Kolumne zum Donnerstag: Respekt!
In der Kolumne zum Donnerstag schreiben Exponenten der Branche über das, was sie bewegt. Heute ist es Nico Lutz, Mitgliedder Geschäftsleitungder GewerkschaftUnia.
Quelle: libertyslens, Flickr, CC
Schreibmaschine, Schmuckbild.
Kurz vor Weihnachten habe ich meine Gotte besucht. Sie ist inzwischen 101 Jahre alt. Die Augen haben nachgelassen, sie kann keine Zeitung mehr lesen, und bei der klassischen Musik hört sie die hohen Töne nicht mehr. Aber im Kopf ist sie noch voll da und immerzu positiv eingestellt. Ich habe grössten Respekt vor ihr. Doch sie sagte mir schon vor fünf Jahren, dass sie sich in der Welt draussen kaum mehr zurechtfindet. Automatische Türen beim Zug gehen schneller zu, als sie einsteigen kann. Und der Billettautomat ist ein unüberwindbares Hindernis.
Ich bin noch nicht einmal halb so alt wie meine Gotte. Doch ich merke manchmal auch schon, dass mich die Geschwindigkeit der Veränderungen und die neuen Technologien stark fordern. Und dass ich nicht mehr so schnell die Berge hoch komme wie vor 25 Jahren.
Wie geht es dann erst einem Bauarbeiter in meinem Alter? Sie haben schon über zwei Jahrzehnte hart gearbeitet, bei Wind und Wetter draussen. Sie haben die Schweiz gebaut. Es ist klar, dass man mit 50 Jahren körperlich nicht mehr so viel leisten kann wie mit 25. Dafür haben die älteren Bauarbeiter wertvolle Berufserfahrung. Es ist schon seltsam: Auf der einen Seite wird der Mangel an erfahrenen und qualifizierten Berufsleuten beklagt. Auf der anderen Seite werden ältere Bauarbeiter immer häufiger in prekäre Arbeitsverhältnisse abgeschoben.
Letzte Woche habe ich einen 55-jährigen Bauarbeiter getroffen. Er hat mehr als zwanzig Jahren in der gleichen Firma gearbeitet. Dann wurde er vor drei Jahren entlassen. Eine Zeit lang konnte er in seiner Firma noch als Temporärangestellter weiterarbeiten, dann war auch dies vorbei. Im Moment hofft er, dass er auf den Frühling wieder eine Anstellung findet. Dieser Bauarbeiter ist leider kein Einzelfall. Die Zahl der Bauarbeiter, die temporär arbeiten müssen, hat im letzten Jahr um 14 Prozent zugenommen. Noch höher – mehr als 20 Prozent – war die Zunahme bei den Bauarbeitern über 50, die temporär beschäftigt sind. In diesem Alter oft wieder zum Mindestlohn und mit einer Kündigungsfrist von wenigen Tagen arbeiten zu müssen, das haben diese älteren Bauarbeiter nicht verdient. Unwürdig sind auch die Forderungen nach Lohnkürzungen für ältere Arbeitnehmer. Wie wenn die Pensionskassenbeiträge oder die Gesundheitskosten mit zunehmendem Alter geringer werden. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall.
Weil der Druck auf die älteren Bauarbeiter steigt und deren Arbeitssituation vermehrt prekärer wird, ist die Rente mit 60 auf dem Bau enorm wichtig. Hier stehen wir in den nächsten Jahren vor grossen Herausforderungen. Der Jahrgang 1964 ist derjenige, welcher auf den Schweizer Baustellen am meisten vertreten ist. Dieser Jahrgang geht 2024 mit 60 in Rente. Bis zu diesem Zeitpunkt wird also die Zahl der Bauarbeiter, die in die Frühpensionierung gehen, steigen. Vorübergehend steigen daher auch die Kosten für die Rente mit 60. Es ist Aufgabe der Sozialpartner, diese Herausforderung zu meistern. Denn es ist auch eine Frage des Respekts, wie wir mit älteren Arbeitnehmenden umgehen, die dieses Land gebaut haben.