07:50 KOMMUNAL

Häuser für ein Euro: Die Isola Madre wird wachgeküsst

Geschrieben von: Katrin Ambühl (ka)
Teaserbild-Quelle: Katrin Ambühl

Viele Häuser von Taranto, einem Küstenstädtchen in Apulien, leiden unter dem Zerfall. Um sie zu retten, wurden einige davon zum symbolischen Preis von einem Euro verkauft. Ein Spaziergang durch einen Ort, dessen Bauten wieder zum Leben erwachen.

Fassaden in Taranto

Quelle: Katrin Ambühl

Tuffstein, Stahl und Flora bilden gemeinsam ein Bild von morbider Ästhetik.

In Taranto weht nicht nur Meeresduft durch die engen Gassen, sondern auch ein Hauch von Geschichte. Tuffsteingebäude schmiegen sich dicht aneinander, viele davon einsturzgefährdet. Deshalb mussten sie mit Stahlstützen abgesichert werden. Es sind Geistergebäude, bei denen die alte Schönheit noch durchschimmert und die seit 2018 wieder zum Leben erweckt werden. 

Eine Bestandesaufnahme bei einem Stadtspaziergang durch die apulische Altstadt von Taranto, in der neben städtischen Sanierungsplänen seit 2020 auch private Bauprojekte gefördert werden; mit der Initiative 1-Euro-Häuser, die nun in der dritten Etappe ist.

Ponte Girevole di San Francesco di Paola

Isola Madre wird die Altstadt von Taranto auch genannt. Die «Mutterinsel» ist 34 Hektar gross und über zwei Brücken mit den neueren Stadtteilen verbunden. Die eine ist eine Drehbrücke, von der aus man die strategische Bedeutung dieser apulischen Stadt erfasst: Frachter und Militärschiffe ruhen wie Riesen vor der Insel, das stattliche Castello Aragonese markiert Stärke und Präsenz. 

Die Lage der Stadt im Golf von Taranto ist einzigartig: Sie liegt zwischen den beiden südlichen Ausläufern des stiefelförmigen Italiens: Im Osten Apulien, im Westen Kalabrien. Als wäre dies nicht genug, ist Taranto auch die Stadt der zwei Meere: Auf der einen Seite das Mittelmeer (Ionisches Meer), auf der anderen eine Lagune, die auch kleines Meer genannt wird und die wegen eines Flusszugangs ideale Bedingungen für die Muschelzucht bietet.

Blick auf Taranto

Quelle: Katrin Ambühl

Auf der Seite, in Richtung kleines Meer, überblickt man das Nordostufer der Altstadt.

Die militärische Bedeutung wird in der Altstadt ebenfalls sichtbar: Die Gassen sind teilweise so eng, dass kaum zwei Personen passieren können. Diese extreme Verdichtung hat einen speziellen Grund: Wenn früher Feinde in die Stadt einfielen, begossen die Bewohner diese von ihren Häusern in den engen Gassen mit kochendem Öl. Und umkämpft wurde die Siedlung immer und immer wieder, reichen die Anfänge von Taranto zurück auf das Jahr 2500 v.Chr.! 

Die Geschichte ist zu lang, um hier im Detail erzählt werden zu können, deshalb nur die wichtigsten Etappen. Es waren Geflohene aus Sparta, die sich 706 v.Chr. hier angesiedelt hatten. Das griechisch-römische Dorf wurde komplett zerstört mit der Eroberung der Sarazenen im Jahr 927. Sie bauten mit Hilfe von byzantinischen Architekten die Stadt neu auf und legten den Grundstein für die heutige Isola Madre. Die Spuren der diversen Einflüsse, allen voran der griechischen, sind heute noch zu sehen und spüren: So werden Besucher beim Betreten der Insel von den Überresten eines Dorischen Tempels mit Baujahr 6. Jahrhundert v.Chr. empfangen. Und der lokale Dialekt, das Tarandíne, ist gespickt von aus dem Griechischen stammenden Wörtern.

Via Duomo

Via Duomo in Taranto

Quelle: Katrin Ambühl

Die Via Duomo führt als Fussgängerachse quer durch die Insel. Eine Touristenzone, die von der Stadt grösstenteils schon saniert wurde.

Von der Drehbrücke her kommend, liegt linkerhand die Festung, geradeaus führt die Via Duomo der Länge nach durch die Insel. Auf dieser Achse wird klar, dass hier seit einigen Jahren kräftig renoviert wird. Das Problem dieser einst so stattlichen und immer wieder umkämpften Stadt war nämlich, dass sie irgendwann und spätestens im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung vernachlässigt und gänzlich ihrem Schicksal überlassen wurde. 

So galt Taranto bis in die 1980er-Jahre als besonders dreckiges wie gefährliches Pflaster, weil in der halb verfallenen Stadt die Abfallentsorgung lange gar nicht funktionierte und weil dort hauptsächlich Kriminelle und zweilichtige Menschen lebten.  Der langsame Aufstieg begann erst vor Kurzem mit Rinaldo Melucci. Er ist seit 2017 Bürgermeister von Taranto und hat eine Vision: die Sanierung der Isola Madre. «Wir hoffen, dass sich die Insel wieder mit Familien und produktiven Aktivitäten füllen wird», sagte er damals.

Um das Ziel zu erreichen, setzte er einerseits auf kommunale Bauprojekte und andererseits auf private Investoren. Bei letzteren griff er auf ein Konzept zurück, das in Sizilien seinen Anfang genommen hatte: die Initiative 1-Euro-Häuser. Heute ist sie bereits in der dritten Etappe (mehr dazu im letzten Kapitel). Beim Bummel durch die Via Duomo sind die Prioritäten für die von der Gemeinde unterstützten Bautätigkeiten deutlich: Kirchen, Universität und pompöse Palazzi sind fast alle frisch renoviert und herausgeputzt. Allen voran die wichtigste Kirche Tarantos, die Cattedrale di San Cataldo, bei der nur noch im Aussenbereich Bautätigkeiten im Gang sind. Imposant zeigt sich auch die Università degli Studi di Aldo Moro, die 1924 erbaut wurde, für lokale Verhältnisse also blutjung ist.

Der Charme dieser Stadt erschliesst sich in der Via Duomo mit seinen traditionellen Tuffsteingebäuden und ihren Läden im Erdgeschoss, die über Mittag mit schönen alten Holztüren verschlossen sind. Ein solches Ladenlokal beherbergt das kleine Privatmuseum Taranto com`era (Taranto, wie es war). Historische Fotografien aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Karten sowie Bilder mit noch älterem Datum und zahlreiche Publikationen zeigen, wie sich die antike Stadt verändert hat. Paolo zeigt mir alles, und zu jedem Dokument weiss er etwas zu erzählen. Zum Beispiel, dass Benito Mussolini in seinem Erneuerungswahn komplette historische Wohnviertel, die seiner Meinung nach nicht mehr der damaligen Zeit entsprachen, zerstörte und durch sperrige Wohnbauten ersetzten.

Via Garibaldi, Nordost-Viertel

Baufällige Höuser in Taranto

Quelle: Katrin Ambühl

Hier leben höchstens noch streunende Katzen und Pflanzen, die sich Raum verschaffen zwischen Häuserritzen und losen Steinen.

Solche Erneuerungsbauten liegen etwa am nordöstlichen Ufer gegen das kleine Meer, wo eine ausgedehnte Muschelfarm liegt und wo die Fischerei immer noch sehr präsent ist. Während die Gebäude an der Promenade eine einigermassen gute Figur machen, sind jene dahinter in den engen Gassen ein Bild der Tristesse. Der bauliche Verfall und die morbide Ästhetik von verlassenen, überwucherten Gebäuden wird buchstäblich gestützt von Stahlträgern. Sie umklammern viele Häuser mit sattem Griff und verhindern deren Einsturz.

Diverse Gassen werden quer mit Stahlgerüsten gestärkt, ein faszinierendes Bild voller Gegensätze zwischen Stein und Stahl, einstiger Baukunst und modernem Rettungsversuch. An einigen der desolaten Gebäude mit zugemauerten Fenstern und Stahlkorsett hängen grosse Poster, die einem den Hauskauf für 1 Euro schmackhaft machen. Im Mai 2023 begann die dritte Etappe der Häuserverlosung mit einer Führung für Interessierte.

Es sind nur drei Parzellen, die aber ganz bewusst ausgewählt wurden von der Gemeinde Taranto, erklärt Gianni Azzaro: «Wir bieten nur drei Lose von unterschiedlicher Grösse», so das Mitglied des Stadtrats für Kulturerbe. «Ein kleines, ein mittleres und ein grosses. So wollen wir potenzielle Eigentümer mit unterschiedlichen Bedürfnissen ansprechen.» Mit der grossen, 640 Quadratmeter umfassenden Parzelle, will die Stadt erreichen, dass nicht nur punktuell Gebäude restauriert werden, sondern gleich ein ganzer Stadtteil.

Interessenten müssen bei ihrem Angebot die Finanzierung belegen, einen Sanierungs- und Nutzungsplan vorlegen sowie einen Zeitplan für das Bauvorhaben einreichen. Weiter müssen bei der Renovation die Vorgaben der baulichen Denkmalpflege und die statischen Richtlinien berücksichtigt werden. Und welche Schwierigkeiten erwarten die neuen Hausbesitzer? «Die Hauptschwierigkeiten bei den Gebäudesanierungen ist die generelle Komplexität von Bauprojekten in historischen Zentren und die vielfältigen Probleme bei Sanierungen von Häusern in sehr schlechtem Gesamtzustand», sagt Gianni Azzaro.

Häuser an der Piazza Fontana

Quelle: Katrin Ambühl

Diese beiden Gebäude an der Piazza Fontana im Westviertel wurden bereits frisch renoviert

Bereits zeigen sich an manchen Stellen in der Altstadt die Früchte der 1-Euro-Häuser-Initiative: Schön renovierte und frisch verputzte Gebäude mit unverändertem Fassade strahlen neben älteren Exemplaren. In der ersten Verlosung, die im Januar 2021 abgeschlossen wurde, waren sieben Objekte ausgeschrieben worden und vier schliesslich verkauft. In der zweiten Verlosung von 1-Euro-Häusern mit Abschluss im November 2021 wurden neun Grundstücke ausgeschrieben und deren sieben verkauft. 

Gemäss Stadtverwaltung handelt es sich bei der Nutzung der Immobilien hauptsächlich um privaten Wohnraum. Die Fortschritte sind zwar klein, aber stetig. Und solange der Bürgermeister Rinaldo Melucci, für den die Sanierung der Altstatt von Taranto eine Herzensangelegenheit ist, noch am Ruder ist, wird der Isola Madre auch weiterhin Sorge getragen. Und ihr alter Glanz, den sie in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder hatte, wird hoffentlich noch deutlicher hervortreten.

Geschrieben von

Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

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