«Die Ostschweiz ist ein Labor für Gemeindeforschung»
Das Ostschweizer Zentrum für Gemeinden der FHS St. Gallen hat mit Stefan Tittmann und Lineo Devecchi seit eine neue Co-Leitung. Devecchi tritt die Nachfolge von Sara Kurmann an. Die Gemeindeexperten berichten im Interview von aktuellen kommunalen Herausforderungen und verraten, warum die Gemeinden in der Ostschweiz so divers sind wie nirgends sonst in der Schweiz.
Quelle: zvg
Neue Co-Leitung des Ostschweizer Zentrums für Gemeinden (OZG) an der Fachhochschule St. Gallen: Stefan Tittmann (links) und Lineo Devecchi.
Gibt es mit der neuen Co-Leitung auch eine Veränderung in der Ausrichtung des Ostschweizer Zentrums für Gemeinden OZG?
Lineo Devecchi: Die Strategie bleibt bestehen. Wir möchten das OZG noch stärker als erste Anlaufstelle für sämtliche Gemeindethemen positionieren – sowohl innerhalb der FHS als auch nach aussen. Das OZG wurde gegründet, um die Rolle einer Ansprechstelle für Gemeinden wahrzunehmen und die Expertise der FHS zu bündeln.
Stefan Tittmann: Um es kurz zu sagen: Egal welche Herausforderungen oder welche Fragen Gemeinden umtreiben, wir treten gerne in einen Dialog und vermitteln die passende Expertise. 2019 wird die systematische Erhebung der als herausfordernd wahrgenommenen Themen ein wichtiger Fokus. Unser Ziel ist es, als FHS St.Gallen in den Ostschweizer Gemeindehäusern präsent zu sein – einerseits mit Forschungsprojekten und mit Dienstleistungsaufträgen, andererseits mit vielfältigen Angeboten, die wir den Gemeinden machen können.
Wie ist Ihr Team aufgestellt?
Tittmann: Zu den Kernkompetenzen unseres Teams gehören verschiedene thematische und methodische Expertisen: partizipative und generationenverbindende Gemeindeentwicklung, Informations- und Kommunikationspolitik, Urbanisierung, Stadt-Land-Themen, Föderalismus, Milizsystem, informeller Partizipationsprozess und Moderation von partizipativen Entscheidungsprozessen. Gemeinden sind häufig auf der Suche nach massgeschneiderten Lösungen für ihre aktuelle Situation. Wir können ihnen ein breites Spektrum an Dienstleistungen anbieten, weil wir auf das Potenzial und Know-how der gesamten FHS und ihrer Partnerinnen und Partner zurückgreifen können.
Sie sagen, dass Sie den Puls der Gemeinden spüren wollen. Wie muss man sich das vorstellen? Wie treten Sie mit den Gemeinden in Kontakt?
Devecchi: Wir haben bei all unseren Dienstleistungs- und Forschungs-Projekten immer direkt mit Gemeinden zu tun. Wir bearbeiten keines der Projekte rein vom Schreibtisch aus. In den Gesprächen mit den Gemeindevertreterinnen und -vertretern erfahren wir nebst dem Projektthema auch, was sie sonst noch beschäftigt. Ausserdem führen wir immer wieder persönliche Experten-Gespräche mit Gemeindeexekutivmitgliedern durch. An unserer jährlich stattfindenden Gemeindetagung diskutieren wir aktuelle Herausforderungen gemeinsam.
Tittmann: Wir erfahren auch viel über die anderen Institute und Kompetenzzentren der FHS St.Gallen, die regelmässig mit Gemeinden zu tun haben. Wenn man uns fragt, wie gross unser Team sei, dann sagen wir: Die FHS ist unser Team – sprich alle, die mit Gemeinden zu tun haben. Gemeinsam spüren wir den Puls der Gemeinden ziemlich gut. Unsere Rolle ist es dann, eine Gesamtsicht herzustellen.
Wo drückt denn den Gemeinden zurzeit der Schuh?
Tittmann: Die globalen Verflechtungen sind enorm: Energiewende, der demographische Wandel, Migrationsströme und flüchtiges Kapital haben auch für Gemeinden in der Ostschweiz eine Bedeutung. Wenn z.B. US-Präsident Trump Steuerreduktionen für amerikanische Firmen macht und sich Unternehmen wieder in die Staaten zurückziehen, beschäftigt dies die Finanzminister in den Kantonen Zug oder Zürich. Und wenn diese beiden Kantone «husten», haben wir in der Ostschweiz eine «Grippe» – weil dann der kantonale Finanzausgleich in der heutigen Form nicht mehr gesichert ist. Solcher Zusammenhänge ist man sich oft nicht bewusst.
Devecchi: Wir bringen manchmal Themen in die Kommunalpolitik, die auf den ersten Blick nicht relevant erscheinen. In der Kommunalpolitik fehlen oft Zeit und personelle Ressourcen, sich mit übergeordneten Themen zu befassen, die alle Gemeinden betreffen. In Gesprächen haben wir gemerkt, dass Gemeinden sehr an Lösungen anderer Gemeinden interessiert sind. Ein Austausch wird nachgefragt. Es ist auch eine Aufgabe von uns, Themen und Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass Gemeinden von den Erfahrungen anderer profitieren können.
Können Sie zu den aktuellen Herausforderungen einige Stichworte nennen?
Devecchi: Dauerbrenner sind sicher die Finanzen und die Strategien, mit denen Gemeinden ihre Finanzen aufbessern wollen, zum Beispiel mit Raumplanungsentscheidungen. Die Demokratie und die lokale Kommunikation verändert sich: weniger Lokaljournalismus, mehr geforderte Mitsprache in Detailfragen, konstant tiefe Beteiligung in den formellen demokratischen Prozessen. Stärker ins Gewicht fallen auch die sich komplexer gestaltenden Beziehungen zu den übergeordneten politischen Ebenen: Die Finanzierung ist zunehmend zweckgebunden, das heisst die Gemeinden bekommen Aufträge vom Kanton und sind nur noch in der lokalen Ausgestaltung einigermassen frei. So entstehen ein gewisser Autonomieverlust und ein Frustpotenzial für die gewählten Entscheidungsträgerinnen und -träger auf lokaler Ebene. Das Milizsystem ist ebenfalls im Wandel. Das freiwillige Engagement hat sich verändert – die Engagements in der eigenen Gemeinde sind bedingt durch die zunehmende Mobilität im Laufe des Lebens kurzfristiger.
Tittmann: Dazu kommen die Folgen einer älter werdenden Gesellschaft. Diese wirken sich auf Wohn- und Betreuungsaufgaben, kommunale Begegnungsorte oder die Nahversorgung aus, sozusagen auf alle Fragen auf dem Weg von der Wiege bis zur Bahre. Grundsätzlich können wir sagen: Alle Themen, die uns Menschen umtreiben, haben in der Regel einen kommunalen Bezug. «Generelle» Herausforderungen für Gemeinden sind aber schwierig zu benennen – gerade, weil diese in der Ostschweiz so unterschiedlich sind.
Inwiefern unterscheiden sich die politischen Gemeinden in der Ostschweiz?
Devecchi: Ob städtisch, ländlich, einigermassen gross, sehr klein, in den Bergen oder im Flachland am See gelegen, agrarisch oder industriell geprägt oder mit einem Hauptfokus auf den Dienstleistungssektor – die politischen Gemeinden der Ostschweiz sind so divers wie sonst fast nirgends in der Schweiz. In der Ostschweiz kommen nebst der metropolitanen Kernstadt alle vom Bund definierten Gemeindetypen vor. Die Gemeinden liegen in verschiedenen Kantonen oder haben starke Beziehungen mit Nachbargemeinden in Österreich, Deutschland oder Liechtenstein. Dies führt natürlich auch zu ganz unterschiedlichen Aufgabenstellungen je nach kommunaler Situation: Eine suburbane Pendlergemeinde wie Mörschwil steht vor anderen Herausforderungen als eine ländlich und touristisch geprägte Gemeinde wie Urnäsch. Diese Ausgangslage ist für uns sehr spannend. Denn wir können von der Ostschweiz Schlüsse für die Gesamtschweiz ableiten. Der Vergleich zwischen den Gemeinden hilft beim Suchen nach Lösungen. Die Ostschweiz ist für uns sozusagen ein Labor für Gemeindeforschung.
Arbeitet das OZG ausschliesslich mit Ostschweizer Gemeinden zusammen?
Tittmann: Nein, das OZG ist grundsätzlich für diejenigen Gemeinden da, die sich an uns wenden. Wenn wir merken, dass beispielsweise eine Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Bern aus unterschiedlichen Gründen deutlich mehr Sinn macht, dann teilen wir das den Gemeinden auch mit.
Welche Rolle spielt die Interdisziplinarität im OZG?
Tittmann: Eine sehr wichtige. Wenn uns eine Gemeinde kontaktiert, müssen wir das Anliegen zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Fachbereichen der FHS diskutieren. Nur so können wir multiperspektivische Lösungen andenken, weiterentwickeln und den Gemeinden als Angebot mit auf den Weg geben.
Devecchi: Gleiches gilt für Kompetenzen und Ressourcen der FHS St.Gallen, die für Gemeinden nutzbar gemacht werden können: Wir können nur ein gemeinsames Verständnis entwickeln, wenn wir genau zuhören können, verschiedene Wissenschaftssprachen verstehen und zwischen verschiedenen Disziplinen vermitteln möchten.