Reise nach Meyrin GE: Stadtteil jenseits der Piste
Meyrin ist eine eigenständige Gemeinde nordwestlich von Genf und gleichzeitig ein Aussenquartier der Rhonestadt. Sie ist weitaus mehr als ein «Depot», welche den Bevölkerungszuwachs der Grossregion absorbieren muss, und hat einen eigenen Charakter. Der ist nicht ohne touristischen Wert.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Meyrin liegt an einer langen, schnurgeraden Strasse, die seit dem 18. Jahrhundert Genf mit den Gemeinden entlang der Jurakette verbindet. Die Tramverbindung wurde 2009 eingeweiht und 2011 ausgebaut.
Inland-Städtereisende mit dem Ziel Meyrin und unterwegs mit der Bahn fahren im Ost-West-Intercity durch die Schweiz bis zur Endstation Genève-Aéroport. Der Zug vollführt am Schluss, hinter Genfs Hauptbahnhof Cornavin, einen ausladenden U-Turn nach rechts, durch Tunnels und eine beliebig wirkende Vorortslandschaft. Dann holpert er von Westen her zögerlich in die unterirdische, trotz netter Auffrischung etwas ermattet wirkende Haltestelle, ein Sackbahnhof. Die Fortsetzung der Reise führt hier für den Mikrotourismus wie für die kosmopolitisch orientierten Ankömmlinge quer durch Menschenmassen mit Rollkoffern.
Anschliessend beginnt die Suche nach einer begehbaren Route zurück nach Westen – auf welcher auch der Fussverkehr geduldet wird. Am besten folgt man eine Etage über den Gleisen der Passage mit Ankunftszonen und Verpflegungsstationen. Der lange Korridor führt schlussendlich ins Freie, in den Schatten eines Parkdecks und schliesslich unter den freien Himmel. Es ist lärmig, der Duft von abgebranntem Kerosin, Benzin und Dieseltreibstoff liegt in der Luft. Nach rund 15 Minuten Fussmarsch ist die Route de Meyrin erreicht. Die schnurgerade Strasse führt vom Quartier Servette neun Kilometer nach Nordwesten, bis sie auf eine mindere französische Magistrale entlang der Jurakette trifft. Die Strasse ist ebenfalls französisch, wie es bis 1815 auch Meyrin war, bevor der Wiener Kongress einige umliegende Dörfer von Genf relativ willkürlich der Schweiz zuschlug. Das Ortszentrum liegt direkt an dieser Strasse – auf einer Hügelkuppe, die der historischen Skyline des Dorfes bis heute Geltung verleiht.
In der Profilmitte der Route de Meyrin, die in der französisch-königlichen Cassini-Karte aus dem 18. Jahrhundert als Allee abgebildet ist, verlaufen zwei Tramlinien, die in den frühen 2000er-Jahren eröffnet wurden. Beide führen vorbei am westlichen Pistenende und hinein in die Gemeinde, die als das Stadtquartier jenseits des Flughafens wahrgenommen wird. Seine Bevölkerung hat sich zwischen 1950 und heute mehr als verzehnfacht, sie liegt aktuell bei etwas mehr als 26 000 Menschen. Die städtebauliche Entwicklung erfolgte stetig und liess nie nach. Die Welt dankte es Meyrin in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Auszeichnungen. Die geehrten Werke und Taten ergeben zusammengefasst einen nützlichen und ergiebigen kleinen Reiseführer.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der Science Gateway des Cern vom Renzo Piano Building Workshop ist vereint mit der Endstation der Tramlinie. Die Anlage wurde im Oktober 2023 eröffnet.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Die Schule des neuen Quartiers Les Vergers (Obstgärten) bietet neben der anmutigen, innovativen Architektur auch Obstbäume und Pflanzbeete.
Atom-Portal an der Grenze
Die Endstation der Tramlinie 18 ist auch ein Museum. Zwei aufgeständerte, weiss gestrichene Rohre fassen die Route de Meyrin wenige Meter vor der Landesgrenze ein. Sie sind verbunden über eine verglaste Passerelle, die quer über die Strasse verläuft und jenseits der Rohre zu weiteren, leicht wirkenden Baustrukturen führt. Sie sind wie Pianos Museum für die Fondation Beyeler in Riehen mit schwebenden Dächern überdeckt. Das Gesamte nennt sich «Science Gateway», ist kostenlos zugänglich und will der Allgemeinheit die Welt der kleinsten möglichen Teilchen näherbringen. Die im Oktober 2023 eingeweihte Anlage bildet ein Portal für Meyrin wie auch für Genf. Und vor allem signalisiert sie unübersehbar die Präsenz des Cern. Das Centre européen de recherche nucléaire (Europäische Organisation für Kernforschung) ist seit 1955 in Meyrin ansässig. Untersucht werden hier unter anderem Kollisionen und Beschleunigungen von Teilchen – grosse, lange oft unterirdisch verlaufende Rohrstränge gehören zur DNA der Organisation. Dies bildet das Museum aussen wie auch im Inneren auf eine spielerische Weise mit der gebotenen Zurückhaltung ab. Dafür wurde es vom amerikanischen «Time Magazine» dieses Jahr in die erlauchte Gemeinschaft der World’s Greatest Places aufgenommen. Der «Science Gateway» lädt ein zu einer Promenade architecturale, die immer auch interessante Ausblicke in die Umgebung gewährt. Beispielsweise kann man beim Blick zurück, entlang der Route de Meyrin, beobachten, wie landende Jets direkt ins Ortszentrum absinken, natürlich eine optische Täuschung, die der Topographie zu verdanken ist.
Zwischen dem «Science Gateway» und dem Ortszentrum befindet sich östlich der Route de Meyrin mit dem Écoquartier Les Vergers (Ökoquartier Obstgärten) die jüngste Ortserweiterung der Gemeinde. Sie erhielt eine neue Schule. Das Werk von Sylla Widmann Architectes und B+S ingénieurs conseils, beide aus Genf, wurde 2021 mit dem Schweizer Seismic Award ausgezeichnet, welche die Kombination von Gestaltung und Erdbebensicherheit würdigt. Die aus Grosspavillons bestehende Anlage setzt sich zusammen aus Holzbauten, die durch umlaufende Betonkränze stabilisiert werden. Das ungewöhnliche Konzept mit einem «Exoskelett» führte zu einer freundlichen, forumartigen Anlage. An ihrem Südrand wurden Obstbäume gepflanzt, die dem Quartiernamen Rechnung tragen, zwischen ihnen erstrecken sich zudem ausgedehnte Pflanzbeete, welche jungen Menschen die Mühen der Erzeugung von Nahrungsmitteln näherbringen.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der Jardin botanique alpin liegt zwar direkt an der Route de Meyrin, ist von dieser her aber nicht zugänglich. Er ist direkt den angrenzenden Wohnquartieren zugewandt, denen er auch dienen soll.
Oasen mit Immissionen
Einen Preis erhielt auch Meyrins Jardin botanique alpin, nämlich den Schulthess Gartenpreis des Schweizer Heimatschutzes im Jahr 2019. Der Alpine Garten, angelegt ab 1915 durch einen Textilhändler und seit 1960 im Besitz der Gemeinde, liegt ebenfalls direkt an der Route de Meyrin: am Ortseingang, neben der Quartierumfahrungsstrasse und dem Flyover der zweiten Strassenbahnlinie, die den östlichen Quartierteil erschliesst. Die diskreten Zugänge in den lauschigen Park sind nicht ganz einfach zu finden, sie orientieren sich zu den benachbarten Wohnquartieren im Norden und im Osten. Der Haupteingang ist durch eine Tankstelle getarnt und liegt bei der kleinen Villa des Parks, die sanft renoviert wurde und als Bildungs- und Gemeinschaftszentrum dient. Von hier können botanisch Interessierte oder Erholungssuchende in dichtes Grün eindringen. Lichtungen, kleine Wasserläufe und ein Seerosenteich ergänzen die ausgewählten, beschilderten alpinen Gewächse zu einem romantischen künstlichen Naturraum. Er schafft einen überraschenden und erfreulichen Kontrast zur rationalen, pragmatischen Stadtlandschaft in der Umgebung. Trotz dem allgegenwärtigen Flug- und Strassenlärm kann man hier zur Ruhe kommen, sich an der Pflanzenwelt erfreuen und die gut durchdachte, optischen Schutz gewährende Landschaftsarchitektur geniessen.
Der Höhepunkt des Preisreigens ereignete sich 2022. In jenem Jahr erhielt Meyrin den prestigeträchtigen Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes. Der Preis würdigt jedes Jahr einen Ort für seinen überlegten Umgang mit der bestehenden Bausubstanz. Im Falle von Meyrin ging es um das Nebeneinander zwischen der alten Siedlung und den neuen Quartieren, die ab den späten 1950er-Jahren auf der Basis eines Programms des Kantons Genf als Cité satellite die drängende Wohnungsnot minderten. Die grossen Wohnbauten, die als geschlossenes Quartier östlich der Route de Meyrin und in einiger Distanz zu ihr entstanden, entsprechen weitgehend der Ville radieuse, dem Konzept, das Le Corbusier vor genau 100 Jahren der Öffentlichkeit präsentierte: grosse Wohnhäuser, locker in einem orthogonalen System angeordnet in einer Parklandschaft, freie Erdgeschosse, weitgehende Trennung von Fuss- und Autoverkehr.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der östliche Rand der neuen Quartiere erinnert stark an die Ville radieuse von Le Corbusier.
Den Preis verdiente sich die Gemeinde zu einem wesentlichen Teil damit, dass dieses Konzept bis heute funktioniert und gepflegt wird. Als interessierter Tourist spaziert man gerne durch dieses Quartier; es ist ruhig, vielleicht etwas verschlafen, aber durchaus nicht ausgestorben. Bei einigen Bauten zeigen sich zwar die Spuren der Jahre, andere wurden aber sehr sorgfältig saniert, unter weitestmöglicher Wahrung des Ursprungszustandes. Trotzdem ist keine Musealisierung zu beklagen; das heute sehr multikulturelle Quartier ist gut gepflegt, die Begrünung zeigt stolz, dass sie im Erwachsenenalter angelangt ist, Wege und Rasen sind frei von Abfall, und abgesehen von einigen schüchternen, mit Filzstift hingekritzelten «Fuck» sind vom Reisenden auf dem Spaziergang auch keine graphischen Verunstaltungen auszumachen.
Meyrin zeigt auf eindrückliche Weise, welche Qualitäten das Leben in der Vorstadt besitzt und wie sich an diesen Qualitäten arbeiten lässt. Es ist sicher kein Nachteil, dass im Kanton Genf die Gemeindeautonomie jenseits der Kernstadt nie infrage gestellt wurde.