Vertical Living: Leben auf kleinstem Raum im Tiny Tower
Wegen steigender Bodenpreise gewinnen Baulücken im städtischen Siedlungsgefüge an Attraktivität. Doch die Bebauung der oft winzigen Grundstücke in den Metropolen ist speziellen Restriktionen unterworfen. Bei den kleinen Gebäuden handelt es sich um architektonische Unikate mit Wohn- und Arbeitsflächen auf mehreren Etagen.
Quelle: Takumi Ota
Die skulpturale Wirkung der sehr schmalen Eingangsfront täuscht, denn das Gebäude umfasst neben Wohnungen auch Kleinbüros und einen Laden.
Der «Sarugaku Tower» in Tokio erweckt den Eindruck, als würde er auf einer Verkehrsinsel stehen. Das Gebäude nutzt den zur Verfügung stehenden Platz des Grundstücks zwischen zwei Strassen maximal aus, wobei die gerade Achse auf der einen und der Kurvenradius auf der anderen Seite die asymmetrische Form des Baugrunds bestimmen. Die Asymmetrie prägt auch die Gestaltung von Terrassen, Fenstern und Geländern der schmalen Eingangsfassade, die in die gewachsene Struktur der umliegenden Gebäude eingepasst ist.
Um das Grundstück optimal nutzen zu können, befindet sich der Erschliessungsbereich im spitzen Winkel des Gebäudes, das allerdings erstaunlich viel Platz bietet. Es umfasst mehrere Wohnungen, Räume für Kleinbüros und einen Laden. Die vom Atelier Masatoshi Hirai Architects gewählte Lösung der Erschliessung dürfte für die Bewohnerinnen und Bewohner allerdings gewöhnungsbedürftig sein, auch wenn es sich um ruhige Quartiersstrassen handelt.
Trend zur Urbanisierung
Hochhäuser in den Zentren von Städten sind eine Folge des knappen Baulands und der damit einhergehenden Bodenpreise. Die Attraktivität von Städten als Wohn- und Arbeitsort ist ungebrochen, der Trend zur Urbanisierung besteht nach wie vor, wie Bevölkerungsstatistiken zeigen. Grosse bestehende Siedlungsräume werden weiter wachsen, sodass bis 2030 weltweit voraussichtlich 43 Megastädte entstehen werden. 1950 zählten lediglich Tokio und New York mehr als zehn Millionen Einwohner.
Und bis im Jahr 2050 werden Schätzungen zufolge zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten wohnen und arbeiten, 1950 betrug der Anteil rund Drittel. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Die zunehmende Urbanisierung habe zur Folge, dass Wohnflächen kostbarer werden und der Druck zur Verdichtung in Städten weiter zunehmen werde. Dies führe dazu, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Person wieder abnehmen werde.
Quelle: Jack Hobhouse
Schieferplatten an der Fassade und auf dem Dach verweisen auf die traditionelle Bauweise des «Zwischenhauses» in London. Die Grundfläche des ehemaligen Stalls ist lediglich 2,3 Meter breit.
Wohnen im Tiny Tower auf mehreren Etagen
Die Entwicklung dürfte den Trend zum Microwohnen verstärken,
mit dem Wohnen auf kleinen Flächen umschrieben wird. In der Schweiz fallen
Wohnungen mit Flächen bis zu 30 Quadratmetern mit Räumen für Schlafen und Essen
sowie einer Nasszelle in diese Kategorie, was vergleichsweise wiederum
grösszügig bemessen ist. In der Metropole Tokio ist die fürs Microliving
durchschnittliche genutzte Fläche nur etwa ein Drittel so gross. In den letzten
hundert Jahren war die Innenverdichtung in vielen Städten von der Vertikalen
geprägt. Wohn- und Büroflächen in Wolkenkratzern sind sozusagen vertikale
Vervielfältigungen der Grundrisse.
Aufgrund der Bodenpreisentwicklung und der dichteren
Besiedelung in den Metropolen kann es sich daher lohnen, Baulücken im
städtischen Gefüge zu nutzen. Es handelt sich um unbebauten Grundstücken, die
in der Siedlungsstruktur von Städten entstanden sind, sei es, weil sich eine
Arrondierung mit angrenzendem Bauland nicht ergeben hat oder Gebäude auf einer
Siedlungsfläche ihre Funktion verloren haben und abgerissen wurden. Oft sind
eigentliche Leerräume, die bei der Städte- und Verkehrsplanung übrig geblieben
sind.
Doch nun zeigt sich das Potenzial bisher unbeachteter
Flächen in den Städten. Der Ansatz bleibt der gleiche wie bei den
Wolkenkratzern in den Stadtzentren. Gebaut wird in die Höhe, gewohnt und
gearbeitet wird auf mehreren kleinen Etagen, wobei sich vertical Living als
Sonderform des Microliving umschreiben liesse. Das Gebäude in Tokio steht
beispielhaft für Nachverdichtungen in den verschiedenen Metropolen der Welt. Im
Buch «Vertical Living – Compact Architecture for Urban Spaces» werden die
aussergewöhnlichen Lösungen vorgestellt. Die Bedingungen für die
architektonische Gestaltung der kleinen Grundstücke sind jedoch restriktiv, was
mitunter die Kreativität befeuern kann.
In-Betweeny House mit Garten in London
Die Entwurfsanordnung gilt auch für das Londoner Architekturbüro Almanac, das trotz der engen räumlichen Verhältnisse Potenziale in bestehenden Strukturen nutzen und gleichwohl ästhetische Ansprüche erfüllen will. Neben dem winzigen Grundstück waren strenge Planungsvorschriften einzuhalten, die für die Altstadt gelten. Auch war das Budget der Bauherrschaft knapp bemessen. Die Projekte des Büros tragen Namen wie Slim House («Schlankes Haus»), ln-Betweeny House («Zwischenhaus») oder Wedge House («Keilhaus»). Unter optimaler Ausnutzung des Baugrunds sollen die Gebäude aber mehr sein als Lückenbüsser in einer Häuserzeile und eher wie grosse Möbelstücke wirken.
Quelle: Richard Chivers
Die Nutzung kleiner Grundstücke zwingt zur Reduktion aufs Wesentliche. Gleichwohl bieten Küche und Essbereich erstaunlich viel Platz.
Realisiert wurde eine Erweiterung für ein bestehendes zweistöckiges Haus auf einem 2,3 Meter breiten Grundstück, wo sich ehemals ein Stall befand. Die Frontseite des Gebäudes stellt mit den Backsteinen den Bezug zum bestehenden Gebäude her, die Lesbarkeit von Altem und Neuem soll jedoch eindeutig sein. Mit dem Schrägdach fügt sich das Gebäude ins Ensemble der angrenzenden viktorianischen Gebäude ein.
Die leicht hellere Farbe der Ziegel für den Anbau lassen die architektonische Intervention erkennen. In Anlehnung an die traditionelle Bauweise fand bei der Fassade auf der Hinterseite und auf dem Dach Schiefer Verwendung. Versetzt angeordneten Oberlichter optimieren den Lichteinfall, sodass sich die engen Innenräume überraschend hell präsentieren. Im Hinterhof fand sich sogar Platz für einen kleinen Garten, der in vielen Gegenden Grossbritanniens typisch ist, und die Erweiterung zusätzlich aufwertet.
Auch beim Wohnhaus in Seoul waren die gestalterischen Möglichkeiten eingeschränkt. Realisiert wurde es auf einer winzigen Bauparzelle mit einer Breite von vier Metern, ein Bauabschnitt misst sogar lediglich zwei Meter. Entstanden ist eine radikale Lösung mit einem schlichten und geradlinigen Grundriss. Der schmale Sockel auf der Frontseite und Ausschnitte im Betonkörper brechen die monolithische Wirkung des Gebäudes. Transluzente Lichtbauelemente aus Polycarbonat an den Seitenfassaden sorgen für helle Innenräumen, in denen sich die minimalistische Formensprache des Büros Archium Architects fortsetzt.
Quelle: Young Chae Park
Innenräume und verleiht dem Gebäude eine gewisse Leichtigkeit. Durch die Einschnitte wirkt der Betonkörper weniger hermetisch.
Die Flächen bestehen innen wie aussen fast ausschliesslich
aus Sichtbeton, der teilweise mit Gipskartonplatten verkleidet ist. Die
Wohnbereiche sind mit Treppen im Innern erschlossen. Versetzt angeordnete
Etagen, ineinander übergehende Aufenthaltsbereiche und Geländer aus Glas
verstärken die Wirkung des Raumvolumens. Innerhalb des Gebäude-Ensembles wirkt
der Monolith allerdings etwas dominant. Wegen der eingeschränkten Aussicht
dürften nicht alle Nachbarn Freude an der Eleganz des Gebäudes haben.
Bezahlbarer Turm in Philadelphia
Ebenfalls auf einem vier Meter breiten Streifen realisierten Brian Phillips und Deb Katz in einer Seitenstrasse von Philadelphia einen Wohnturm. Zur beschränkten Fläche des Grundstücks kam die vom Zonenplan diktierte maximale Höhe des Gebäudes. Die Fassade besteht aus Metallpanelen, die einen starken Kontrast zur Ziegelsteinfassade der angrenzenden Häuserzeile setzen. Das Treppenhaus befindet sich auf der Frontseite und nicht an der Seite oder in einer Ecke des Hauses, wie das bei der traditionellen Bauweise oft der Fall ist. Mit Ausnahme der Nasszelle besteht jede der drei Etagen nur aus einem Raum, genutzt werden kann auch eine Dachterrasse.
Quelle: Young Chae Park
Wohnbereiche sind in einem Raum vertikal angeordnet. Geländer aus Glas optimieren die Raumwirkung.
Klare Linien und eine minimalistische Möblierung lassen das
Innere geräumig erscheinen. Weil sich der Wohnturm an einer Seitenstrasse
befindet, ist er auch für durchschnittliche Budgets bezahlbar. Grösse und
Aufteilung der Wohnfläche auf mehrere Etagen entsprechen allerdings nicht dem
Marktstandard von Gebäudeplänen, was den vergleichsweise günstigen Preis
erklärt. Das Gebäude weist blinde Seitenwände auf, was darauf hindeutet, dass
sich hier künftig eine Häuserzeile etablieren könnte.
Wohnen und arbeiten unter dem Brückenviadukt
Wie eine Stahlskulptur von Richard Serra präsentiert sich das Haus des Architekturbüros Archway Studios. Der als Wohn- und Arbeitshaus konzipierte Bau stellt mit der Aussenverkleidung aus oxidiertem Stahl einen Bezug her zum unmittelbar angrenzenden Eisenbahnviadukt aus viktorianischer Zeit. Licht strömt über ein Oberlicht sowie durch Glasfassaden und Schlitze in der konkaven Stahlhaut ins Innere. Um eine dünne, robuste Gebäudehülle zu schaffen, wurde auf Techniken aus dem Flugzeugbau zurückgegriffen. Dem Grundriss der Parzelle folgend, weitet sich das Gebäude in der Mitte aus, wobei auch ein Viaduktbogen einbezogen werden konnte.
Quelle: Sam Oberter
Auf der linken und rechten Seite des Tiny Towers in Philadelphia könnte sich in den nächsten Jahren eine Häuserzeile etablieren, wo Wohnraum noch bezahlbar ist.
Auch in London stellt sich das Problem steigender
Immobilienpreise, weshalb sich viele Bewohnerinnen und Bewohner beim Wohnraum einschränken.
Die Behörden haben reagierten und die Planungs- und Bauvorschriften geändert,
was die Nutzung des Grundstücks erst ermöglichte.
Um in Tokio zwischen zwei älteren Gebäuden eine Lücke nutzen
zu können, entschieden sich Yuua Architects & Associates für einen
Stahlskelettbau. Der Baugrund ist knapp zwei Meter breit. Das entspricht nach
japanischem Baugesetz gerade noch der erlaubten minimalen Grundfläche von
Gebäuden. Dieses ist erreicht, wenn eine Person mit ausgestreckten Armen beide
inneren Seitenwände berühren kann. Es handelt sich um das Extrembeispiel eines
Bauprojekts für Wohn- und Arbeitsräume auf kleinster Fläche.
Nachverdichtung im Kleinen
Bei der Nutzung von kleinen Grundstücke stellen sich unterschiedlichste Herausforderungen. Oft sind die Interventionen durch formale Entsprechungen oder der Wahl traditioneller Materialien rücksichtsvoll in die Umgebung eingepasst. Als augenfällige Beispiele der Nachverdichtung wertet mitunter die Architektur die Umgebung auf. Vorgestellt werden im Buch neben den Tiny Towers auch Konzepte von Hochhäusern, die Lösungsansätze für Wohnräume in Zeiten des Klimawandels bieten. Mit ästhetisch ansprechender Architektur werden Lücken im Gebäudebestand geschlossen. Manchmal entstehen architektonische Preziosen, die im Kleinen überzeugen und auf vertikal angeordneten Flächen viel Wohnqualität bieten. Städtebaulich deutet der Trend hin zum Vertical Living darauf hin, dass wir angesichts der Bevölkerungsentwicklung künftig noch näher werden zusammenrücken müssen.
Quelle: Taran Wilkhu
Die Gebäudehülle stellt den Bezug her zur unmittelbar angrenzenden Brücke aus der viktorianischen Zeit. Auch ein Bogen des Viadukts wird bei diesem Gebäude in London als Innenraum genutzt.