Digitalisierung: Schöne neue Bürowelt
Eine wilde Reise durch die Bürogeschichte der letzten rund 50 Jahre: Florian Idenburg und LeeAnn Suen erzählen in einem Essayband vom Wandel der Büroarbeitsplätze und der damit verbundenen Digitalisierung. Sie zeigen, wie diese Entwicklungen die Arbeitswelt aber auch den Alltag im Allgemeinen prägen.
Quelle: NSSDC, NASA[1], Public Domain
Schrieb Raumfahrtgeschichte und stiess die Entwickung des Internets mit an: der russische Weltraumsatellit Sputnik 1. (Im Bild. Replik im National Air and Space Museum in Washington D.C.)
1957 katapultierte die Sowjetunion den ersten Erdsatelliten
in den Orbit: Sputnik 1. Der Startschuss für den Wettlauf ins All zwischen den USA
und der Sowjetunion war gefallen. Er beschleunigte die technologische
Entwicklung: In den Vereinigten Staaten wurde die Nasa gegründet und mit der Advanced
Research Projects Agency ein Programm ins Leben gerufen, mit dem die Kommunikation
vernetzt werden sollte.
Dabei entstand am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das sogenannte Arpanet, ein Vorläufer des heutigen Internets. MIT-Forscher entwickelten innert weniger Jahre mit der Paketvermittlung – Packet Switching – ein Verfahren, mit sich Informationen in Datenblöcke aufteilen und von einem Computer zum andern senden liessen. So kam es, dass am 29. Oktober 1969 die erste Nachricht zwischen zwei Rechnern ausgetauscht wurde: LOGIN. Allerdings war die Anfangsversion des Internets noch jung und wenig belastbar. Das Netz brach zusammen, weswegen es nur die ersten beiden Buchstaben ans Ziel schafften. LO.
Effzient über eine „Maschine“ kommunizieren
„Wir betreten ein technologisches Zeitalter, in dem wir in der Lage sein werden, mit der Vielfalt an Informationen zu interagieren - und zwar nicht nur passiv, wie wir es von Büchern und Bibliotheken gewohnt sind, sondern als aktive Teilnehmer an einem fortlaufenden Prozess“, war Joseph Carl Robinett Licklider damals überzeugt. Lick – diesen Spitznamen hatte er sich selbst verliehen - war Psychologe, der sich auf die Interaktion zwischen Mensch und Computer spezialisiert hatte, und einer der Köpfe hinter dem Arpanet gewesen ist. Seine Vorhersage sollte sich bewahrheiten. Aber nicht nur diese. „In ein paar Jahren werden die Menschen in der Lage sein, über eine Maschine effizienter zu kommunizieren als von Angesicht zu Angesicht.“
Die Digitalisierung prägt den Büroalltag. Die Corona-Pandemie hat ihr einen Booster verpasst. Sie stellt die Arbeit im Büro, wie sie bislang organisiert war immer mehr infrage. - Braucht es den traditionellen Büroarbeitsplatz noch, wenn man Dank Onlinekommunikation und Teams- oder Zoom-Meetings auch in den eigenen vier Wänden arbeiten kann?
Quelle: Iwan Baan / Taschen Verlag
Ford Foundation Headquarters New York, New York, 287,500 SF, Foundation headquarters. Kevin Roche and John Dinkeloo Associates. 1964–1967.
Dass diese Entwicklung das Büro, Bürobauten und
ganze Stadtquartiere prägt wenn nicht gar verändert hat und noch immer
verändert – davon erzählt der Band „The Office of Good Intensions – Human(s)
Work“: Die US-Architekten LeeAnn Suen und Florian Idenburg untersuchen in zwölf
Essays den Wandel der Bürowelt in den vergangenen rund 50 Jahren, darunter auch
Bürotürme. „Der Turm verkörpert Hierarchie“, schreiben sie. „Angestellte oder
Sekretärinnen können sich von der Poststelle oder dem Grossraumbüro bis in den
Sitzungssaal im obersten Stockwerk hocharbeiten.“
Dabei streifen sie auch die Arbeit des Bauingenieurs Fazlur
Rahman Khan (1929-1982): Der Sohn eines aus Bangladesch eingewanderten Paars war
massgeblich am Erfolg des amerikanischen
Wolkenkratzers beteiligt gewesen. Dies damit, dass er die Struktur eines
Hochhauses anstatt wie bis anhin in den Kern in den Randbereich verlegte
respektive mit seinem Bundrohrsystem. Auf
diese Weise liessen sich horizontale Kräfte in hohen Strukturen besser absorbieren
sowie Material und Kosten einsparen. Dies ermöglichte noch höhere Türme: So war
der Sears Tower (heute Willis Tower), den Kahn zusammen mit Bruce Graham bei Skidmore,
Owings an Merrill (SOM) plante, nach seiner Fertigstellung 1973 mit 442 Metern der höchste Wolkenkratzer
der Welt. Allerdings verwaiste der Büroturm später während des Immobilienbooms
der 1980er- und 90er-Jahre und blieb trotz technischer Finessen wie automatische
Fensterreinigung und einem Postzustellungsroboter namens Little Bo-Beep halb
leer.
Telefonieren und Surfen auf der Strasse
Allerdings wirkt sich die Digitalisierung und der Wandel von
Bürotätigkeiten auch sonst aufs Stadtbild aus. Telefonzellen werden zunehmend
zur Seltenheit. Auch hier legen die beiden Autoren wie auch sonst mehrheitlich
in ihrem Band das Augenmerk auf die USA und ziehen als Beispiel New York heran,
wo die Behörden im 2013 beschlossen hatten, ihr Münztelefonsystem zu ersetzen. Damals
gab es in der Stadt noch rund 10‘000 Münztelefone in der Nähe von Busbahnhöfen.
Allerdings waren immer mehr Menschen mit dem Handy unterwegs und brauchten sie
nicht mehr.
Zuletzt machte man die charakteristischen Aluminiumkästen im Big Apple fit für den technischen Wandel: Sie erhielten solarbetriebene Batterien und einen Datenrouter, der die Anrufe an die Mobilfunkmasten weiter leitete. Und schliesslich gewann ein Konsortium namens Citybridge den Auftrag, die Telefone mit kleinen Kiosken zu ersetzen, die gratis WiFi bieten sowie eine Ladestation, einen Internetzugang samt Screen und Tastatur sowie die Möglichkeit Anrufe zu tätigen. Das Angebot stiess vor allem auch bei Menschen am unteren Rand der Gesellschaft schnell auf Interesse. So war die am häufigsten gewählt Telefonnummer 2019 die New York City Electronic Benefit Hotline, über die man Zuschüsse für den Kauf von Lebensmitteln erhält. Der meistverwendete Suchbegriff: Arbeit.
Auszeit im Ostrich Pillow
Quelle: Iwan Baan
Hauptsitz der Burroughs Wellcome Company, Durham, North Carolina, 700.000 SF. Hauptsitz des Unternehmens, Paul Rudolph, Architekt. 1969-1972.
Ergänzt werden die Texte von Fotoessays von Iwan Baan: Unter anderem führt der niederländische Architekturfotograf durch Louis Kahns zwischen 1959 und 1965 erbaute Salk Institute, nimmt mit auf eine Tour durch Paul Rudolphs spektakuläres, mittlerweile leider abgerissenes Gebäude der Burroughs Wellcome Company (Bild oben) in Durham im US-Bundesstaat Carolina aus den 70er-Jahren. Oder er wirft Blicke auf chaotische Schreibtische im Wirrwarr moderner Grossraumbüros. Weiter illustrieren Pläne, historische Aufnahmen und Werbung der letzten Jahrzehnte aber auch neuartige Arbeitsuntensilien Suens und Idenburgers Expeditionen durch den Bürokosmos. So erzählt etwa das Ostrich Pillow – Straussenkissen – vom Stress des modernen Menschen: Eine Art gepolsterter Kokon für den Kopf, der sich vom Kollegengeschnatter und vom optischen Chaos ermüdete Grossraumbüromenschen für eine kleine Auszeit und einen Moment der Ruhe über den Kopf stülpen könnten. Er ist gepolstert, sodass man das müde Haupt gemütlich aufs Pult legen kann.
Möglicherweise hat man auch nach dem Lesen des Buchs das
Bedürfnis nach einem Kopfkokon. Allerdings im positiven Sinne. Suen und
Idenburg liefern unzählige Denkanstösse dazu, wie sehr der Wandel des Büros und
der darin verrichteten Arbeiten unseren Alltag beeinflussen und prägen. Nicht nur derjenigen, die täglich
vor dem Bildschirm sitzen, sondern auch derjenigen die unterwegs im Internet schnell
etwas nachsehen wollen oder einen Job suchen.
The Office of Good Intentions. Human(s) Work von Florian Idenburg and LeeAnn Suen; Fotografien von Iwan Baan; Englisch; Taschen Verlag; 592 Seiten; broschiert; ISBN 978-3-8365-7436-5; Preis zirka 68 Franken 90