13:09 VERSCHIEDENES

Architekturführer Eisenhüttenstadt: Städtebau in der DDR

Geschrieben von: Claudia Bertoldi (cb)
Teaserbild-Quelle: Martin Maleschka

In den 1950er-Jahren herrschte in Deutschland Aufbruchstimmung. Auch im Osten des Landes, wo nach Vorbild des grossen sowjetischen Bruderstaats eine ganze Stadt auf dem Reissbrett geplant und samt eines riesigen Eisenhüttenwerks aus dem Boden gestampft wurde. Eisenhüttenstadt wurde ein eigener Architekturführer gewidmet.

Eine neue Stadt für neue Menschen: Vor genau 70 Jahren wurde mit dem Bau von Eisenhüttenstadt gestartet. Diesem Jubiläum widmet der Fachverlag DOM publishers einen eigenen Architekturführer. Der Architekt und Fotograf Martin Maleschka hat dafür je 35 herausragende Bauten und Kunstwerke dokumentiert – als Würdigung der einzigartigen Stadtanlage Eisenhüttenstadts sowie als ein Plädoyer für einen aufgeschlossenen Umgang mit dem bewahrenswerten baukulturellen und künstlerischen Erbe der DDR.

Bereits mit der Standortwahl im äussersten Norden der Niederlausitz direkt an der polnischen Grenze wurden die ersten Zeichen gesetzt: Abkehr vom Westen und die Neuausrichtung zu den sozialistischen Bruderländern im Osten. Auf dem III. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) wurde im Juli 1950 nach sowjetischem Vorbild der Beschluss zum Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) in der Nähe der Kleinstadt Fürstenberg, rund 25 Kilometer südlich von Frankfurt an der Oder, gefasst. Dem Werk sollte eine komplette neue sozialistische Wohnstadt angegliedert werden – errichtet nach den neuen «16 Grundsätzen des Städtebaus» und im architektonischen Stil des Sozialistischen Klassizismus.

Genau vor 70 Jahren startete die erste Stadtneugründung auf deutschem Territorium nach 1945. Es fehlte an Wohnraum, die Wirtschaft lag am Boden. Sie sollte als Vorzeigestadt der neugegründeten DDR dienen. Schon 1951 wurde mit dem Wohnungsbau gestartet, ohne dass eine Gesamtplanung vorlag. Dabei sollte die Stadtplanung neben ihrer repräsentativen Funktion auch ein klar erkennbares Ordnungssystem mit axialen Strukturen aufweisen. Zudem wurde eine Architektur gefordert, als na-tional in der Form und demokratisch im Inhalt zu erkennen war.

Fünf individuelle Wohnviertel

Der Architekt und Städteplaner Kurt W. Leucht setzte sich letztendlich beim Wettbewerb durch. Ganz bewusst auf die unvermeidlichen Umweltbelastungen der neu entstehenden Eisenwerke eingehend, plante er den Standort für das neue Siedlungsgebiet im Süden des EKO. Sein Plan war es, eine Stadt zu entwickeln, deren fünf Wohnkomplexe neben Wohnhäusern alle Strukturen des öffentlichen Lebens wie Schulen, Kindergärten sowie Kultur- und Versorgungseinrichtungen einschlossen, in der jedoch jeder Stadtteil seinen eigenen Charakter erhalten sollte.

Bei Vorlage des Ausführungsplans war der erste Wohnkomplex bereits fast vollendet. Deshalb musste ein baulich harmonischer Übergang zum zweiten Wohnkomplex geschaffen werden, der vorbildlich nach den geforderten Kriterien angelegt wurde, also mit einer klassizistisch inspirierten Formensprache, Axialität, Symmetrie und einer baulichen Betonung der Strassenkreuzungen.

Öffentliche Gebäude erhielten eine bevorzugte Platzierung sowie eine individuelle Gestaltung. Bis 1961 waren die Wohnkomplexe I bis IV inklusive Lindenallee (ehemals Leninallee) und der zentrale Platz vollendet. Die «Wohnstadt am Werk» hatte 1953 den Namen Stalinstadt erhalten. Im Zuge der Entstalinisierung wurde dieser Name wieder entfernt. Beim Zusammenschluss von Stalinstadt mit dem angrenzenden Städtchen Fürstenberg wurde im November 1961 Eisenhüttenstadt gegründet.

Die Stadt war ursprünglich für 25'000 bis 30'000 Bewohner geplant. Aber bereits Ende der 50er-Jahre wurde sie mit einem weiteren Wohnkomplex ergänzt. Ein sechster und siebter Wohnkomplex folgten in den kommenden Jahren. Eine erneut angedachte Erweiterung in den 80er-Jahren wurde nicht mehr realisiert.

70 Jahre Bau- und Kunstgeschichte

Heute ermöglicht Eisenhüttenstadt eine architektonische Zeitreise. Hier ist nicht nur die Geschichte von Architektur und Städtebau der DDR nachvollziehbar, sondern auch der Kunst im öffentlichen Raum. Von Beginn an wurde in der Stadt eine Synthese von Architektur und Kunst eingegangen, die in Deutschland ihresgleichen sucht. Charakteristisch sind die Wohnensembles im klassizistischen Stil.

Bereits bei der Grundsteinlegung im Jahr 1951 war von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten klar deklariert worden, dass das Thema Kunst beim Aufbau des neuen Staates eine wichtige Rolle innehaben sollte. Die Kunst sollte einen Beitrag zur Formung des neuen Menschen einnehmen. Deshalb ist Eisenhüttenstadt auch ein Spiegelbild des ostdeutschen Kulturschaffens dieser Zeit.

Die Werke des sozialistischen Realismus stellen bevorzugt Szenen aus dem Alltag der Menschen dar, unter anderem die Mühen der Arbeitenden sowie deren Engagement und Enthusiasmus beim Aufbau des neuen Staates. Plastiken, grosse Wandgemälde in Innen- und Aussenbereichen, Glasmalereien, Mosaike sowie grosszügig gestaltete Freiflächen prägen das Bild der gesamten Stadt. Die künstlerische Gestaltung schloss aber auch die dekorative Ornamentik der Gebäudefassade mit ein.

Das Architekturensemble gilt heute als eines der grössten Flächendenkmäler Deutschlands.

Buchtipp: Architekturführer Eisenhüttenstadt

Herausgeber Martin Maleschka, mit Beiträgen von J. Hartwig,G. Haubold, J. Neise, DOM publishers, Berlin, März 2021, 224 Seiten, 320 Abbildungen, Softcover, 135 × 245 mm, ISBN 978-3-86922-094-9, 34 Franken 40


Geschrieben von

Ehemalige Redaktorin Baublatt

Claudia Bertoldi war von April 2015 bis April 2022 als Redaktorin beim Baublatt tätig. Ihre Spezialgebiete waren Architektur- und Technikthemen.

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