Des Zebras neue Streifen
Von Marcel Müller
Immer wieder kommt es auf Fussgängerstreifen zu schweren Unfällen. Und immer wieder stellt sich die Frage, wer die Verantwortung dafür trägt. Es liegt natürlich nahe, die Schuld bei den Unfallbeteiligten zu suchen: Beim Fahrzeuglenker, der zu schnell unterwegs war oder sich von einem Werbeplakat, dem Beifahrer oder seinem Mobiltelefon ablenken liess. Oder beim Fussgänger, der sich durch sein Vortrittsrecht in falscher Sicherheit wiegte und dem Verkehr zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Viele Automobilisten sehnen sich deshalb nach der Zeit zurück, in der Fussgänger durch Handzeichen versuchen mussten, die Motorfahrzeuge zum Stillstand zu bringen, wenn sie über die Strasse wollten. Gefordert werden auf der anderen Seite aber auch mehr Geschwindigkeitskontrollen bei Fussgängerstreifen und höhere Bussen für Autolenker, welche die Vortrittsregel missachten.
Ohne Zweifel spielen Aufmerksamkeit und Vorsicht der Verkehrsteilnehmer bei der Unfallverhütung eine Schlüsselrolle. Gleichwohl tragen auch die Strasseneigentümer eine Mitverantwortung dafür, dass in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt 26 Fussgänger pro Jahr auf Zebrastreifen getötet und 300 schwer verletzt worden sind, wie der Fachverband Fussverkehr Schweiz ausgerechnet hat. Kantone und Gemeinden kommen dieser Verantwortung sehr unterschiedlich nach. Fakt ist, dass viele der landesweit 45 000 Fussgängerstreifen in schlechtem Zustand sind.
Viele Streifen sind mangelhaft
Ein Beleg dafür sind die Ende letzten Jahres publizierten Ergebnisse eines Fussgängerstreifen-Tests, den der «Touring Club Schweiz» (TCS) durchgeführt hat. Die Organisation untersuchte 100 Strassenübergänge in zehn Städten. In die Bewertung der Querungen flossen verschiedene Kriterien mit ein. Bei der Gestaltung wurden die Länge des Übergangs, Signalisierungen, Markierungen, Leuchtsignale, Verkehrsinseln und die Unterhaltssituation begutachtet. Weitere Prüfsteine waren die Sichtbarkeit bei Tag und bei Nacht, wobei die Beleuchtung und die Distanz bis zur Wahrnehmung der Verkehrssituation berücksichtigt wurden. Das ernüchternde Fazit der Untersuchung: Lediglich 45 Übergänge erhielten die Note «ausreichend» oder besser, 55 wurden als «mangelhaft» oder «sehr mangelhaft» beurteilt.
Auch weil sich Ende des letzten Jahres die schweren Unfälle auf Fussgängerstreifen in besorgniserregender Weise häuften, haben verschiedene Kantone, aber auch Städte und Gemeinden Verbesserungsmassnahmen in die Wege geleitet oder zumindest eine Analyse der bestehenden Querungen beschlossen. So wollen etwa die Kantone Zürich und Wallis die Beleuchtung optimieren. Im Kanton Tessin wurden gefährliche Zebrastreifen aufgehoben und erste bauliche Massnahmen für mehr Sicherheit ergriffen. Zudem ist eine systematische Überprüfung aller 700 Tessiner Fussgängerstreifen im Gang, ebenso in verschiedenen anderen Kantonen und Gemeinden.
Bereits vor einem Jahr startete der Kanton St. Gallen ein Pilotprojekt zur Sicherheitsüberprüfung. Auch hier waren die Ergebnisse alarmierend: Über die Hälfte der überprüften Fussgängerstreifen wiesen Mängel auf. Um weitere Fussgängerunfälle zu verhindern, will die Kantonspolizei nun alle 2000 Zebrastreifen auf den Kantonsstrassen kontrollieren.
Zahnlose Normen
Die Stiftung Roadcross begrüsst diese Anstrengungen der Kantone und Gemeinden, kritisiert aber die mangelhafte Koordination der Akteure. «Die Kantone überprüfen ihre Anlagen nach unterschiedlichen Kriterien», sagt Mediensprecher Silvan Granig. «Es herrscht ein Wildwuchs an Regeln und Vorgehensweisen.» Nach Ansicht von Roadcross wäre es deshalb wünschenswert, dass die Strassenbesitzer die Sicherheit der Fussgängerquerungen schweizweit nach denselben Gesichtspunkten beurteilen würden.
Dabei liegt mit dem Normenwerk des Verbands der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS) seit Jahren ein umfassender Kriterienkatalog vor, der aufzeigt, wie eine sichere Fussgängerquerung auszusehen hätte. Die Vorschriften im Einzelfall buchstabengetreu umzusetzen sei schwierig, räumt Daniel Baumann vom Verkehrsingenieurbüro Swisstraffic ein. «Die Normen gelten für eine Idealsituation, die leider nur selten vorliegt.» Gleichwohl lieferten die Empfehlungen eine gute Grundlage, um die Sicherheit zu verbessern, ist der Verkehrsexperte überzeugt.
Doch nicht nur die Umsetzbarkeit der VSS-Empfehlungen wird kritisiert. «Die Normen sind zahnlos», bemängelt Roadcross-Mediensprecher Granig. Dadurch fehle der Druck auf Gemeinden und Kantone. Diese würden oft erst tätig, wenn sich auf einer Querung ein Unfall ereignet habe.
Optimierung für wenig Geld
Dass nicht überall gleich viel Effort in Verbesserungsmassnahmen gesteckt wird, dürfte aber in erster Linie finanzielle Gründe haben. Dabei wäre auch mit wenig Geld einiges herauszuholen. Prioritär sei, dass Autofahrer die Fussgänger möglichst früh erkennen, sagt Daniel Baumann. «Man muss nicht nur den Streifen möglichst gut sehen, sondern vor allem die Fussgänger.» In manchen Fällen liesse sich bereits durch das Schneiden von Bäumen oder Sträuchern eine Verbesserung der Sichtbarkeit erzielen. Auch die Aufhebung von Parkplätzen, welche die Sicht versperren, gehört zu den kostengünstigen Massnahmen. Was den Unterhalt anbelangt, empfiehlt der Experte eine jährliche Überprüfung der Markierungen. Bewährt habe sich zudem das nicht obligatorische, aber empfohlene blaue Hinweissignal «Standort eines Fussgängerstreifens» (Nr. 4.11 nach Signalisationsverordnung).
Besonders heikel sind die Sichtverhältnisse in der Dämmerung, weshalb auch die Beleuchtung eine wichtige Rolle spielt. Wie die meisten baulichen Optimierungen ist die Lampeninstallation allerdings eine Frage des Budgets.
Bevor solche Massnahmen ergriffen werden, lohnt es sich daher zu prüfen, welche Fussgängerstreifen wirklich benötigt werden und welche allenfalls aufgehoben werden könnten – auch wenn dabei mit Opposition zu rechnen ist: «Eine Aufhebung von Fussgängerstreifen ist nur dann sinnvoll, wenn die Qualität für Fussgänger dadurch insgesamt verbessert wird», hält Thomas Schweizer, Geschäftsleiter des Verbands Fussverkehr Schweiz, fest. Das sei leider so gut wie nie der Fall. «Nur die Farbe wegzunehmen bringt Fussgängern keinen Gewinn.» Mit der Entfernung der Streifen allein sei es nicht getan, weil eine Querungsstelle auch ohne Markierungen ihre Verbindungsfunktion behalte. Die Fussgänger würden die Strasse in einem solchen Fall einfach ohne Vortrittsrecht betreten, gibt Schweizer zu bedenken. Deshalb erhöhe die Aufhebung von Zebrastreifen die Unfallgefahr oftmals.
Wegnetzplanung sinnvoll
Daniel Baumann von Swisstraffic beurteilt die Lage anders. Zu viele Fussgängerstreifen wirkten kontraproduktiv, ist der Verkehrsexperte überzeugt. «Die Qualität der Wahrnehmung des Autofahrers nimmt ab, wenn alle paar Meter ein Zebrastreifen aufgemalt ist.» Er glaubt, dass viele von ihnen aufgehoben werden könnten. Oft würden Gemeinden Querungen nämlich beibehalten, obwohl sich die Situation um den Übergang verändert habe. So beeinflusst beispielsweise der Bau eines neuen Quartiers oder die Schliessung einer Schule die Fussgängerströme im Ort stark. Das kann dazu führen, dass gewisse Querungen kaum noch genutzt werden. «Die Standorte müssen auf der Grundlage eines Fusswegnetzes gewählt werden», sagt Baumann. Bestehende Übergänge, die nicht in diesem Netz liegen oder nicht sicher gestaltet werden können, müssten nach Ansicht des Experten verschwinden. «An ungeeigneten Stellen angebrachte Zebrastreifen vermitteln Fussgängern eine falsche Sicherheit.»
Die Überprüfung der Übergänge im Kanton St. Gallen bestätigt diesen Befund: Neben der Abnützung der Infrastruktur registrierte die Verkehrspolizei als häufigsten Mangel die falsche Platzierung aufgrund von veränderten Fussgängerströmen.
Angesichts dieser Erkenntnisse liegt es auf der Hand, dass sich aufwändigere Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit nur bei Strassenübergängen lohnen, die wirklich gebraucht werden. Welche Lösungen sinnvoll sind, muss dabei im Einzelfall beurteilt werden. So empfiehlt der TCS bei Strassen mit mehr als zwei Fahrstreifen die Installation von Mittelinseln, wie dies auch in den VSS-Normen vorgesehen ist. Die Inseln müssen dabei, um optimale Sicherheit zu gewährleisten, zwischen den Fahrstreifen gleicher Richtung liegen.
Vor Parkfeldern schlägt der Verein die Einrichtung von Trottoirnasen vor, welche die Fahrbahn verschmälern. Allerdings gilt es, die Massnahmen sorgfältig abzuwägen. So machen etwa Rüttelstreifen oder Erhöhungen auf der Fahrbahn zwar den Autofahrer auf eine Querung aufmerksam, sie verursachen aber auch mehr Lärm. Dies kann in Wohngebieten zu neuen Problemen führen.
Bund kann wenig ausrichten
Die Sicherheit der Zebrastreifen beschäftigt derzeit auch die nationalen Räte. Im Rahmen des Massnahmenpakets «Via Sicura» wurde unter anderem darüber diskutiert, ob der Bund den Kantonen und Gemeinden künftig nicht mehr bloss Vorschriften bezüglich der Markierung von Fussgängerstreifen machen darf, sondern auch bauliche Massnahmen anordnen kann. Bei Roadcross zweifelt man allerdings daran, dass mehr Bundeskompetenzen die Situation verbessern würden. «Ein solcher Beschluss hätte nur symbolische Wirkung», sagt Silvan Granig. Auch Verkehrsingenieur Daniel Baumann ist skeptisch: «Dem Bund fehlen die Sanktionsmöglichkeiten, um Massnahmen durchzusetzen.»
Statt nur auf Verbesserungen an den Bauwerken zu fokussieren, könnten die Strasseneigentümer auch bei der Geschwindigkeit ansetzen. «Wenn man mehr Sicherheit will, sind tiefere Tempi das A und O», sagt Thomas Schweizer von Fussverkehr Schweiz. Er vermisst die Diskussion über Reduktionen auf Hauptstrassen. «Bei diesem Thema herrscht eine Denkblockade.»
So steht etwa der «Automobil Club der Schweiz» (ACS) Vorschlägen in diese Richtung kritisch gegenüber. «Stark differenzierten Geschwindigkeitsvorschriften kann ich wenig abgewinnen», sagt ACS-Direktor Nik Zürcher. Für ihn steht die Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer klar im Vordergrund. «Die Autofahrer sind schon heute verpflichtet, ihr Tempo den Verhältnissen anzupassen.» Die Fussgänger wiederum könnten mit mehr Aufmerksamkeit viel zu ihrer Sicherheit beitragen. Zudem brauche es eine klare Veständigung zwischen den Verkehrsteilnehmern: «Man muss miteinander kommunizieren», ist Zürcher überzeugt. Es gelte, Missverständnisse zwischen Passanten und Autofahrern an Fussgängerstreifen auszuräumen. Der ACS-Direktor schlägt vor, auf den Trottoirs Warteräume zu definieren, die es den Autofahrern ermöglichen würden, Fussgänger mit Querungsabsicht leichter zu erkennen. Wie diese Idee in der Praxis umgesetzt werden könnte, lässt er allerdings offen.
Rezepte, die zu mehr Sicherheit auf Fussgängerstreifen führen, gibt es offensichtlich mehr als genug. Gleichwohl dürfte das Thema nicht an Aktualität verlieren. Solange ein guter Teil der Strassenbesitzer seine Pflichten vernachlässigt und Fussgänger und Automobilisten nicht bereit sind, mehr Verständnis für die jeweils andere Partei zu zeigen, wird die Zahl der Unfälle weiterhin (zu) hoch bleiben.
Lesen Sie hier wie National- und Ständeräte das Problem lösen wollen