11:09 KOMMUNAL

Marlies Näf-Hofmann: «Die Politik hält mich jung»

Teaserbild-Quelle: Nadine Siegle

Nach 20 Jahren im Thurgauer Kantonsrat hat Marlies Näf-Hofmann, die älteste amtierende Politikerin der Schweiz, vergangenes Jahr im stattlichen Alter von 90 Jahren ihr Comeback im Arboner Stadtparlament gegeben. Mit dem Kommunalmagazin sprach die Abtreibungs- und Sterbehilfegegnerin über politische Niederlagen, Wertezerfall und ihren unerbittlichen Kampf für die Palliativpflege.

Marlies Näf-Hofmann am Schreibstisch in ihrem Haus in Arbon TG

Quelle: Nadine Siegle

Ausruhen im Alter? Das kommt für Marlies Näf-Hofmann gar nicht in Frage.

Mit 91 Jahren auf dem Buckel ist sie die älteste amtierende Politikerin der Schweiz; ans Aufhören denkt sie aber noch lange nicht: Marlies Näf-Hofmann (CVP) ist Mit­te 2017 gerade erst ins Arboner Stadt­parlament nachgerutscht. Und wenn es nach ihr geht, wird sie dort noch eine Weile bleiben. Denn obwohl sie heute mit gewissen Anliegen etwas auf verlo­renem Posten zu kämpfen scheint, will die Arbonerin für das einstehen, was ihr schon immer am Herzen lag: «Für den Schutz des Lebens, von der Empfäng­nis bis zum Sterbeprozess.»

Die ehrgeizige Juristin

In ihrem schon sehr langen Leben hat Näf-Hofmann vieles erreicht. Doch sie musste auch einige Niederlagen einste­cken. Trifft man die fitte 91-Jährige heute, merkt man aber schnell, dass sie sich durch Misserfolge nicht unterkriegen lässt. Rückschläge scheinen sie vielmehr anzuspornen.

Als Kind wollte Näf-Hofmann eigentlich Sängerin werden. Hätte es damit geklappt, wäre es 80 Jahre später höchstwahrscheinlich nicht zum Kommunalmagazin-Interview in ihrem Elternhaus in Arbon gekommen – wo jene Träume erstmals entstanden sind. Stattdessen entschied sich die Thurgau­erin für den Beruf als Anwältin und Rich­terin. Und so fand sie schliesslich auch ihre grösste Leidenschaft, die Politik, bei der es für sie kein Rentenalter gibt.

Aber ganz so schnell ging das dann doch nicht: Nachdem die Thurgauerin in den 40er-Jahren als eine von wenigen Frauen das Jus-Studium absolviert und sich danach sowohl den Anwalts- als auch den Doktortitel erarbeitet hatte, wollte sie eigentlich Richterin werden. Vor dem Frauenstimmrecht – und eben auch -wahlrecht – war das aber schlicht unmöglich. So führte Näf-Hofmann ge­meinsam mit ihrem Ehemann, der vor zehn Jahren verstorben ist, eine Anwaltskanzlei.

Der Weg in die Politik

Als das Frauenstimmrecht die Schweiz mit etwas Verspätung schliesslich doch noch erreichte, zahlte sich die Geduld der Anwältin aus: 1972 wurde sie als erste Frau ins Zürcher Bezirksgericht ge­wählt, als Parteimitglied der Schweizeri­schen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpar­tei (BGB), einer Vorläuferpartei der SVP. Und auch ihre politische Karriere kam in dieser Zeit ins Rollen.

Den Anstoss dazu gab der Staats- und Völkerrechtler Wer­ner Kägi, bei dem ihr Ehemann dokto­rierte: «Er war ein so begeisterter Mensch. Wie er sich für den Rechtsstaat und die Menschenwürde einsetzte, hat mich schwer beeindruckt», erinnert sich die 91-Jährige mit einem Lächeln, als wäre es erst gestern gewesen. Heute nennt sie diese Begegnung ein «Schlüsselerlebnis».

Der überzeugte Kampf für das Leben und die Menschenwürde hat Näf-Hof­mann gepackt. So fand sie in der eidge­nössischen Volksinitiative «Recht auf Leben», die im Zusammenhang mit der Diskussion um die Straflosigkeit von Abtreibungen entstanden ist, ihr «erstes grosses Engagement». Vom Misserfolg – 1985 wurde die Initiative von Volk und Ständen an der Urne klar verworfen – liess sich die Thurgauerin jedoch nicht einschüchtern.

Einmal von der Politik angefressen, liess sie sich nicht mehr stoppen, schliesslich waren viele ihrer Anliegen gerade brandaktuell. «Da stand etwa die Fristenregelung zur Debatte und später die Stammzellenforschung sowie die Präimplantationsdiagnostik.» Sie sei viel unterwegs gewesen, überall mit dabei, so Näf-Hofmann, die bis heute Präsidentin der Sektion Zürich der Vereinigung «Ja zum Leben» ist.

Der Kampf für die Sterbenden

Lange engagierte sich Näf-Hofmann ohne politisches Mandat. Erst Jahre nach­dem sie am Bezirksgericht Zürich auf­hörte und zurück ins frühere Elternhaus am Bodensee zog, war die Zeit gekom­men: 1992 wurde sie für die SVP in den Grossen Rat des Kantons Thurgau ge­wählt – und da blieb sie auch die nächs­ten 20 Jahre.

Mit etlichen politischen Vorstössen machte sie von sich reden. «Ich konnte im Kantonsrat alle meine Anliegen vertreten. Ich setzte mich etwa für alleinerziehende Mütter ein, kämpfte gegen Armut oder für die Wahrung der Gewissensentscheide von Ärzten und Pflegern, nicht an Abtreibungen mitzu­wirken.» Sie ging gegen die Sterbehilfe und entsprechende Organisationen vor und setzte sich jahrelang für die Pallia­tivpflege ein.

Unterstützt wurde sie da­bei vermehrt durch ihren Sohn, Andreas Näf, der angewandte Ethik studiert hatte. Er sei ihr «wichtigster Begleiter» geworden. Gemeinsam schrieben sie ein Buch zur «Palliative Care» und über die damit verbundenen ethischen und recht­lichen Fragen.

Marlies Näf-Hofmann und ihr Sohn Andreas Näf im Büro des Elternhauses in Arbon TG

Quelle: Nadine Siegle

Zu zweit geht es besser: Marlies Näf-Hofmann und ihr Sohn Andreas Näf setzen sich gemeinsam für die Palliativpflege ein.

In dieser Thematik konnte Marlies Näf-Hofmann einer ihrer grössten Erfol­ge verbuchen: den Rechtsanspruch auf Palliativpflege im Kanton Thurgau. Ob­wohl sich der Grosse Rat Mitte der 2000er-Jahre gegen einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Palliative Care ausgesprochen hatte, lancierte Näf-Hofmann 2008 die Volksinitiative «Ja zu mehr Lebensqualität – ja zur Palliative Care».

«Ich habe 10 Jahre lang im Kantonsrat dafür gekämpft und musste mir immer wieder vorhalten lassen, dass die Palliativpflege Millionen kosten werde», so Näf-Hofmann. Doch für die Anwältin war klar: «Die Palliative Care ist eine umfassende Alternative zur Sterbe­hilfe. Der heutige Stand der Medizin bietet viele Möglichkeiten zur Verringerung des Leids und Linderung der Schmerzen im letzten Abschnitt.» Zudem werde die Medizin mit den Computern und modernen Apparaten auch stets unpersönlicher. Die Palliativpflege, die den Patienten und seine Lebensqualität ins Zentrum rückt, stelle sich dem entgegen. Eine solche Alternative müsse den Patienten geboten werden.

Nach Einreichung der Volksinitiative kam schliesslich auch der Thurgauer Grosse Rat zu diesem Schluss: Er nahm Näf-Hofmanns Initiative 2009 an, der Rechtsanspruch auf Palliativpflege wur­de ins kantonale Gesundheitsgesetz aufgenommen. Daraus entstand ein kan­tonales Palliative-Care-Konzept, das wiederum zur Schaffung einer entspre­chenden Station im Kantonsspital Münsterlingen führte. «Es ist daraus eine grossartige Station mit acht bis zehn Betten und zwei Palliativärzten entstanden.» Heute schaut die 91-Jährige stolz auf diesen Moment zurück. Doch sie hat nicht vergessen: «Es war ein schrecklicher Kampf.»

Die Wende in den 80ern

Nicht in allen Bereichen konnte Näf-Hofmann solche Erfolge verzeichnen. In vielen Anliegen, für die sie kämpfte – und weiterhin kämpft –, teilen Politik und Ge­sellschaft die Meinung der Thurgauerin nicht. So entwickelten sich einige The­men in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerade zu ihren Gunsten: Die Fris­tenlösung ist längst im Gesetz verankert, die Präimplantationsdiagnostik wurde angenommen und Sterbehilfeorganisationen boomen mehr denn je. «Auch auf nationaler Ebene gibt es immer weniger Vertreter meiner Interessen.» Die Themen hätten sich nun mal verändert, so Näf-Hofmann.

In Sachen Schutz des Lebens seien die Meinungen in den 1980er-Jahren «gekippt», bedauert sie. «Es gab einen Wertezerfall, nur noch wenige haben heute etwas mit dem Glauben am Hut und die Kirchen schrumpfen», so die christlich aufgewachsene Thurgauerin. Besonders schlimm sei es seit der Jahr­tausendwende. «Insbesondere die Ster­behilfeorganisationen gewinnen immer mehr Mitglieder.» Auch wenn sie lange gehofft habe, das Ruder noch herumreissen zu können, sei dies nie gelungen.

Und trotzdem: Aufzugeben war für die Arbonerin nie eine Option. «Natürlich war es schade, wenn wir Abstimmungen verloren haben. Doch gleichzeitig hat mich das gestärkt.» Sie habe stets gedacht: «Irgendjemand muss ja für diese Dinge kämpfen.»

Heute habe sie die gesellschaftliche Entwicklung zwar akzeptiert, betont die 91-Jährige. Sie ist aber überzeugt, dass es weiterhin viele Stimmbürger gibt, die ihre Anliegen teilen, auch wenn sie heute unter den Exponenten praktisch allein dasteht.

Das Jahr der Abschiede

Gegen den Strom – oder nur schon gegen die eigene Partei – zu schwimmen, ist anstrengend. Das spürte Marlies Näf-Hofmann. Sie eckte an, das wusste sie. «Ich bekam über die Jahre immer weni­ger Stimmen von der SVP, dafür vermehrt von anderen Parteien.» Vor allem mit sozialen Anliegen stiess sie in der Partei nicht gerade auf offene Ohren. Die Angst vor hohen Kosten habe stets überwogen.

«Ich dachte aber immer: ‹Wieso soll ich die Partei wechseln, wenn es ja irgend­wie funktioniert?› Immerhin wurde ich ja mehrmals wiedergewählt.» Doch 2012 war Schluss: Nach 20 Jahren im Grossen Rat schaffte die damals 85-Jährige die Wiederwahl nicht mehr. Kurz darauf trat sie «wegen parteiinterner Schwierig-keiten» nach 50 Jahren Mitgliedschaft aus der SVP aus. Im Detail möchte sich Näf-Hofmann heute nicht mehr zu die­sen Auseinandersetzungen äussern, diese gehörten der Vergangenheit an.

Viel lieber konzentriert sich die Politikerin auf die Zukunft. Dass sie damals bereits 86 Jahre alt war, war für Näf-Hofmann aber alles andere als ein Grund, sich aus der Politik zurückzuzie­hen. Nach einem kurzen Abstecher zu den Grünliberalen, die nur wenig von Näf-Hofmanns Anliegen wissen wollten – «da hatte ich nichts zu husten» –, enga­gierte sie sich als Parteilose und ohne Mandat weiter für ihre Themen.

Das Comeback mit 90 Jahren

Lange dauerte es allerdings nicht, bis die Politikerin für eine weitere Kandidatur angefragt wurde – dieses Mal für das Stadtparlament ihrer Heimatstadt Arbon, die rund 14 200 Einwohner zählt. «Ich wurde von einem politischen Kollegen motiviert, mich für die Wahlen 2015 auf die Wahlliste der CVP setzen zu lassen», so Näf-Hofmann. Zwar hätten sowohl die fehlende Parteimitgliedschaft als auch ihr Alter eher gegen einen Wahlerfolg gesprochen, sie habe aber den­noch die Hoffnung nicht aufgegeben.

Doch wie vermutet, reichte es bei den Wahlen nicht für einen Einzug ins Parlament. Mit dem Resultat war Näf-Hofmann aber zufrieden. Und aus der Ruhe liess sich die lebenserfahrene Arbonerin von so etwas natürlich nicht bringen – fast so als hätte sie gespürt, dass ihr Comeback schon noch kommen würde.

Und Mitte 2017 war es dann so­weit: Nach mehreren Rücktritten rutsch­te die mittlerweile 90-jährige Politikerin ins Stadtparlament nach und entschied sich auch gleich dafür, der CVP beizutreten. «Die CVP hätte schon früher zu mir gepasst, bis sie das ‹C› im Namen ver­loren hat. Doch eigentlich sind meine Anliegen Ur-Themen der CVP.»

Mit 90 Jahren also das erste kommunale Mandat – Marlies Näf-Hofmanns politischer Werdegang ist nicht gerade Standard. Das scheint ihr aber ziemlich egal zu sein: «Das ist gar kein Problem. Durch meine Erfahrungen aus dem Grossen Rat wusste ich schon von der ersten parlamentarischen Sitzung an, wie die Abläufe funktionieren, und konnte mich sofort einbringen.»

Sie sei zu Beginn von den jungen Parlamentariern zwar teilweise etwas belächelt worden, das habe sich allerdings schnell gelegt. «Ich glaube, die meisten haben erkannt, wie wichtig mir die Sache ist. Sie denken vermutlich ‹Dann lassen wir die halt machen›.» Insgesamt ist Näf-Hofmann ih­ren Politkollegen und auch der Presse gegenüber sehr positiv eingestellt. Sie sei in ihrer ganzen Laufbahn immer fair behandelt worden. «Ich bin ja auch eine Anständige», sagt sie lachend.

Die Stimme der Alten

Dass die Kommunalpolitik im Grunde genommen nicht der ideale Ort für die Arbonerin ist, kann sie nur schwer verbergen. Immerhin sind ihr kantonal geregelte Themen, etwa in der Gesundheitspolitik, ein grösseres Anliegen. «Es stimmt, dass mich die Lokalpolitik nicht gleich begeisterte. Der Einflussbereich in den Fragen, die mir wichtig sind, ist nun einmal viel kleiner. Doch es geht mir insgesamt um den Dienst am Men­schen», betont sie.

Natürlich bedauere sie es, wenn sie in der Medien von span­nenden Debatten im Kantonsrat lese, bei denen sie auch gerne mitgeredet hätte. «Ich freue mich aber auch, im kleinen Rahmen etwas bewirken zu können und mich hier für das Recht auf Leben und die Menschenwürde einzusetzen.» Und im Stadtparlament bedeutet das für sie ganz konkret: «Jetzt hört man die Stimme der Alten, die vorher stumm waren.»

Ob es um wichtige Taxi-Anbindungen oder um Sitzbänke beim Bahnhof Arbon geht, Näf-Hofmann weiss, worauf es besonders für ältere Menschen in einer Stadt ankommt. «Ich bin heute die Vertreterin der Alten im Parlament. Und die Jungen vertreten die Interessen der Jungen. Das ist gut so.» Selbstver­ständlich würden ihre politischen Anliegen mit fortschreitendem Alter auch immer persönlicher.

Die 91-Jährige gesteht: «Natürlich frage ich mich manchmal, wie lange ich das noch machen kann.» Heute sei jeder Tag ein Geschenk. Um körper­lich fit zu bleiben, geht sie regelmässig ins Fitnessstudio. Doch auch die Politik halte sie jung, davon ist sie überzeugt. «Mit dem politischen Engage­ment ist immer etwas los. Da hat der Kopf gar keine Zeit einzuschlafen», sagt sie lachend. Aufhören würde sie nur, wenn es das Schicksal so wolle. «Was soll ich denn sonst tun?»

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