Zürich Schwamendingen: Museumsehre für Randbezirk
Eine Fotoausstellung in der Kunsthalle Zürich stellt ein Viertel in den Fokus, dem nichts Mondänes, sondern eher Profanes anhaftet: Schwamendingen. Die Fotografin Ruth Erdt hält seit über 30 Jahren den Wandel des Quartiers, das auch ihr Lebensort ist, fest – mit dokumentarischem, sozialkritischem und künstlerischem Blick. Ein zentraler «Tatort» ihrer Arbeit waren Baustellen.
Quelle: Cedric Mussano
Die Ausstellungsobjekte sind divers: Drucke auf raumhohen Vorhängen, gerahmte Fotografien, Diashows oder haufenweise Fotos auf einem Tisch.
An der Vernissage der Ausstellung «K12 – Schwamendingen», die noch bis zum 19. Januar zu sehen ist, kamen gut 1500 Besucherinnen und Besucher: Anwohner aus Schwamendingen, Neugierige, Stadtplaner und Architektinnen. Denn gerade auch Fachleute aus dem Bereich Stadtentwicklung interessieren sich für die Arbeit von Ruth Erdt, weil diese eine spannende Mischung von Dokumentation, Reportage, Porträt und Kunst und zudem eine Art Langzeitstudie ist. So wurde die Fotografin etwa vom Departement Architektur der ETH eingeladen, einen Vortrag über ihr Projekt zu halten. Zudem begleitete die Künstlerin Architekturstudierende als Dozentin während eines Semesters über Schwamendingen.
So unterschiedlich die Genres der Fotografien sind, so divers sind auch die Ausstellungsobjekte an sich: Drucke auf raumhohen Vorhängen, gerahmte Fotografien, Diashows und auf einem Tisch haufenweise Fotos. Die Besucherinnen und Besucher können die Bilder auswählen, kombinieren und ordnen – ähnlich wie die Künstlerin das auch macht. Die Bilder zeigen Alltägliches: Menschen, Orte und Unorte, also Abbruchhäuser oder Baustellen. Gehängt sind die Kunstwerke so, dass ein Spannungsfeld sichtbar wird, bei dem sich Altes an Neues, Abbruch an Aufbruch reiht. «Diese Choreographie ist sehr bewusst gewählt, denn ich wollte den Wandel zeigen», sagt Erdt bei einem Treffen in der Ausstellung. Und sie fügt an: «Die Fotografie ist für mich eine Sprache.» Eine wahre Herkulesarbeit war die Auswahl der Bilder, ein über Jahrzehnte gewachsener Fundus von rund 60 000 Fotografien. Viele davon hat die Künstlerin auf Baustellen eingefangen, zum Beispiel an der Wohnüberbauung am Tulpenweg, die dem Riesenprojekt Einhausung Schwamendingen samt Überlandpark weichen musste und Stück für Stück abgerissen wurde.
«Wochenlang auf der Baustelle»
Quelle: Cedric Mussano
In der Ausstellung von Ruth Erdts Fotografien liegen Abbruch und Aufbruch dicht nebeneinander.
Quelle: Franz Rindlisbacheer
Ruth Erdt ist oft auf Abbruchgeländen und Baustellen unterwegs.
«Von Anfang an fotografiere ich den Abbruch der Häuser», schreibt Ruth Erdt im parallel zur Ausstellung erschienenen Buch «K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich». «Ich kenne den Polier mit Vornamen. Geh da nicht rein, das ist instabil. Pass auf, in den Küchen ist Asbest. In einer Wohnung sind die Wände mit Schimmel überzogen. In einer anderen Wohnung steht ‹Danke für alles› auf der Wand. Ich streife wochenlang auf der Baustelle herum.» Abbruchhäuser und die Neuentstehung der Einhausung sind ein Kernthema in der Ausstellung. Denn mit dem neuen Bauprojekt, das Lärm und Abgabe mindert und die Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner von Schwamendingen erhöht, ist ein neues, attraktiveres Zeitalter für Schwamendingen angebrochen. Im Mai 2025 soll dann auch der Überlandpark auf dem Dach der Einhausung eröffnet werden.«Schwamendingen war die Banlieu von Zürich, und die Leute waren stolz, von hier zu sein. Doch jetzt wird in kurzer Zeit alles neu und anders», sinniert die Künstlerin in ihrem Buch.
An einer anderen Stelle im Buch erläutert Ruth Erdt ihre Arbeit wiefolgt: «Bevor ich in die Abbruchsiedlung eindringe, Gitter beiseiteschiebe und über Zäune klettere, informiere ich meinen Mann über die Lage der Baustelle. Falls ich mich in drei Stunden nicht melde, liege ich unter einer zusammengebrochenen Mauer oder bin in einem instabilen Treppenhaus abgestürzt.» Sie selbst sieht sich mal als Reportage- oder Architekturfotografin, Studiofotografin, Sportfotografin oder gewisser Weise als Kriegsreporterin, manchmal schlicht als Amateurin. Für die Bilder auf den Baustellen nutzt sie ihre erste alte Digitalkamera, da es schlicht zu staubig sei und es sich nicht lohne, die Kamera ständig zu reinigen.
Vom Unort zum Kultort
Quelle: Ruth Erdt
Die junge Generation ist stolz auf Schwamendingen und hat einen eigenen Style entwickelt. Dazu gehört auch das Brand K12, der für Kreis 12 steht - für Schwamendingen.
Quelle: Ruth Erdt
Zu den Arbeiten von Ruth Erdt gehören neben Momentaufnahmen, Orten und Unorten auch inszenierte Porträts.
Begonnen hat das Fotoprojekt mit dem Umzug von Ruth Erdt. Anfang der 1990er-Jahre zog sie mit ihrer Familie nach Schwamendingen, da es dort noch bezahlbaren Wohnraum inklusive Atelier gab. In einen Randbezirk also, der mit vielen Vorur-teilen behaftet war, der belächelt und bemitleidet wurde. In ein Quartier, das bis vor 100 Jahren ein Bauerndorf war und heute einen hohen Ausländeranteil hat, das in der Südanflugschneise liegt und durch dessen Hauptschlagader täglich 120'000 Autos brausen.
Die Künstlerin näherte sich ihrer neuen Heimat mit der Kamera – zunächst ohne Plan und Absicht. Später begann sie gezielter zu fotografieren und machte Bilder, die überall sein könnten und nicht klar Schwamendingen zugeordnet werden konnten. Doch dann erlebte sie durch die Generation ihres Sohnes, wie diese den Unort zum Kultort machte, das Label K12 (Schwamendingen ist der Kreis 12 von Zürich) kreierte und mit Sprayereien und Songs verbreitete. «Sie haben das Vorurteil ins Positive gedreht, identitätsstiftende Dinge kreiert, das Quartier erobert und mit Stolz zelebriert», erzählt die Künstlerin. Und schliesslich kam auch die städtische Aufwertung von Schwamendingen mit zahlreichen Bauprojekten mit der Einhausung als Tüpfchen auf dem i, die in der Ausstellung eine wichtige Rolle spielt. «Ich fotografiere Schwamendingen, bevor es seine alte Haut abstreift», schreibt die Künstlerin in ihrem Buch.
Mammutwerk mit 912 Seiten
Am 1. November war die Buchvernissage in der Kunsthalle. Das 912-seitige Mammutwerk mit über 600 Fotografien zeigt nicht nur das ganze Spektrum der unterschiedlichen Fotografien, es ist auch ein Hinweis auf die Dauer des Projekts. Andere Projekte der Künstlerin erstreckten sich ebenfalls über viele Jahre. Warum das so ist, erzählt sie an der Vernissage: «Es ist eher eine unbewusste Strategie von mir. Denn ich will nie etwas einfach von aussen betrachten und dann wieder gehen, ich will eintauchen. Diese Art von Arbeit braucht viel Vertrauen und Respekt, und das wiederum gibt den Projekten Emotionalität und Authentizität.» Kann sie nach rund 35 Jahren, in denen Sie Schwamendingen fotografiert hat, überhaupt damit aufhören? «Ich weiss es nicht. Meine Arbeiten sind Teil meines Lebens, meines Alltags», sagt Ruth Erdt. «Ich sehe immer wieder etwas, das ich spannend zum Festhalten finde, aber jetzt brauch ich erst mal eine Pause.»
Die Ausstellung «Ruth Erdt» in der Kunsthalle Zürich dauert noch bis 19. Januar. Weitere Informationen auf: www.kunsthallezurich.ch
Quelle: zvg
K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich; Ruth Erdt; Deutsch/Englisch; Steidl-Verlag; 912 Seiten; gebunden; 978-3-96999-422-1; ca. 101 Franken