Ökosysteme: Wenn Arten den Kipp-Punkt hinauszögern
Brechen Ökosysteme zusammen, weil ihr Gleichgewicht gekippt ist, spielt die Evolution eine wichtige Rolle. Denn passen sich die betroffenen Arten schnell an, können sie den Zusammenbruch hinauszögern. Aber nicht nur. Das zeigen zwei kürzlich von Forschern der Eawag publizierte Studien.
Quelle: Gemeinfrei
Das Tausendblatt zählt zur Gattung der Süsswasserpflanze und zählt zu den Macrophyten. (Illustration aus Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz, um 1885)
Auch wenn immer mehr Nährstoffe in einen flachen See gelangen, kann er über Jahre klar bleiben. Ebenso können in ihm während Jahren Makrophyten oder vielmehr bewurzelte Wasserpflanzen gedeihen. Dennoch, die Makrophyten können plötzlich verschwinden und das Wasser kann sich eintrüben.
Ein solch abrupter Übergang in einen völlig anderen Zustand des Sees ist ein klassisches Beispiel für den Kipp-Punkt in einem Ökosystem: Kipp-Punkte kommen in zahlreichen, unterschiedlichsten von Ökosystemen vor, zum Beispiel in Korallenriffen, in Wüsten oder in Ozeanen. In Gewässer-Ökosystemen äussern sich Kipp-Punkte im Zusammenbruch von Fischpopulationen, mit verheerenden Auswirkungen auf die Menschen, weil sie etwa ihrem Lebensunterhalt mit Fischfang bestreiten.
Eine der grössten Herausforderungen liegt bei einem Kipp Punkt darin, dass sich ein einmal eingetretener Übergang nur sehr schwer rückgängig machen lässt – selbst wenn Stressfaktoren wie der Nährstoffeintrag in flache Seen, beseitigt werden können.
Wichtiger genetischer Variantenreichtum der Arten
Obwohl die Wissenschaft bereits untersucht hat, wie menschengemachte Umweltveränderungen zu evolutionären Veränderungen in Ökosystemen führen, wusste man bislang nicht, wie evolutionäre Prozesse die Kipp-Punkte von Ökosystemen beeinflussen. - Forscher der Eawag haben nun in zwei aktuellen Studien festgestellt, wie sich die Evolution auswirken kann.
Bei der einen Studie wurde die Annahme, dass Ökosysteme erst dann kippen, wenn bestimmte Punkte überschritten werden, hinterfragt: Sie zeigt, dass schnelle Umweltveränderungen, wie sie derzeit stattfinden, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs von Ökosystemen erhöhen. Und zwar bevor Kipppunkte überhaupt überschritten werden. Passen sich die Arten allerdings im Zuge der Evolution an die veränderten Bedingungen an, verzögert sich der Zusammenbruch.
Entscheidend ist, in welchem Tempo sich die Arten anpassen. Umso die schneller Anpassung vorangeht, umso höher die Chance, dass das Ökosystem nicht kippt. Eine schnelle Anpassung ist jedoch nur möglich, wenn der genetische Variantenreichtum der Arten entsprechend gross ist.
Gehen die Umweltveränderungen allerdings schneller vonstatten als die Anpassung der betroffenen Arten, dann lassen sich Zusammenbrüche von Ökosystemen nicht mehr vermeiden. Daher bedarf es dringend einer Verlangsamung der Umweltveränderungen, um dieses Risiko zu verringern.
Wenn sich das Ökosystemen wegen der Evolution verzögert erholt
Einmal aus dem Gleichgewicht geraten, kann sich ein Ökosystem nur verzögert erholen. Dies ist die Erkenntnis aus der zweiten Studie.
Wird zum Beispiel die Nährstoffkonzentration in einem flachen See auf ein sehr niedriges Niveau gesenkt, müsste der See rasch wieder klar werden, und die Makrophyten müssten wieder gedeihen. Dies ist jedoch möglicherweise nicht der Fall, wenn sich die Arten dank der Evolution an die Bedingungen im gekippten Ökosystem angepasst haben. In diesem Fall kann es lange dauern bis das Ökosystem nach Beseitigung der Stressfaktoren wieder in den Zustand vor dem Zusammenbruch gelangt.
Der Anpassungsprozess braucht Zeit. Das heisst, je länger das Ökosystem im gekippten Zustand verweilt, desto weiter schreitet die Anpassung voran. Um eine solche Anpassung an unerwünschte Bedingungen zu vermeiden, empfehlen die Studienautoren, entsprechende Sanierungsmassnahmen möglichst früh in Angriff zu nehmen. Im Falle des flachen Sees die Verringerung des Nährstoffeintrags. (mgt/mai)