Die Reize des Überblickbaren
Die Schweiz besitzt keine wirkliche Grossstadt – an Kleinstädten hingegen herrscht kein Mangel. Wie steht es um ihre Zukunft? Bieten sie Rezepte für ein modernes Zusammenleben? Diesen Fragen ging in Glarus eine Veranstaltung des Glarner Architekturforums und der Zeitschrift Hochparterre nach.
Quelle: Kanton Glarus, Samuel Trümpy Photography (CC BY 2.0)
Glarus im Morgenlicht: Unter dem Glärnisch herrscht eine strenge Kleinstadt-Ordnung.
Von Manuel Petalozzi*
Stadt bedeutete früher eine befestigte Gemeinschaftssiedlung, meist mit verschiedenen mehr oder weniger gleichberechtigten Haushaltungen. Mauerringe und Wehranlagen bestimmten ihre Ausdehnung, die bauliche Dichte war daher meistens sehr hoch.
Moderne Städte kapseln sich nicht mehr ab von ihrer Umgebung und können sich ausdehnen. Das machen sie seit dem 19. Jahrhundert auf unterschiedliche Art. Einige Städte blieben winzig klein, Dörfer wiederum wuchsen zur Stadtgrösse heran und erlangten auch offiziell den Status Stadt.
Wenn man von einer Kleinstadt spricht, denkt man in der Regel an Gemeinden mit 5000 bis 20 000 Einwohnern. Erhöht man die obere Grenze auf 30 000, so zählt die Schweiz ungefähr 60 Kleinstädte, sagte Rahel Marti, stellvertretende Chefredaktorin bei Hochparterre, die den Anlass in Glarus moderierte.
Allerdings setzen sich diese aus verschiedensten Siedlungstypen zusammen. Es ist entsprechend schwierig, für sie einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dennoch gibt es, so Marti, besondere Herausforderungen, die für Kleinstädte spezifisch sind. Darüber wollte man diskutieren.
Glarus ist speziell
Der Kantonshauptort Glarus im gleichnamigen Gebirgskanton stand im Zentrum der Betrachtungen. Er bildet seit der radikalen Glarner Gemeindereform vor sechs Jahren mit den Nachbarorten Ennenda, Netstal und Riedern die neue politische Gemeinde Glarus mit rund 12 500 Einwohnern und etwa 7000 Arbeitsplätzen.
Als Kleinstadt hat Glarus eine besondere Geschichte. Nach einer Begrüssung durch Gemeindepräsident Christian Marti zeichnete sie Hansruedi Marti, Präsident des Glarner Architekturforums, nach.
Lange galt der Kantonshauptort als «Flecken». Gemäss Wikipedia ist das eine Ortschaft, bei welcher der Prozess der mittelalterlichen Stadtgründung haltmachte, die aber dennoch zentralörtliche Aufgaben annimmt, etwa die Durchführung von Märkten. Glarus hatte bereits einen Bahnhof und Fabriken, als im Mai 1861 ein Föhnsturm aus einem Hausbrand eine Feuersbrunst auslöste, welcher fast die gesamte Siedlung zum Opfer fiel. Wie durch ein Wunder gab es keine Tote zu beklagen.
Es schlug die Stunde der Architekten Johann Caspar Wolff und Bernhard Simon. Sie konzipierten den einstigen «Flecken» von Grund auf neu und schufen einen orthogonalen Strassenraster, der von der Hauptstrasse durchquert wird. Dieser Plan wurde weitgehend umgesetzt. Der Bauschutt der Brandruinen und ein abgetragener Hügel dienten dazu, das Terrain auszugleichen. Bis heute prägen die Strassenzüge mit ihren homogenen Bauzeilen und Blockrändern die Stadt.
Geschickt behandelten die Planer die Übergänge zum erhalten gebliebenen nördlichen Ortsteil mit dem Zaunplatz, auf dem die traditionelle Landsgemeinde stattfindet, und schufen so ein kompaktes, zusammenhängendes Ganzes. Die Hauptstrasse durchs Tal wurde ins Raster «eingefädelt» und an den grösseren Plätzen der neuen Stadt vorbeigeführt.
An dieser Ordnung und Dimensionierung hat sich seither nichts mehr verändert. Und das soll auch so bleiben. Gemäss Gemeindepräsident Marti bezeichnet das Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (Isos) Glarus als städtebauliches Ereignis. «Das ist für uns eine Verpflichtung.» Mit der 2016 von der Bevölkerung gutgeheissenen Nutzungsplanung, die eine neue Bauordnung und Zonenpläne umfasst, will die Gemeinde dieser gerecht werden.
Quelle: Simon-Wolff-Plan
Der Bebauungsplan nach dem Brand von 1861 wurde zu weiten Teilen umgesetzt und prägt Glarus bis heute.
Öffentlicher Raum ist wichtig
Im Zentrum von Glarus gelten nach wie vor die Pflichtbaulinien aus dem 19. Jahrhundert. Architekt Hansruedi Marti ist der Meinung, dass der bestehende Stadtkörper auch einer gewünschten Verdichtung gewachsen ist. Er beklagte aber auch strenge Auflagen seitens der Denkmalpflege, wie beispielsweise der Zwang, Fassaden zu erhalten, die zum Strassenraum orientiert sind. Massgebend für eine erfolgreiche Anpassung des Zentrums an aktuelle Bedürfnisse ist für ihn der Umgang mit dem öffentlichen Raum.
Eine grosse Herausforderung stellt diesbezüglich die Hauptstrasse dar. Sie ist die einzige Verbindung der Nachbargemeinde Glarus Süd mit der Autobahn A3 Zürich-Chur und wird täglich von rund 12 000 Fahrzeugen benutzt. Eine Ortsumfahrung sei in absehbarer Zukunft nicht geplant, war auf eine Frage aus dem Publikum zu erfahren.
Ebenfalls zu hören war, dass eine solche gar nicht unbedingt erwünscht ist, schliesslich bringt der Verkehr auch Kundschaft für den Handel und das Gewerbe im Zentrum und sorgt für dessen Belebung.
Identität in der Kleinstadt
Im Zusammenhang mit der Nutzungsplanung wurde auch die Visualisierung einer verkehrsberuhigten Hauptstrasse beim Rathausplatz von Glarus präsentiert. Die richtungsgetrennte, belags- und niveaumässig leicht vom Platz abgesetzte Fahrbahn überzeugt Hansruedi Marti jedoch nicht. Der richtige Umgang mit dem Autoverkehr sucht noch nach einer angemessenen Lösung.
Mit dem Leben im öffentlichen Raum von Glarus befassten sich auch die Referate von Daniel Bauer von der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung (VLP-Aspan) und von Kaspar Marti, Geschäftsführer von Glarus Service, der Standortvermarktung der Stadt. Die VLP-Aspan respektive deren «Netzwerk Altstadt» nahm mit ihrer Aussensicht eine Standortanalyse vor, zwecks Auslotung des Zukunftspotenzials. Die aktuelle Entwicklung weist auf einen Wandel von der Industrie- zur Wohnstadt hin.
Der Stadtraum müsse das bieten, was das Internet nicht könne: Identität und ein Konsum-, Erholungs- und Unterhaltungsangebot, welches diese Identität stützt. Deshalb brauche es eine gemeinsame Strategie unter einer klar definierten Führung. Einen Teil dieser Rolle nimmt Glarus Service ein.
Kaspar Marti stellte dar, wie der öffentliche Raum mit Veranstaltungen und temporären Installationen bespielt wird. Es sollen Anreize zum Flanieren geschaffen werden. Hauptknackpunkt ist – wenig überraschend – der motorisierte Verkehr, zusammen mit dem Parkplatzbedarf.
Zur baulichen Zukunft des Zentrums macht sich die Architekturabteilung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Gedanken. Beat Waeber, Architekt in der Kleinstadt Lachen SZ und Studienleiter Architektur an der ZHAW, präsentierte Studentenarbeiten, welche sich mit der Erneuerung und der Arrondierung der Bebauung gemäss dem Plan von Wolff und Simon auseinandersetzen.
Das Forschungsprojekt «Brand Spuren, ortsspezifisches Verdichten in Glarus» umfasst ein urbanistisches Vokabular. Es setzt sich nicht nur mit den Dimensionen und der Gestalt möglicher Neubauten auseinander, sondern auch mit der aktuellen Interpretation der Vorgärten und des Parkierungsregimes.
Die Möglichkeiten eines «Weiterbauens» und einer Verdichtung, unter Berücksichtigung moderner Wohnvorstellungen, erhalten mit den Projektarbeiten der Studierenden konkrete Konturen, was die grundsätzliche Machbarkeit eines «Updates» des gegebenen Strassenrasters belegt.
Quelle: Visualisierung: Metron AG
Bei der angemessenen «Bändigung» des Durchgangsverkehrs im Zentrum von Glarus ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Eine Altstadt hilft
Wie sich Kleinstädte behaupten, zeigten die Referate von Mary Sidler Stalder und Oliver Tschudin. Sidler Stalder ist Bauvorsteherin von Sempach. Die historische Luzerner Stadt zwischen dem gleichnamigen See und der Autobahn A2 wurde dieses Jahr mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet, was auch Sidler Stalders Verdienst war.
Sie konnte durchsetzen, dass in der Altstadt und um sie herum so gebaut wird, dass ein stimmiges Ganzes entsteht und erhalten bleibt. Dabei hatte sie gewissermassen den Ortsbildschutz im Rücken, was nicht nur das Durchsetzen von qualifizierten Verfahren mit Wettbewerben und partizipativen Strategien im Städtli Sempach erleichterte sondern ganz allgemein das Interesse an gutem «Kleinstädtebau» auch jenseits der Kernzone zu wecken half.
Ebenfalls zwischen Autobahn und Gewässer gelegen und ebenfalls Wakkerpreisträgerin 2016 ist die Aargauer Gemeinde Rheinfelden. Über sie referierte Architekt und Raumplaner Oliver Tschudin, Partner und Geschäftsführer bei Planar AG für Raumentwicklung und von 2005 bis 2013 Stadtrat mit dem Ressort Planung und Bau.
Der Weg zur Auszeichnung führte hier über eine Verkehrsentlastung und den Strukturwandel, der zeigte, was an der Veranstaltung wiederholt betont wurde: Kleinstädte sind anpassungsfähig. Im Falle Rheinfeldens nahm analog zu Glarus die Bedeutung des Wohnens zu. Die Behörden der Gemeinde handelten «proaktiv vorausschauend», wobei öffentliche Nutzungen keine unwesentliche Rolle spielten.
So verwandelte man beispielsweise das alte Wirtshaus Salm, das niemand mehr rentabel zu betreiben wusste, in die Gemeindebibliothek. Auf der Migros richtete man die Musikschule ein. Die positive Gesamtwirkung von Rheinfelden beruht nicht zuletzt auf der Verkehrsentlastung mit einer leistungsstarken Umfahrung, welche die Stadtteile beidseits des Rheins und der Landesgrenze zu Deutschland miteinander verbindet.
Über den Einfluss des Verkehrs und seiner Regelung auf die Stadtraumqualität sprach auch Architekt Rainer Klostermann, der sich unter anderem auf Strassenraumgestaltung spezialisiert hat. Ein gestalterisches Problem sieht er in der Regel- und Signaldichte und der Erkenntnis, dass «die Fehler von heute die Normen von morgen» sind.
Ausserdem ist gerade bei der Signalisierung der Spielraum der Gemeinde sehr beschränkt. Da brauche es schon Lokalpolitiker mit Durchsetzungsvermögen, wolle man ein stimmiges Freiraumkonzept unter Berücksichtigung aller beteiligten Parteien durchsetzen.
In Wallisellen bei Zürich sei dies dank dem Engagement des Gemeindepräsidenten geglückt. Dort dürfen die Leute im Ortszentrum auch mal diagonal über die Strassenkreuzung schreiten.
Kleinstadt, wer bist du?
Kleinstädte bieten kurze Wege und eine Übersichtlichkeit. Gut ist es, wenn Architekten bei der Ortsplanung mitmachen, welche mit der entsprechenden Gemeinde vertraut und bestenfalls auch emotional mit ihr verbunden sind. Das ist nicht ein Privileg von Glarus, wo der Name Marti übrigens nicht andeutet, dass man miteinander auch nahe verwandt ist.
Architekt Thomas Hasler von Staufer & Hasler Architekten sieht sich in Frauenfeld in dieser Position, wie bei seinem Vortrag deutlich wurde. Eine mögliche Schwäche des Kleinstadt-«Formats» ist hingegen die Fixierung auf den historischen Existenznachweis. Sämtliche Vorträge in Glarus befassten sich schwerpunktmässig mit relativ gefestigten Ortszentren – dem eben, was die Geschichte ausmacht. Die Ränder wurden entweder als Negativbeispiele erwähnt – also als unerwünschter, hässlicher Zustand. Oder man gab unumwunden zu, dass es einen spürbaren Rand gar nicht gibt und guter Rat teuer ist.
Die gestalterisch eher stiefmütterliche Behandlung der Peripherie ist insofern von Belang, als auch die Bürger der Kleinstädte dort mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Lebensunterhalt verdienen und die historischen Zentren bestenfalls zu gut funktionierenden Schlafstädten werden.
*Manuel Pestalozzi ist Architekt ETH und freier Journalist in Zürich. Er betreibt die Textagentur Bau-Auslese.