Stampflehm, das in der Nähe von Marseille
entstehen sollte. Rund 100 zweigeschossige Reihenhäuser sollte die Anlage
umfassen, die letztendlich nicht verwirklicht wurde. Das Projekt stand unter
dem Verdacht, die Landschaft zu verschandeln.
Die zunehmende Bedeutung des Lehms im zeitgenössischen
Bauschaffen bezeugen im Buch zahlreiche Beispiele der jüngsten Baugeschichte.
Für ein Bauprojekt auf der Insel Mayotte, Sozialwohnungen in Marrakesch, Bogota
und verschiedenen europäischen Städten oder für die Villen des österreichischen
Lehmbaupioniers Martin Rauch – überall kam der Baustoff Lehm zum Einsatz.
Museen, Schulbauten, Bibliotheken, Kirchen, Krankenhäuser und Universitäten
sind aus dem nachhaltigen Material erbaut.
Lehm ist ein universelles Material. Kombiniert mit der
entsprechenden Technik, ermöglicht er ein enormes gestalterisches Spektrum. Das
Buch liefert eine bisher nicht vorhandene Zusammenfassung über diese Vielfalt
an Bauformen, Oberflächengestaltungen und Nutzungsarten. In den vergangenen
Jahrzehnten hat sich die Praxis der Lehmbauweise auf vielfältige Weise
weiterentwickelt. Noch nie gab es in so kurzer Zeit so viele Neuerungen und
bedeutende Fortschritte. Die Chancen liegen vor allem in den ökologischen und
physikalischen Eigenschaften dieses Baustoffs.
Bauschaffende und Bauherren beweisen heute wieder mehr Courage, sich aus eingefahrenen Bahnen herauszubewegen. Neue Wohnformen, Lebens- und Denkweisen, das verstärkte Natur- und Gesundheitsbewusstsein, aber vor allem die Forderung nach nachhaltigen Bauweisen fördern die Verwendung nachhaltiger Rohstoffe. Innovative Lehmbau-Grossprojekte sind in Brüssel und Paris in der Ausführung.
Quelle: Keimzelle, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons
Das Ricola-Kräuterzentrum in Laufen BL besitzt eine Lehmfassade. Der Bau wurde von den Basler Architekten Herzog & de Meuron entworfen.
Mehr Mut zum Individualismus
Auch bei kleineren Vorhaben wächst die Anzahl der Architekten und Ingenieure, die Lehmbauten mit unterschiedlichen Funktionen realisieren – in Städten und im ländlichen Ambiente, in hochentwickelten Staaten Europas oder Amerikas wie auch Entwicklungs- und Schwellenländern, wo Lehm schon immer traditioneller Baustoff war und nun in Kombination mit modernen Techniken zeitgemässes Wohnen und Leben ermöglicht.
Weder gibt es eine internationale einflussreiche Lobby, die sich für den Baustoff Lehm engagiert, noch werden Studierende an Hochschulen und Universitäten ausführlich in die Verwendung und Bautechniken eingeführt. Jean Dethier ist dennoch überzeugt, dass die kommenden Generationen die Verfahren des ökologischen Bauens mit Engagement unterstützen und weiterentwickeln werden.
«Der Lehmbau wird so zu einem unverzichtbaren
Bestandteil der so dringend erwarteten ökologischen Transformation, um den
schlimmsten Gefahren des Klimawandels zu begegnen, die uns schon lange prophezeit
werden», schliesst er seine Ausführungen.
Quelle: Edward Birch
In der Region Pilbara in Westaustralien errichtete der Architekt Luigi Rosselli 2014 ein kompaktes Ensemble von zwölf kleinen Häusern.
Buchtipp: Lehmbaukultur
Von den Anfängen bis heute, Jean Dethier; Edition Detail; München; Oktober 2019; 512 Seiten mit rund 700 Fotos und Zeichnungen; Hardcover; Format 24 × 31 Zentimeter; ISBN 978–3–95553–490–5; 149 Franken