Die Schweiz ist «stark unterversichert»
Jeden zweiten Tag zittert in der Schweiz irgendwo die Erde. Doch nicht einmal jedes zehnte dieser Minibeben ist für den Menschen spürbar. Ab Magnitude 5 werden Gebäude lokal leicht beschädigt, ab Magnitude 6 erreichen die Schäden ein regionales Ausmass. Dabei reissen selbst die Mauern solider Häuser ein und Schornsteine brechen von den Dächern. Ein Erdbeben der Magnitude 7 richtet überregionale Zerstörung an. Bei dieser Skala gilt: Nimmt die Magnitude um 1 zu, so ist die freigesetzte Energie 32 Mal grösser. Die geologische Geschichte der Schweiz zeigt, dass fast alle hundert Jahre ein Beben der Magnitude 6 stattgefunden hat. Im Wallis kam es seit dem 16. Jahrhundert gar zu 12 Beben mit Schaden. Stark beben könnte es überall in der Schweiz, doch am meisten gefährdet sind der Alpenraum und die Region Basel.
Zur Risikoeinschätzung wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, wo sich mit welchem Zeitintervall ein Beben von welcher Stärke ereignen kann. Entsprechend kommt es in der Schweiz durchschnittlich alle zehn Jahre zu einem Ereignis der Magnitude 5. Ein Erdbeben der Magnitude 6 wiederholt sich durchschnittlich alle 100 Jahre und eines der Magnitude 7 alle 1000 Jahre. In der Vergangenheit beispielsweise ereignete sich in Graz (A) 1991 ein Beben mit Magnitude 4,8, in Visp (VS) 1855 eines mit 6 und in Basel 1356 eines mit 6,5 bis 7. Am 6. April 2009 richtete das Erdbeben von L’Aquila mit Magnitude 6,3 in den Abruzzen (Italien) eine massive Zerstörung an. 308 Menschen kamen ums Leben, 1500 wurden verletzt und 65 000 mussten in Zelte und Notbaracken evakuiert werden. Insgesamt wurden 15 000 Gebäude beschädigt, darunter viele historisch wertvolle Bauten. Eine solche Katastrophe könnte sich alle hundert Jahre auch in der Schweiz ereignen. «Die Schweiz ist ein Land mit moderater Erdbebenaktivität», vergleichen Forscherinnen und Forscher des Schweizerischen Erdbebendienstes an der ETH Zürich mit andern Ländern. Falls jedoch die Erde stark bebt, könnte der Schaden in der vielerorts dicht besiedelten Schweiz sehr gross sein.
Bauliche Prävention
Das Erdbebenrisiko wird am besten durch bauliche Prävention vermindert. Erst aber 1989 sind entsprechende SIA-Normen zur Verbesserung der Sicherheit eingeführt worden, die 2003, in Angleichung an europäische Standards, verschärft wurden. Ihre Umsetzung ist jedoch nicht verbindlich. Untersuchungen des Schweizerischen Pools für Erdbebendeckung legen offen, dass bei über 70 Prozent der Bausubstanz keine Massnahmen ergriffen wurden, um bei Erdbeben den Schaden zu begrenzen. «Lediglich 10 Prozent aller heute bestehenden Bauwerke sind theoretisch nach modernen Erkenntnissen erdbebensicher», zieht diese Institution ein Fazit. Nur in den Kantonen Wallis, Basel-Stadt, Jura und Nidwalden werden die Baubewilligungen auch dahin geprüft, ob ein Erdbebenschutz geplant ist, weiss Yves Mondet, Geschäftsführer der Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen. Zusätzlich fehlen transparente Kontrollverfahren. Dabei würden Neubauten, bei kompetenter Wahl von Material und Bautechnik, höchstens ein Prozent teurer werden.
«Die Schweiz braucht einen Verfassungsartikel, der das erdbebensichere Bauen verbindlich regelt», betont entsprechend Hugo Bachmann, Stiftungsrat und emeritierter Professor der ETH Zürich. Ein Vorstoss in diese Richtung scheiterte 2003. Dies sei mit einer sehr aufwendigen staatlichen Kontrollfunktion verbunden, befürchtete das Parlament und überliess die Kompetenz dazu den Kantonen. Mittlerweile würden die meisten Kantone und der Bund ihre eigenen neuen Bauten erdbebensicher nach der Norm 2003 ausführen und ihre bestehenden Bauten auf allenfalls erforderliche Nachbesserungen überprüfen, begrüsst Bachmann. «Doch für die privaten Bauten, mit einem Anteil von 98 Prozent am Gebäudepark, fehlen immer noch gesetzliche Auflagen bei den Baubewilligungen und entsprechende Kontrollen.»
Das Risiko wird unterschätzt
Bei einem stärkeren Erdbeben wären in der Schweiz die Schäden nur zu einem kleinen Teil von der Versicherung gedeckt, sind sich die Experten einig. In den 19 Kantonen mit einer öffentlich-rechtlichen Gebäudeversicherung kann je nach Ausmass der Katastrophe der Schaden teilweise abgegolten werden. Über keine kantonale Versicherung und damit über keinen Schadensschutz verfügen aber die sieben Kantone Appenzell Innerrhoden, Genf, Obwalden, Uri, Schwyz, Tessin, Wallis sowie das Fürstentum Lichtenstein. Ausser denn ein Immobilienbesitzer hätte sich zu einer teureren privaten Versicherung entschlossen.
Privatversicherer und kantonale Gebäudeversicherer wünschen sich deshalb eine flächendeckende Absicherung gegen Erdbebenschäden. Denn nur eine finanzielle Vorsorge garantiert, dass nach einem Erdbeben auch rasch der Wiederaufbau in Angriff genommen werden kann. Der Geologe Markus Weidmann rechnete in seinem Buch «Erdbeben in der Schweiz» aus, dass unser Land auf 41 000 Quadratkilometern Fläche Bauten und Infrastruktur im Wert von weit über 3000 Milliarden Franken verfügt (Stand 2002). Zurzeit stehen aber nur drei Milliarden Franken aus den kantonalen Gebäudeversicherungen zur Verfügung, falls sich ein schweres Erdbeben ereignet. Eine Katastrophe wie das «Jahrtausendbeben Basel» würde heute gemäss Berechnungen des Rückversicherers Swiss RE zu Schäden von 50 bis 100 Milliarden Franken führen.
Der HEV kneift
«Ein Erdbebenrisiko besteht in der ganzen Schweiz, auch wenn regional unterschiedlich hoch. Je nach Zeitgeschehen aber wird dies wenig wahrgenommen», sagt Selma Frasa, Mediensprecherin des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV). Das Erdbeben in der japanischen Provinz Fukushima hat nun hellhörig gemacht. Diese Katastrophe veranschaulicht, dass selbst das wirtschaftlich starke Japan, sowohl finanziell als auch organisatorisch, nur mittelmässig darauf vorbereitet war. Dazu wieder der Vergleich zur Region Basel: Sie liegt in einer seismografisch aktiven Zone, ist für die ganze Schweiz wirtschaftlich bedeutungsvoll und weist eine entsprechend dichte Besiedlung auf. «Würde dort die Erde stark beben, wäre nicht nur Basel, sondern eine weite Region stark betroffen», vermutet Frasa.
Seit gut zehn Jahren haben unter anderem der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) und der Interkantonale Rückversicherungsverband (IRV) in Zusammenarbeit mit den kantonalen Gebäudeversicherern an einer obligatorischen Erdbebenversicherung gearbeitet. «Unser druckreifes Modell haben wir 2010 der Bundesverwaltung vorgelegt», so Frasa. Die Berechnungen gehen von einem 500-jährigen Ereignis und einer Versicherungssumme von 10 Milliarden Franken aus. Der Risikoprämiensatz für die flächendeckende Erdbebenversicherung ist auf 0,08 Promille je 1000 Franken Versicherungssumme festgelegt worden. Mit der Prämie wird eine Neuwertdeckung des Gebäudes erreicht, allerdings wird dem Hauseigentümer ein Selbstbehalt von 10 Prozent der Versicherungssumme zugemutet. Ein Beispiel: Für ein Einfamilienhaus mit einem Wert von 500 000 Franken muss eine Jahresprämie von 40 Franken gezahlt werden. Ist zusätzlich das Mobiliar mit 100 000 Franken versichert, kommen weitere 8 Franken hinzu.
Dieses Modell einer obligatorischen Erdbebenversicherung wurde vom Hauseigentümerverband Schweiz (HEV) als ungenügend kritisiert. Im Moment jedoch will der HEV zum politisch umstrittenen Geschäft nicht Stellung beziehen. Die Opposition des HEV enttäuschte den SVV. «Unser Versicherungsmodell ist praxistauglich und realitätsnah berechnet», betont deren Mediensprecherin Selma Frasa. Man könne nicht mehr Leistung für weniger Geld haben.
Die Hauptplayer müssen einen Konsens finden
«Die Schweiz ist im Fall einer Erdbebenkatastrophe stark unterversichert. Der Bund war am Modell der Versicherer deshalb stark interessiert», sagt Blaise Duvernay, Leiter der Koordinationsstelle des Bundes für Erdbebenvorsorge. Aufgrund des Interessenkonflikts hat er aber die Bestreben für eine obligatorische Erdbebenversicherung eingefroren. Die Kompetenz des Bundes beschränkt sich darauf, im Rahmen seiner Aufsichtsfunktion bei Privatversicherungen ein vorgeschlagenes Modell auf den Inhalt zu prüfen, so Duvernay. «Damit das Projekt einer obligatorischen Erdbebenversicherung weiterverfolgt werden kann, braucht es einen Konsens der Hauptakteure. Nur dann wird es politisch breit unterstützt.»
Um das tatsächliche Interesse an einer schweizweiten Versicherung zu klären, führten die kantonalen Gebäudeversicherungen bei den Hauseigentümern eine Umfrage durch. Mit ihr soll sondiert werden, wie der Erdbebenpool von drei Milliarden Franken künftig weiterentwickelt werden könnte. «Zusätzlich wollten wir in Erfahrung bringen, ob sich der Hausbesitzer bewusst ist, wie er im Fall eines Erdbebens entschädigt wird respektive was er selbst bezahlen muss», sagt Peter Schneider, Direktor Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF). Die Umfrageresultate liegen bereits vor. Die VKF will damit aber erst an die Öffentlichkeit treten, wenn sie die kantonalen Gebäudeversicherungen orientiert hat und die gemeinsame Strategie überarbeitet ist.
Schneider bedauert, dass das gemeinsam mit dem SVV ausgearbeitet Modell einer obligatorischen Erdbebenversicherung sistiert worden ist. «Wir mussten feststellen, dass es beim HEV keine Akzeptanz fand. Deshalb hat man es beerdigt.» Um aus der Sackgasse herauszukommen, braucht es seiner Ansicht nach ein «klares, politisch positives Signal des Bundes». «Das könnte ein parlamentarischer Vorstoss sein, der in einen Auftrag an die kantonalen Gebäudeversicherer und Privatversicherer mündet, gemeinsam eine zweite Fassung einer gemeinsamen Deckung bei Erdbebenschaden zu entwickeln.»