Ein Veto für Gemeinden?
Der Gemeindeverband will die Kommunen mit einer neuen Referendumsmöglichkeit auf Bundesebene stärken. 200 Gemeinden aus 15 Kantonen sollten ein Bundesgesetz vor das Volk bringen können. Experten sind skeptisch.
Quelle: Juso Schweiz (CC BY 2.0)
Im Januar 2016 wurde das Referendum gegen das Nachrichtendienstgesetz eingereicht. Geht es nach dem Gemeindeverband, könnten künftig nicht nur 50 000 Bürger, sondern auch 200 Gemeinden ein Bundesgesetz an die Urne bringen.
Das Problem ist bekannt: Die Gemeinden verlieren immer mehr ihrer Gestaltungs- und Innovationsspielräume und werden zunehmend zu Vollzugsorganen von Bund und Kantonen. Der Grossteil eines kommunalen Budgets ist fremdbestimmt, über gebundene Ausgaben gibt es keine Gemeindeautonomie. Die Aufgaben für die Gemeinden werden komplexer, die Kompetenzen verschieben sich aber immer mehr hin zu Bund und Kantonen.
Während die Gemeinden zu ihrem Kanton noch einen relativ direkten Draht haben und sich als Ultima Ratio in sieben Ständen (BL, GR, JU, LU, SO, TI und ZH) mittels Gemeindereferendum gegen unliebsame Beschlüsse wehren können, ist ihr Einfluss auf Bundesebene eher klein. Kantone haben den Ständerat und das Kantonsreferendum, die Gemeinden hingegen haben keine direkte Mitsprache in Bundesbern – es sei denn, ihre Vertreter sitzen, wie etwa der ehemalige Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät, gleich selbst im nationalen Parlament.
Zwar gibt es seit 1999 in der Bundesverfassung den «Gemeindeartikel», der den Bund verpflichtet, bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden zu beachten und die Gemeindeautonomie zu wahren. Doch allzu viel möchte Bundesbern mit den Gemeinden dann doch nicht am Hut haben: In seinen Richtlinien betreffend die Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden von 2002 hält der Bundesrat nämlich fest, dass «Direktkontakte» zwischen Bund und Gemeinden «Ausnahmecharakter» haben sollen.
Volk als Schiedsrichter
Seit Jahren fordern daher zumindest die grossen Städte immer wieder eine Repräsentation im Ständerat (siehe «Städte im Ständerat?»). Im letzten September meldete sich nun auch der Gemeindeverband (SGV) in dieser Thematik zu Wort. In Gestalt von Direktor Reto Lindegger und dem Projektleiter Miliz Andreas Müller fordert der Verband in der «Neuen Zürcher Zeitung» ein Gemeindereferendum auf Bundesebene.
Analog zum Kantonsreferendum, bei dem die Unterstützung von acht Ständen nötig ist, wollen sie, dass eine bestimmte Anzahl Gemeinden ebenfalls eine eidgenössische Abstimmung herbeiführen können sollte. Obwohl es laut Lindegger und Müller «sehr genau abzuwägen» gelte, wie viele Gemeindendem Einfluss von acht Kantonen entsprächen,
haben sie einen konkreten Vorschlag: 200 Gemeinden aus mindestens 15 Kantonen. Die Zahl entspricht knapp zehn Prozent der Gemeinden und somit in etwa dem durchschnittlichen Prozentsatz, welcher in Kantonen angewendet wird, die das Gemeindereferendum eingeführt haben.
Mit dem Gemeindereferendum könnte laut Lindegger und Müller bei einer Vorlage, durch welche die Gemeinden ihre Gestaltungsfreiheit bedroht sehen, das Volk als Schiedsrichter entscheiden, ob es dem Erlass des Bundesparlamentes zustimmt oder ob es den Gemeinden recht gibt. Die durch das Gemeindereferendum neu geschaffene (abwehrende) Einflussmöglichkeit kommunaler Organe in Angelegenheiten des Bundes wäre für die beiden SGV-Akteure eine sinnvolle Ergänzung des direktdemokratischen Systems und würde nicht zu einer Verschiebung der Kräfte im föderalen Gefüge zulasten der Kantone führen. Denn es gebe heute eine ganze Reihe von Bereichen, in denen ein direkter Durchgriff des Bundes auf die Gemeinden stattfinde.
Unterstützung erhält der SGV vom Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, der eine parlamentarische Initiative gleichen Inhalts eingereicht hat.
«Systemfremdes Element»
Die Reaktionen auf den Vorschlag des Gemeindeverbands liessen nicht lange auf sich warten. Der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser stellt in der «NZZ» fest, dass die Gemeinden zwar schon von der zunehmenden Zentralisierung betroffen sind, häufig Bundesgesetze einfach vollziehen und die daraus entstehenden Lasten tragen müssen. Doch würde es sich um ein systemfremdes Element handeln. «Was auf den ersten Blick nach Stärkung des Föderalismus aussieht, könnte diesem schaden, da die Kantone als Grundpfeiler des Föderalismus sozusagen übersprungen werden», so Glaser. «Beim Referendum geht es um ein Volksrecht, es sollte also vor allem dem Volk und damit den Stimmberechtigten offenstehen», findet er, und kann bereits dem «Behördenreferendum» genannten Gemeindereferendum auf Kantonsebene nicht viel abgewinnen.
«Wieso sollen die Gemeinden direkt auf den Bund einwirken, wenn sie doch eigentlich beim Kanton vorstellig werden müssten?», fragt der ehemalige Baselbieter FDP-Ständerat und emeritierte Professor für Staats- und Verwaltungsrecht René Rhinow in der «NZZ». Hinzu kommt: Schon das Kantonsreferendum habe sich bisher als nicht sehr wirkungsvoll erwiesen. Das vom Gemeindeverband vorgeschlagene Instrument hält Rhinow auch deshalb nicht für sinnvoll, weil bereits heute die Hürden für ein Volksreferendum mit 50 000 Unterschriften recht niedrig seien.
Auch Kurt Fluri, Präsident des Schweizerischen Städteverbandes, Stadtpräsident von Solothurn und FDP-Nationalrat, hat Bedenken: «Rein staatspolitisch dürften die Gemeinden nur in solchen Fällen das Referendum ergreifen, in denen sie direkt von der Bundesgesetzgebung betroffen sind. Und das ist doch nur selten der Fall.»
Prüfenswert findet die Idee hingegen die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP). Wenig überraschend fordert sie in der «NZZ» aber auch noch gleich eine spezielle «Städteklausel»: «Das Gemeindereferendum müsste deshalb zum Beispiel auch durch fünf Agglomerationskerngemeinden aus zwei Sprachregionen ergriffen werden können.» So ist es im Kanton Zürich organisiert, wo zwölf Gemeinden oder die beiden Städte Zürich und Winterthur zusammen das Referendum ergreifen können.
Keine Gnade bei Politologen
Skeptisch sind auch die Politikwissenschaftler. Andreas Ladner, Professor für Schweizerische Verwaltung und institutionelle Politik am Institut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP) an der Universität Lausanne, ist einer der renommiertesten Gemeindeforscher der Schweiz. Er attestiert dem Gemeindeverband eine richtige Diagnose: «Es ist tatsächlich so, dass die Gemeinden eine wichtige Rolle spielen und in der nationalen Politik teilweise etwas vernachlässigt werden. Unsere Studien belegen auch immer wieder, dass die Autonomie der Gemeinden zurückgeht.»
Ladner begrüsst, dass der SGV eine wichtige und notwendige Debatte anstösst. Mit der vorgeschlagenen Behandlungsmethode ist er jedoch nicht einverstanden: «Das Problem liegt in der Umsetzbarkeit des Anliegens. So wie es gefordert wird, sind die Hürden sehr tief. Es dürfte relativ einfach sein, 200 Kleinstgemeinden mit ein paar Hundert Einwohnern gegen eine Vorlage, die ihren Interessen zuwiderläuft, zu mobilisieren. Versucht man dasselbe in den 200 grössten Städten, so ist der Aufwand viel grösser, es stehen dann aber auch viel mehr Leute dahinter.»
Die Lösung sieht Ladner eher in der Weiterentwicklung bestehender Institutionen und Gefässe, etwa der neugeschaffenen Tripartiten Konferenz (TK), als in der Ausweitung des Referendumsrechts.
Oliver Dlabac, Senior Research Fellow und Leiter der Projektgruppe zur lokalen Demokratie am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), findet das Gemeindereferendum auf kantonaler Ebene eine sinnvolle Sache: «Bei Streitigkeiten bezüglich kantonaler Vorgaben und kommunaler, finanzieller sowie administrativer Belastung kann das kantonale Stimmvolk unkompliziert entscheiden, ob es die Kantonspolitik stützen oder den Status Quo für die Gemeinden erhalten möchte. Es geht dabei um das direkte Verhältnis zwischen Kanton und Gemeinden.»
Die Bundesgesetzgebung könne zwar ebenfalls Auswirkungen auf die Gemeinden haben, wobei dies üblicherweise von den Aushandlungsprozessen in den einzelnen Kantonen abhängig sei. «Insofern würde ein nationales Gemeindereferendum die föderalen Aushandlungsprozesse auf nationaler Ebene zusätzlich erschweren.» Dlabac stellt infrage, ob sich die Gesetzgebung angesichts der Schwierigkeiten bei der Ämterbesetzung und der zunehmenden Polarisierung in Agglomerationsräumen wirklich an den milizförmigen Strukturen in der kleinräumig organisierten Schweizer Gemeindelandschaft orientieren soll, und nicht etwa umgekehrt. «Aus meiner Sicht macht es Sinn, die Gemeinden auf nationaler Ebene stärker einzubinden, aber nicht zur Strukturerhaltung, sondern zur Mitgestaltung einer nationalen Politik, welche die Kantone unterstützt, Herausforderungen in städtischen und ländlichen Regionen zukunftsorientiert anzugehen», so Dlabac. Dabei sei es wichtig, in grösseren Massstäben zu denken, als in der traditionellen Einheit der Kleingemeinde.