10:41 KOMMUNAL

Nachhaltige Informatik lebt kurz

Teaserbild-Quelle: Patrick Aeschlimann

Mit der Informatik funktioniert alles anders. Das ist die Hauptursache für Fehlentscheide, langsames Vorwärtskommen beim E-Government und die fehlende Infrastruktur für die digitale Wirtschaft. Die Rechnung kommt in zehn oder fünfzehn Jahren.

Excel Papierkorb

Quelle: Patrick Aeschlimann

Nachhaltige Software ist aktuelle Software. Alte Programme gehören in den Papierkorb.

Es widerspricht unserer natürlichen Intuition, aber Software altert schlecht. Die Instandhaltungskosten wachsen, die Kontrolle über das System schwindet und zu lange genutzte Software wird zum Klotz am Bein. Nachhaltigkeit bedeutet hier nicht bewahren, sondern rechtzeitig wegwerfen. Auch sonst ist die Informatik ganz anders als das übrige Leben.

Automatisierung schafft Arbeit

Das fängt damit an, dass Informatik mehrheitlich Probleme löst, die wir früher gar nicht hatten und uns meist auch nicht vorstellen konnten. Damit hat sie uns in den letzten 60 Jahren viel mehr Arbeit aufgehalst, als sie uns abgenommen hat. Sie hat beispielsweise Teile der Buchhaltung automatisiert und trotzdem den Aufwand für Reporting, Controlling und Accounting erhöht, weil heute schlicht mehr möglich ist als früher.

Sie hat den Umgang mit Wissen vereinfacht und trotzdem daraus eine viel grössere Herausforderung gemacht, weil wir heute viel anspruchsvollere Werkzeuge besitzen. Diese werden immer besser, was von uns ein permanentes Lernen fordert.

Und sie hat uns körperliche Arbeit abgenommen und wird trotzdem immer mehr zum Instrument, das unsere Fitnessaktivitäten steuert, weil es uns die Selbstüberwachung ermöglicht.

Die Informatik ist also alles andere als unser Diener. Sie hat ein geradezu gestörtes Verhältnis zum Alignement, das heisst zum Unterordnen unter die Geschäftsziele. Viel lieber agiert sie als anarchischer Enabler. Schumpeters «kreative Zerstörung» ist ganz ihr Ding. In den letzten Jahren hat sie ganze Branchen aufgelöst und es spricht vieles dafür, dass dies mit erhöhter Geschwindigkeit weitergehen wird. Menschliche Arbeit und Unternehmertum werden durch Software ersetzt.

Unsichtbare Risiken entstehen

Gleichzeitig schafft die Informatik Probleme, die unsichtbar unter der Oberfläche schlummern. Sie ist nicht nur kompliziert, sondern auch komplex und chaotisch. Das Komplexe und Chaotische ist der Grund, warum zwei zentrale Begriffe der Informatik das Gegenteil von dem bedeuten, was wir im Alltag darunter verstehen. Transparenz heisst in der Informatik Verbergen von Information und zielt darauf ab, die Komplexität im Jetzt zu beherrschen.

Nachhaltigkeit heisst in der Informatik «Design for Redesign» oder «geringer Reengineering-Widerstand» und zielt darauf ab, die Komplexität auch in Zukunft zu beherrschen. Wenn dies scheitert und die Komplexität der Informatik-Systeme zu stark wächst, dann werden diese instabil und irgendwann heisst es «rien ne va plus».

Auch viele kaufmännische Grundprinzipien gelten nicht. Der Kunde ist aus verschiedensten Gründen ein schlechter König. So wissen Auftraggeber meist nicht was sie benötigen und verstehen die zentrale Rolle der Nutzererfahrung nicht. Experten aus den Anwendungsgebieten sehen viele Möglichkeiten nicht, welche die IT schafft, wenn sie als Enabler genutzt wird. Oder sie wollen sie nicht sehen, weil damit ein Teil ihres Wissens entwertet wird.

Ziemlich kontraintuitiv ist auch, dass zu wenige – ja, zu wenige – IT-Projekte scheitern. Die unnatürliche, fast hundertprozentige Erfolgsrate im Schweizer E-Government ist ein Riesenproblem, ebenso wie die gut gemeinten, aber unprofessionellen Massnahmen zur Beschleunigung der Projekte.

Durch und durch seltsam

Zur Liste der Merkwürdigkeiten zählen weiter das «inverse Dividieren» das «Zählverbot» und das «Hohelied des Silodenkens». Mehr Projektmitarbeiter verlängern die Projektdauer oft stark, statt sie (dividierend) zu verkürzen. Die Projektdauer auf der Basis des Arbeitsplans (die einzelnen Aufwandsschätzungen addierend) zu schätzen, ist oft grober Unfug.

Und obwohl fast jeder Boulevardmedien-Leser heutzutage weiss, dass Silos in der IT ein Riesenproblem sind, sind Nicht-Silos noch schlechter: Wer systemweite Lösungen baut, ohne die Teile (Silos) vorher optimiert zu haben, scheitert, weil er sich zu viel Komplexität aufhalst.

Die Informatik ist die Inkarnation des Widerspruchs gegen jede scheinbare Vernunft. Bei der Digitalisierung der Wirtschaft läuft sie zu Hochform auf. Digitaler Grenzabbau verlangt den Aufbau von Infrastruktur. Der «digitale Binnenmarkt» ist ein Konstrukt ohne Grenzen, das Aussengrenzen schafft, die es vorher nicht gab und langfristig vermutlich vor allem geopolitische Bedeutung haben wird.

Derzeit entsteht zudem eine Art «Digital-Sozialismus», der den Staat der Wirtschaft übergeben will. Und es zeichnet sich ab, dass die digitale Finanzwirtschaft uns lehren wird, die alten Banken zu lieben.

Wer all das nicht versteht, der muss sich keine Sorgen machen, denn die Rechnung für falsche Entscheide wird in vielen Fällen erst in zehn oder fünfzehn Jahren präsentiert werden. Um einen Vorgeschmack darauf zu bekommen, kann man sich ausmalen, was die heutigen Leistungsbilanz-Ungleichgewichte mit einer Welt anstellen würden, in der es nur mehr Cyberwährungen gibt.

Kreative Zerstörung

Was bedeutet das für das Schweizer EGovernment? Wir sollten auf «Design-for-Redesign» setzten, das heisst auf die kostengünstige Austauschbarkeit von Standards, Funktionen, Software und Technologien. Gerade Gemeinden sollten sich lösen von der Vorstellung, Technologien möglichst lange zu nutzen, weil dies kosteneffizient scheint. In Wirklichkeit ist es nämlich extrem teuer. Zudem sollten wir einen Broker bauen, der es Gemeinden ermöglicht, per Plug-and-Play E-Government-Dienste in der Cloud zusammenzustellen.

Fachexpertise und Organisationszusammenarbeit sollten wir durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und von Plattformen automatisieren. Und wir sollten Abstand nehmen von erzwungener Prozessstandardisierung und Zentralisierungswahn, ausgenommen im Fall von harmonisierten und integrierten zentralen Registern, die aber dezentral verwaltet werden.

Wichtig ist auch, im E-Government von staatlicher Seite den Aufbau der Infrastruktur für die digitale Wirtschaft zu gestalten, denn hier geht es um kreative Zerstörung und nicht um die unsichtbare Hand des Markts in einer statischen Welt. Diese kreative Zerstörung benötigt Förderung und Regeln, damit sie erstens stattfindet und zweitens dem Gemeinwohl nützt.

Für Gemeinden sind das nur zum Teil erfreuliche Perspektiven. Für den Schweizer E-Government-Broker fehlt der Wille der Bundesverwaltung und für viele Innovationen braucht es viel Digitalisierungswissen, dessen Aufbau teuer ist.

Mindestens von ihrem Kanton könnten und sollten Gemeinden deshalb verlangen, dass er sie bei der Vernetzung und dem Wissensaustausch unterstützt und dass er Fachexpertise im Bereich IT und Digitalisierung aufbaut, die er auch ihnen zur Verfügung stellt.

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