09:24 KOMMUNAL

Warum brauchen die Gewässer Raum?

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Bäche, Flüsse und Seen haben unzählige Aufgaben, sie dienen etwa der Trinkwasserversorgung oder dem Hochwasserschutz. Dafür brauchen sie aber genügend Raum. Mit der revidierten Gewässerschutzverordnung sollen sie diesen nach längerer Leidenszeit nun wieder zurückbekommen.

Hochwasserprojekt Emme

Quelle: Archiv

Hochwasserschutzprojekt Emme: Nach dem Abschluss der Bauarbeiten am oberen Abschnitt in Biberist/Gerlafingen SO im Jahr 2012 ist das Flussbild mit den Kiesinseln ständig im Wandel.

Im Zuge von Eindolungen, Begradigungen und Verbauungen wurde den Gewässern der für ihre Aufgabenerfüllung nötige Raum in der Vergangenheit vielfach weggenommen. Mit der revidierten Gewässerschutzverordnung (GSchV), die am 1. Mai 2017 in Kraft getreten ist, geht es nun darum, ihnen einen kleinen Teil davon wieder zurückzugeben. Doch warum ist das so wichtig?

Gewässer im Wandel der Zeit

Vielerorts präsentieren sich unsere Gewässer verbaut, begradigt und zwischen Dämmen eingezwängt. Im intensiv genutzten Mittelland haben rund 50 Prozent der Fliessgewässer kaum mehr etwas mit ihrem ursprünglichen Zustand zu tun, schweizweit haben rund 40 Prozent der Flüsse und Bäche zu wenig Platz. Eingedolt und verbaut wurden die Gewässer vor allem ab dem 19. Jahrhundert mit dem Ziel, Landwirtschafts- und Siedlungsland zu gewinnen und dieses auch vor Überflutungen zu schützen.

Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass dadurch wertvolle Lebensräume verloren gegangen und als Konsequenz viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder gar ausgestorben sind. Der Verlust der biologischen Vielfalt in und an Gewässern ist bedeutend. Erfahrungen der letzten Jahrzehnte machen deutlich, dass sich Hochwasser nicht alleine durch technische Massnahmen bändigen lassen. Zudem sind eingeengte Gewässer wenig attraktiv für die Freizeitnutzung und beeinträchtigen das Landschaftsbild. Kurzum, es gibt zahlreiche Gründe, den Schweizer Gewässern wieder einen kleinen Teil des Platzes zurückzugeben, den man ihnen über Jahrhunderte abgerungen hat.

2003 forderten mehrere Bundesämter im Leitbild Fliessgewässer Schweiz gemeinsam mehr Raum für Schweizer Gewässer, was schliesslich – angestossen durch die Volksinitiative «Lebendiges Wasser» des Schweizerischen Fischereiverbandes – 2011 ins Gewässerschutzgesetz (GSchG) aufgenommen wurde. Die verschiedenen Akteure haben einen Kompromiss zwischen Schutz und Nutzung ausgehandelt, mit dem die Schweiz ihre Gewässer fit für die Zukunft machen kann.

Örtliche Gegebenheiten berücksichtigen

Nun hat der Bundesrat fünf neue Bestimmungen in die GSchV aufgenommen. So kann den spezifischen örtlichen Gegebenheiten besser Rechnung getragen werden. Für die Kantone heisst dies konkret, einen so genannten Gewässerraum auszuscheiden. Dabei handelt es sich um einen Korridor bestehend aus dem Gewässer und einem Landstreifen entlang beider Ufer, dessen Ausdehnung von der Breite des Baches beziehungsweise Flusses abhängig ist. Dieser Landstreifen kann landwirtschaftlich extensiv genutzt werden. Die Bewirtschafter können dafür jedes Jahr gemäss der Direktzahlungsverordnung für Biodiversitätsförderflächen entschädigt werden.

Gewässerraum – wozu?

Der Bau der Abwasserinfrastruktur sowie Verbote und Einschränkungen problematischer Stoffe haben dazu beigetragen, dass sich die Wasserqualität seit den 1950er Jahren vor allem in den mittleren und grösseren Gewässern sowie zum Teil in den Seen stark verbessert hat. In den letzten 50 Jahren ist jedoch der Einsatz von Düngern und Pestiziden in der Landwirtschaft sehr stark gestiegen. Diese Chemikalien belasten heute vor allem die kleinen Fliessgewässer stark.

Ein ausreichender Gewässerraum reduziert Abschwemmungen von Pestiziden und Düngern von den landwirtschaftlichen Feldern in die Gewässer und bildet so eine sogenannte schützende Pufferzone. Saubere Gewässer fördern die Vielfalt von Tieren und Pflanzen. Auch wird indirekt die Qualität des Trinkwassers verbessert. Nicht zuletzt sind sie attraktiv zum Baden. Menschen, Tiere und Pflanzen brauchen sauberes Wasser.

Überschwemmungsrisiko mindern

Als Folge der Gewässerkorrektionen ab dem 19. Jahrhundert wurden viele Bäche und Flüsse begradigt und verbaut. Dies bedeutet, dass die sich einst durch die Talebenen windenden Gewässer plötzlich eine deutlich geringere Strecke zurücklegten, der zu überwindende Höhenunterschied aber blieb gleich. Folglich wiesen die «korrigierten» Gewässer eine deutlich steilere Neigung, und damit einhergehend erhöhte Fliessgeschwindigkeiten, höhere Energien und ein deutlich höheres Erosionspotential auf. Die daraus resultierenden negativen Effekte zeigten unter anderem die Hochwasser der Jahre 2005 oder 2007.

Das erhöhte Erosionspotential führt dazu, dass sich die Gewässer in den Untergrund eingraben, sofern ihr Bett nicht komplett befestigt ist. Dadurch werden die Uferbefestigungen unterhöhlt und nach und nach zerstört. Bäche und Flüsse, denen genügend Raum zur Verfügung steht, bremsen Hochwasser aufgrund ihres natürlichen Gewässerverlaufs und ihrer Vegetation, die Fliessgeschwindigkeiten und die Energien des Wassers werden reduziert. Der zusätzliche Raum, der dem Gewässer zur Verfügung steht, kann das Wasser zurückhalten und den Abfluss bremsen. Hochwasserspitzen werden dadurch abgeschwächt.

Mehr Attraktivität rund um die Gewässer

Attraktive, vielfältige Gewässer sind wichtig für die Naherholung. Sie werden zu Sport und Spiel genutzt, gewinnen in den städtischen Gebieten als Erholungsfaktor immer mehr an Bedeutung und locken Touristen an. Korrigierte Fliessgewässer sind hingegen als Aufenthaltsort wenig attraktiv.

Zählungen von Erholungssuchenden an eingeengten Gewässerabschnitten und an naturnahen Abschnitten mit ausreichendem Gewässerraum belegen, dass die natürlicheren Gewässerabschnitte deutlich häufiger zur Naherholung genutzt werden und dass auch die Aktivitäten (etwa spazieren, baden oder reiten) dort vielfältiger sind. Ein reaktivierter Seitenarm des Rheins wird beispielsweise von Wanderern, Velofahrenden und auch zum Baden besucht.

Viele heimische Fischarten sind selten geworden

Viele Fischarten sind in jeder Lebensphase auf unterschiedliche Lebensräume angewiesen. Äschen beispielsweise laichen bevorzugt auf sauberen Kiesbänken mit rascher Strömung, wo sich der Laich geschützt und gut mit Sauerstoff versorgt entwickeln kann. Die jungen Äschen sind noch schlechte Schwimmer und daher auf reich strukturierte Flachufer mit geringer Strömungsgeschwindigkeit angewiesen. Ausgewachsene Fische hingegen finden ihre Nahrung häufig in tiefen Rinnen mit gleichmässiger, zügiger Strömung. In Seen und vor allem in den Flüssen sind im Vergleich zu vor hundert Jahren viele der heimischen Fischarten selten geworden oder zum Teil ausgestorben.

Bäche und Flüsse, die genügend Raum und Geschiebe zur Verfügung haben, können vielfältige Lebensräume mit unterschiedlichen Bereichen bilden. Das Wasser weist unterschiedliche Tiefen auf und fliesst unterschiedlich schnell, Geschiebe kann weggeschwemmt und wieder abgelagert werden. Das Wurzelwerk der Ufervegetation, die sich in nur extensiv genutztem Gewässerraum ausbilden kann, bietet Unterschlupf. So entstehen wertvolle Lebensräume wie Kiesbänke, beruhigte Zonen und Bereiche, in denen das Wasser schnell fliesst und sprudelt. So können Fische aufwachsen, laichen und leben. Das ist nicht zuletzt attraktiv für Fischer.

Konkurrenzkampf um Raum

Nirgends findet man so viele heimische Tier- und Pflanzenarten wie in und an Gewässern. Keine Überraschung, denn jedes Lebewesen ist auf Wasser angewiesen. Als Folge von Begradigungen und Verbauungen der Gewässer ist auch der Verlust an Biodiversität entsprechend hoch.

Vor allem im Flachland und in den Talebenen der Schweiz konkurrieren Siedlungen, Industrie, Landwirtschaft und weitere Nutzungsansprüche mit der Natur um Raum. Besonders in diesen Regionen sind die Ufer entlang von Bächen und Flüssen – trotz Einengungen und Verbauungen – oft der einzige, halbwegs zusammenhängende Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Der Gewässerraum bietet in einer ansonsten ausgeräumten und eintönigen Kulturlandschaft ein Band an mehr oder minder vielfältigen Lebensräumen. Deswegen kann man dort meist auf kleinem Raum eine sehr hohe Artenvielfalt finden. Frösche legen nach Überflutungen ihre Eier beispielsweise in wassergefüllten Mulden ab, die später wieder trocken fallen. Diese Tümpel sind wichtig, da in ihnen keine Fische vorkommen, die Eier oder Larven fressen würden.

Gewässer als Vernetzungskorridor

Aus der Vogelperspektive betrachtet ähneln Gewässerläufe nicht selten blau-grünen Bändern durch die Landschaft und übernehmen eine wichtige Rolle für die Vernetzung der Lebens- und Landschaftsräume. Tiere wandern entlang dieser Grüngürtel, bieten sie doch Schutz vor Räubern und Verstecke. Die Vegetation, die sich nur im extensiv genutzten Gewässerraum entwickeln kann, liefert Schatten für die Gewässer und deren Lebewesen und kühlt das Wasser – gerade in Zeiten des Klimawandels eine wichtige Funktion. Der Gewässerraum stellt also sowohl einen wichtigen Lebensraum an sich dar, dient aber auch als Vernetzungskorridor für Arten und hilft somit, deren langfristiges Überleben zu sichern.

Extensive Bewirtschaftung

Der Gewässerraum gibt den Gewässern einen kleinen Anteil an Raum zurück, der ihnen über Jahrhunderte genommen wurde. Er kann aber noch immer extensiv bewirtschaftet werden. Das heisst, der Bauer kann den Gewässerraum als Biodiversitätsförderflächen nutzen. Die extensive Bewirtschaftung bringt mit sich, dass keine Dünger und Pestizide eingesetzt werden und kein Bodenumbruch erfolgen darf.

Diese Einschränkungen sind für die Landwirte nicht komplett neu; schon länger gibt es Vorschriften bezüglich des Ausbringens von Düngern und Pflanzenschutzmitteln entlang von Gewässern. Um zusätzliche landwirtschaftliche Ertragsausfälle durch den Gewässerraum zu kompensieren, wurde das Landwirtschaftsbudget mit der Revision des Gewässerschutzgesetzes 2011 um 20 Millionen Franken pro Jahr erhöht und die Landwirte können im Rahmen der Direktzahlungsverordnung (DVO) für die Extensivierung abgegolten werden.

Fruchtfolgeflächen in Notfällen nutzbar

Eine Besonderheit stellen die wertvollen Fruchtfolgeflächen dar. Gehen solche Flächen durch Hochwasserschutz- oder Revitalisierungsprojekte verloren, müssen sie kompensiert werden. Fruchtfolgeflächen im Gewässerraum zählen weiterhin zum kantonalen Kontingent. Sollte es zu einer Krisensituation mit Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung kommen, können diese Flächen in Notlagen genutzt werden. Durch die extensive Bewirtschaftung können sogar noch wertvollere Böden entstehen.

Biodiversität und Artenschutz

Wenn Bäche, Flüsse und Seen Raum erhalten, wird der Handlungsspielraum zur Nutzung und zur Gestaltung der Gewässer für kommende Generationen erhalten. Auch können damit die natürlichen Funktionen und Leistungen der Gewässer langfristig wiederhergestellt und bewahrt bleiben. Ein ausreichend grosser Gewässerraum verhindert keine künftigen Revitalisierungs- oder Hochwasserschutzprojekte. Als Wanderkorridore mit diversen Lebensräumen und als Grundgerüst für die ökologische Infrastruktur sind Gewässer für den Erhalt unserer biologischen Vielfalt und den Artenschutz von grosser Bedeutung.

Noch sind die Bedürfnisse unbekannt, die die Gesellschaft und Volkswirtschaft in 50, 100 oder 1000 Jahren haben wird. Gewässer werden der Schweiz als Wasserschloss Europas erhalten bleiben. Wird heute der minimale Raum an den Gewässern reserviert, bleibt für die Zukunft vieles möglich. Und schliesslich haben natürlichere Gewässer eine grössere Chance, sich an Veränderungen wie zum Beispiel den Klimawandel anzupassen und auch unter wandelnden Bedingungen ihre Aufgaben weiterhin zu erfüllen. (mgt/nsi)

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