Geschichte der Elektrizität: Zürichs steter Strom aus Wasserkraft
Den Strom für die elektrische Beleuchtung der Stadt Zürich Ende des 19. Jahrhundert lieferte das Letten-Kraftwerk an der Limmat. Es war der Beginn einer langen Reihe von Kraftwerkprojekten. Umsiedlungen waren die Schattenseiten. Bis heute spielt die Wasserkraft bei der Stromproduktion eine zentrale Rolle.
Quelle: Heinrich-Wolf Bender, Baugeschichtliches Archiv Zürich
Das Kraftwerk im Wägital war bei seiner Inbetriebnahme 1926 eines der weltgrössten Speicherkraftwerke. Der Bau war der Auftakt zur intensivenWasserkraftnutzung in der Schweiz. Aufnahme: 1930.
Die moderne Beleuchtung in der Stadt Zürich warf ein Schlaglicht auf das kommende Zeitalter der Elektrizität. Der Bedarf nach Strom nahm rasch zu, denn ab 1893 schloss sich die Stadt mit elf Nachbargemeinden zur ersten Schweizer Grossstadt mit damals über 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern zusammen. Und aufgrund des technischen Fortschritts und der Industrialisierung konnte die Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu anderen Ländern ein sehr starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen. Die Technik ermöglichte die Erschliessung neuer Anwendungsfelder.
Auch die Erweiterung des Lettenwerks mit Dampfkrafttechnik wenige Jahre später konnte die Stromnachfrage bei weitem nicht decken. Der städtische Energieversorger EWZ evaluierte daher damals potenzielle Energiequellen in der näheren Umgebung. Strom liefern konnte schon ab 1904 das Aarekraftwerk Beznau im Kanton Aargau.
Laufkraftwerke dieser Art eignen sich in der Regel für Standorte mit einem sehr kleinen Gefälle und zur Deckung von Grundlasten, weil die Turbinen rund um die Uhr Strom produzieren, der entsprechend einer Nutzung zugeführt werden muss. Bei diesem Kraftwerkstyp kann die Produktion nur bedingt bedarfsgerecht ausgerichtet werden.
Die Suche nach neuen Ressourcen dehnte das EWZ daher auf die weitere Umgebung aus. Gemeinden in den Kantonen Schwyz, Glarus und Zug kamen als potenzielle Standorte für die Nutzung der Hydroenergie in Frage. Schliesslich fiel die Wahl zuerst auf Sils im Kanton Graubünden, der 1906 ein neues Wasserrechtsgesetz in Kraft gesetzt hatte, um die Entwicklung für die Wasserkraftnutzung in geordnete Bahnen zu lenken. Zuvor machten Konzessionsjäger mit möglichen Standortgemeinden für Wasserkraftwerke ihren Reibach.
Bauvorhaben «gewagte Spekulation»
Die Zürcher Bevölkerung stimmte einem Kredit für den Bau des Albula-Kraftwerks bei Sils zu. Den Gegnern, die das Bauvorhaben als «gewagte Spekulation» bezeichneten, war die für damalige Verhältnisse horrende Summe von 11 Millionen Franken ein Dorn im Auge. Der Strom musste zudem über eine 140 Kilometer lange Hochspannungsleitung vom Kraftwerk nach Zürich transportiert werden.
1906 erfolgte der Startschuss für den Bau des Albulawerks und der Leitung, die bereits 1909 in Betrieb genommen werden konnten. Auf der Baustelle waren vor allem Arbeiter aus Norditalien beschäftigt, welche die Talschaft willkommen hiess, wie das Begleitbuch zur Ausstellung «Elektrizität und keine Ende» im Zürcher Stadtarchiv vermerkt, war die Gegend im Oberengadin doch von Abwanderung betroffen.
Quelle: Stadtarchiv Zürich, ewz-Bildarchiv
Beim Wehr des Albulawerks mussten die Arbeiten im Schutz von im Fluss versenkbaren und unter Luftdruck stehenden Betonglocken (Caissons) ausgeführt werden.
Der Bau des neuen Kraftwerks und der Übertragungsleitung waren zwar technische Meisterleistungen, doch brachte der Standort bei der Stromproduktion jahreszeitliche Schwankungen mit sich. Denn die Albula führt als Hochgebirgsfluss im Winter zehnmal weniger Wasser als im Sommer. Daher war Strom im Winter knapp. Mit dem Bau des Heidseewerks, das zwischen 1917 bis 1920 realisiert wurde, versuchte das EWZ die Stromproduktion zu stabilisieren. Langfristig die Stromversorgung auch im Winter sichern liess sich aber nur mit dem Bau eines grösseren Speicherkraftwerks.
Winterbedarf decken
Als möglichen Standort eines solchen Kraftwerks nahm das städtische Elektrizitätswerk erneut das Wägital im Kanton Schwyz ins Blickfeld, nachdem wegen der günstigen Topografie die Nutzung der Wasserkraft in dieser Region bereits 1896 in Betracht gezogen worden war. Felsformationen verengen das Tal an einer Stelle, was günstige Voraussetzungen bot für eine Staumauer. Für Druckleitungen konnte ein Gefälle von rund 400 Metern genutzt werden.
Doch mit dem Stausee war auch die Umsiedlung des Dorfs Innerthal verbunden. Aufgrund des Widerstands aus der Bevölkerung musste sich das Bundesgericht zweimal mit der Sache befassen. Schliesslich wurde mit den Grundstückeignern eine Entschädigung ausgehandelt. Ein Teil der Bevölkerung verliess das Tal, für die verbleibenden Familien wurde oberhalb des Stausees ein neues Dorf gebaut.
1922 begannen die Bauarbeiten für die 110 Meter hohe Gewichtsstaumauer samt einem unterhalb gelegenen Ausgleichsbecken. Der Bau des Kraftwerks im Wägital, bei Inbetriebnahme eines der weltweit grössten Speicherkraftwerke, war sozusagen der Startschuss für die gross angelegte Nutzbarmachung der Wasserkraft in der Schweiz.
Um den rasch wachsenden Strombedarf zu decken, wurden in der Folge grössere Kraftwerkprojekte und Netze für die Feinverteilung der Elektrizität geplant, welche jedoch die Finanzkraft von Versorgerunternehmen bald einmal strapazierte. Unternehmenszusammenschlüsse bildeten daher die Basis, dass solche Grossprojekte finanziell und technisch überhaupt gestemmt werden konnten. Die vom Elektrizitätswerk des Kantons Zürich (EKZ) und der EWZ gegründete «Wägitalkommission» führte schliesslich zum Zusammenschluss des EKZ mit den Nordostschweizerischen Kraftwerken, aus dem später die Axpo entstehen sollte.
Doch überstieg die Nachfrage nach Energie das Angebot, denn in der Zwischenkriegszeit hatte sich der Energieumsatz praktisch verfünffacht. Das Stromangebot markant ausweiten konnte die Stadt 1933 mit dem Limmatkraftwerk in Wettingen, es ist noch heute das grösste der drei EWZ-Flusskraftwerke an der Limmat.
Quelle: Stadtarchiv Zürich, ewz-Fotoarchiv
Beim Wehr des Albulawerks mussten die Arbeiten im Schutz von im Fluss versenkbaren und unter Luftdruck stehenden Betonglocken (Caissons) ausgeführt werden.
Gebirgskantone «sehr interessant»
Der Ausbau bedarfsgerechter Produktionskapazitäten und die Gewinnung von Winterstrom blieben nach dem zweiten Weltkrieg bestimmende Faktoren der städtischen Energiepolitik und der Wasserkraftnutzung. Für den Bau von Speicherkraftwerken fasste der Energieversorger höher gelegene Gebiete in den Alpenkantonen ins Auge. Das hatte vor allem physikalische Gründe. Denn die hydrologisch erzeugte Energie kann mit einer einfachen Formel bestimmt werden.
Die Energieausbeute entspricht demnach proportional dem Produkt aus Wassermenge mal Höhendifferenz. Im Gebirge ergeben sich grosse Fallhöhen, aber vergleichsweise eher kleine nutzbare Wassermengen. Bei den Strömen des Mittellands mit vielen Zuflüssen sind dagegen die Fallhöhen klein und die Fliessgeschwindigkeit des Wassers viel geringer als bei Druckwasserrohren von Speicherkraftwerken. Daher sind Gebirgskantone wie das Wallis und der Kanton Graubünden damals für die Stromerzeugung auch für die Stadt Zürich «sehr interessant».
Bald sollte der Kanton Graubünden bei der Stromproduktion der städtischen Werke eine Schlüsselrolle einnehmen. Als möglicher Standort kam in Mittelbünden der Talkessel bei der Gemeinde Marmorera in Frage. Mit der Eröffnung des Gotthardtunnels ging im Kanton Graubünden der über Jahrhunderte lukrative Transit von Gütern über die Pässe zurück.
Und mit dem Bau der Albulalinie der Rhätischen Bahn (RhB) verlor der Julierpass zusätzlich an Bedeutung, was zum Wegzug der Bevölkerung führte, sodass das Dorf damals noch 95-Seelen zählte. Schliesslich unterzeichnete die auf 1630 Metern gelegene Gemeinde 1948 einen Konzessionsvertrag.
Quelle: Stadtarchiv Zürich, ewz-Bildarchiv
Wegen der Topografie im Gebiet eines prähistorischen Bergsturzes entschieden sich die Planer für einen gewalzten Erddamm mit dichter Zentralzone. Der Marmorera-Staudamm ist 70 Meter hoch und 400 Meter breit.
Dorf versinkt in Fluten
Wegen der Topografie im Gebiet eines prähistorischen Bergsturzes entschieden sich die Planer für einen gewalzten Erddamm mit dichter Zentralzone, 70 Meter hoch und 400 Meter breit. 1954 wurde der Damm geschlossen und der See aufgestaut, die Gebäude des Dorfs versanken für immer in den Fluten. Es mag als eine bittere Ironie der Geschichte gelten, dass in der Schweiz der Siegeszug der Elektrizität in St. Moritz ihren Anfang nahm – heute Endziel vieler Touristen bei der Fahrt über den Julierpass.
Bereits 1879 liess Johannes Padrutt in seinem mondänen Hotel den Speisesaal mit elektrischem Licht beleuchten. Mit dem Bau des Grosskraftwerks wurde die Rolle des Kantons Graubünden als Zulieferer von elektrischer Energie für Zürichs urbane und industrielle Bedürfnisse immer wichtiger. Ein weiterer Meilenstein der städtischen Stromversorgung war der Bau des Kraftwerks Albigna im Bergell GR.
Die Bauarbeiten auf 2161 Metern begannen 1954 und waren logistisch äusserst anspruchsvoll. Für die 115 Meter hohe Gewichtsstaumauer mussten 200 000 Tonnen Zement und 1,5 Millionen Tonnen Kies und Sand bereitgestellt werden. Der Zement wurde mit der RhB aus Landquart bis St. Moritz transportiert, per Lastwagen über den Malojapass zu den Talstationen der Lastseilbahnen geführt.
Die Zuschlagsstoffe für den Beton wurden vor Ort aufbereitet. Gearbeitet wurde in Schichten praktisch rund um die Uhr und bei jeder Witterung. 58 Arbeitsstunden pro Woche waren die Regel. Der Stundenlohn der Arbeiter richtete sich nach den Zürcher Ansätzen und betrug zwischen zwei und drei Franken.
Quelle: Maschinenfabrik Oerlikon, MFO
Die Stromgewinnung war erst durch das Zusammenspiel verschiedener Industrien möglich. Zusammen mit den USA und Deutschland hat die Schweiz damals einen wichtigen Beitrag geleistet zur Einführung der neuen Technologien.
Zusammenspiel mehrerer Branchen
Als Land ohne natürliche Kohlevorkommen war die Schweiz gezwungen, die Möglichkeiten zur Mechanisierung ohne Dampfantrieb insbesondere im wirtschaftlich wichtigen Textilsektor auszuloten. Die Wasserkraft bot sich als Alternative an. Doch die Produktion der «weissen Kohle» erforderte die Kombination von Fähigkeiten verschiedener Branchen wie jene der Maschinenindustrie, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts allmählich aus der Mechanisierung des Textilhandwerks entwickelte. Basis der Wasserkraftnutzung war auch die Werkzeugmaschinenindustrie, die sich aus der maschinellen Fertigung von Uhren nach und nach als eigene Branche herausbildete.
Die Elektrotechnik als weiterer Treiber der zweiten «industriellen Revolution» wurde durch die Elektrifizierung der Eisenbahn massgeblich gefördert. Damit waren technisch die Voraussetzungen geschaffen für zahlreiche Innovationen bei der mechanischen Wasserkraftnutzung, der Stromerzeugung sowie der Elektromechanik und -metallurgie.
Beim Bau der grossen Kraftwerke und Staudämme kamen diese neuen Technologien gemeinsam zum Tragen, was zu einem Aufschwung der Elektrizitätswirtschaft führte. Zusammen mit Deutschland und den USA leistete die Schweiz damals einen bedeutenden Beitrag zur Einführung der neuen Technologien, insbesondere bei der Stromübertragung durch Hochspannungsleitungen und beim Bau elektromechanischer Anlagen.
Prioritäre Rekonzessionierung
In den kommenden Jahren haben Rekonzessionierungen der Wasserkraftanlagen für den städtischen Energieversorger Priorität, was jedoch ein hohes Investitionsvolumen erfordert. Der Erwerb neuer Konzessionen in der Schweiz ist allerdings beschränkt, da diese meist bereits vergeben sind. Produktionsszenarien des EWZ gehen daher von einer Weiterführung der bestehenden Anlagen aus. Das EWZ besitzt aktuell insgesamt 13 eigene Wasserkraftwerke. Das Ausbaupotenzial der Wasserkraft beurteilt der städtische Energieversorger grundsätzlich als nicht sehr gross.
Gemäss einer Studie des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbands (SWV) gibt es für Grosswasserkraftanlagen zwar ein relevantes Ausbaupotenzial, das jedoch aufgrund der momentan herrschenden Rahmenbedingungen wie den tiefen Strompreisen selbst unter optimistischen Annahmen nicht auf rentable Weise ausgeschöpft werden kann, wie es im Begleitband zur Ausstellung heisst. Allein für den Erhalt der bestehenden Anlagen ist laut SWV schweizweit jährlich mit Investitionen von 500 Millionen Franken zu rechnen.
Quelle: Stadtarchiv Zürich, ewz-Bildarchiv
Rund 200 000 Tonnen Zement mussten von Landquart zur Baustellte Albigna im Bergell geführt werden. Vor Ort wurden 1,5 Millionen Tonnen Kies und Sand aufbereitet.
Stromverbrauch konstant
Die Kraftwerkbauten waren Pionierleistungen, die unter teilweise extremen Bedingungen erbracht wurden. Technisch und wirtschaftlich stehen Versorgungsunternehmen von Städten und Kantonen wegen des Klimawandels in den nächsten Jahrzehnten vor ähnlich grossen Herausforderungen wie die Energieversorger im letzten und vorletzten Jahrhundert. In den kommenden Jahrzehnten gilt es, alternative Energiequellen zu erschliessen und den Verbrauch zu senken. Die Stadt Zürich könnte auch dieses Mal zu den Vorreitern gehören.
Seit 1990 ist in der Stadt der Jahresverbrauch an Energie um neun Prozent zurückgegangen, was vor allem auf die Reduktion der Heizenergie aufgrund besserer Isolationstechniken zurückzuführen ist. Auch der Strommix hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Der Anteil der Energie aus Atomkraft ist von 27 auf neun Prozent gesunken, während der Anteil der Wasserkraft von rund 60 Prozent auf 78 Prozent gewachsen ist. Trotz zunehmender Nachfrage ist der durchschnittliche Stromverbrauch der Stadt in dieser Zeit konstant geblieben, was auf eine effizientere Nutzung der elektrischen Energie schliessen lässt.
Mit Blick auf den Klimawandel wird der Umbau der Infrastruktur ein ebenso langer Weg wie der Bau der Infrastruktur für die Nutzung der Wasserkraft. Der Umbau wird wohl eher in kleinen Schritten begangen werden müssen als mit grossen Würfen wie dem Bau von Wasserkraftwerken. Für die Speicherung grosser Energiemengen und die Anpassung der Stromnetze an die stark schwankenden Energiemengen aus Sonnen- und Windkraftanlagen müssen Lösungen gefunden werden. Für eine nachhaltige Energiepolitik hat die Schweiz technisch und wirtschaftlich ähnlich gute Voraussetzungen wie beim Beginn der Wasserkraftnutzung.
Die Ausstellung des Stadtarchivs Zürich und das Begleitbuch vermitteln spannende Einblicke in die Technik- und Wasserbaugeschichte des schon damals wichtigsten Wirtschaftsraums der Schweiz. Umfangreiches Bildmaterial und historische Unterlagen, welche das EWZ dem Stadtarchiv übergeben hat, zeigen, wie der Ausbau der Energieversorgung in der Schweiz vonstattenging. Elektrische Energie ist heute in vielen Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken. Strom wird auch künftig fliessen. Ein Ende ist nicht in Sicht.