Der Wald als Klimaanlage: Pilotprojekt mit Kaltluftkorridoren in Baden
Der Wald kühlt sich im Sommer nachts ab, als Folge der Verdunstung. In einem schweizweiten Pionierprojekt im Aargau wird dieser Effekt genutzt, um Ströme von kalter Luft zu einem Altersheim zu führen. Ein aktuelles Projekt, denn die Städte und Kantone befassen sich intensiv mit Hitzeinseln in bebauten Gebieten.
Quelle: Stadtforstamt Baden
Durch vier solcher schmalen Korridore strömt in warmen Sommernächten Kaltluft zum Altersheim Kehl in Baden AG.
Der Sommer des Jahres 2022 war der wärmste seit Messbeginn 1864. Und der eben zu Ende gegangene Sommer, von den Meteorologen noch nicht ausgewertet, dürfte das Vorjahr noch einmal übertreffen. Zumindest liessen die Vereinten Nationen verlauten, es sei «extrem wahrscheinlich, dass der Juli 2023 der heisseste Juli und auch der heisseste Monat in den Aufzeichnungen» sei. Der Klimawandel mit seinen vielen Begleiterscheinungen ist in vollem Gange.
Dies bestätigt auch das Klimaszenario des «National Centre for Climate Services» (NCCS), welches der Bund zusammen mit mehreren Hochschulen betreibt: «In der Schweiz ist bis Mitte dieses Jahrhunderts eine zusätzliche Erwärmung zwischen 0,5 bis 2,5 Grad Celsius zu erwarten. Urban geprägte Räume werden besonders vom Klimawandel und den damit zusammenhängenden Folgen betroffen sein.»
Hitze führt zu Todesfällen
Mit diesem Wandel «werden Hitzeperioden häufiger, länger und heisser», weiss auch das Bundesamt für Umwelt (Bafu). In Städten und Agglomerationen sei die Hitzebelastung besonders gross, «denn die vielen versiegelten Flächen absorbieren die Sonnenstrahlung und heizen die Umgebung auf.» Diese Hitze in überbauten Gebieten ist nicht nur unangenehm, sie führt unter anderem auch zu einer erhöhten Anzahl an Todesfällen bei älteren und kranken Menschen.
Gefordert ist die Stadtplanung: Sie kann solche sogenannten Hitzeinseleffekt reduzieren, indem sie den Aussenraum klimaangepasst gestaltet. Das Bafu: «Dazu müssen Freiräume mit Grünflächen, Schattenplätzen und frei zugänglichen, kühlenden Wasserelementen geplant werden. Zudem muss die Frischluftzufuhr und -zirkulation aus dem Umland gesichert sein.»
Quelle: Stadtforstamt Baden
Dieser Kartenausschnitt zeigt deutlich, dass sich bei, Alterszentrum nachts Wärmeinseln bilden - und dass günstige Kaltluftströme fliessen, die genutzt werden können.
Quelle: Stadtforstamt Baden / geo.admin.ch
Der Topographie wurden vier Kaltluftkorridore in den Wald geschlagen, 20 bis 30 Meter breit und bis zu 100 Meter lang. Durch sie strömt nachts kühle Waldluft hangabwärts.
Kühle Luft aus dem Wald
Wie dies funktionieren kann, zeigt sich derzeit in einem Pilotprojekt in Baden AG: Oberhalb des Alterszentrums Kehl, das am Fusse eines bewaldeten Hügels liegt, wurden mehrere Korridore durch den Wald geschlagen: Durch diese fliesst in Sommernächten kühle Luft den Hang hinunter und senkt die Temperatur rund um die Gebäude.
Die Idee dazu hatte Georg von Graefe, der Badener Stadtoberförster. «Im Rahmen einer Weiterbildung, dem CAS Urban Forestry, habe ich eine Abschlussarbeit über dieses Projekt verfasst, das wir nun mit einigen Anpassungen umgesetzt haben.» Zugute kam von Graefe, dass der Wald oberhalb des Alterszentrums im regulären Bewirtschaftungs-Turnus von zwanzig Jahren an der Reihe war. «Wir mussten hier sowieso einen regulären Holzschlag vornehmen, um diese Behandlungseinheit zu verjüngen. Diesen haben wir nun einfach den Gegebenheiten angepasst und ins Projekt integriert.»
Korridor mit «Kältebänkchen»
Konkret wurden mehrere Korridore in den Wald geschlagen, jeweils bis zu 100 Meter lang und 20 bis 30 Meter breit. «Den Verlauf dieser Korridore haben wir der Topographie angepasst und geschaut, wo der kalte Luftstrom hangabwärts fliessen kann.» Meist folgen die Schneisen also in etwa dem Verlauf der Falllinie des Geländes. Als besonderer Ort wurde noch eine Parkbank mitten in den Luftstrom hinein platziert, ein «Kältebänkchen».
Von Graefe nutzt bei der Schaffung dieser Kaltluft-Korridore einen natürlichen Effekt. Während in warmen Sommernächten Siedlungskerne nur langsam auskühlen, geschieht dies im bewaldeten Umland sehr viel rascher: Die Bäume verdunsten Wasser, was die Temperatur senkt. Die kalte Luft wiederum sinkt ab und setzt einen Luftstrom in Bewegung. Dieser fliesst, den Gesetzen der Physik folgend, talabwärts und damit in Richtung der aufgestauten Hitze. Die Basis für die Positionierung der Korridore liefern die Klimakarten des Kantons Aargau (siehe Infobox links «Bund und Kantone gegen die Hitze»): Diese basieren auf Erfahrungswerten und zahlreichen Simulationen und zeigen für jede Gemeinde auf, wo in Sommernächten welche Luftbewegungen und welche Temperaturen zu erwarten sind.
Quelle: Stadtforstamt Baden
Wer den Luftstrom aus dem Wald hautnah selbst erfahren will, kann sich auf dieses Kaltluftbänkchen pflanzen.
Studie zum Stadtklima
Daneben hat Baden selber auch eine Studie zum Thema «Stadtklima in der Oberstadt» verfassen lassen, um die Situation und mögliche Gegenmassnahmen zu untersuchen. Die Studie stellt ihrerseits fest, dass eine nächtliche Durchlüftung und Abkühlung entscheidend zur Vermeidung von Hitzeinseln beiträgt. Hierfür müssten «Kaltluftschneisen mit niedrig bebauten oder durchgrünten Korridoren ausgeschieden werden». Breitere Lücken seien hierbei für den Kaltluftabfluss von den Hängen her bedeutend und würden für einen nächtlichen Kaltluftstrom sorgen. Also genau so, wie beim Alterszentrum Kehl nun umgesetzt.
Der Holzschlag für das Projekt erfolgte Anfang Jahr, und diesen Sommer konnten bereits die ersten Erfahrungen mit den Kaltluft-Strömen gemacht werden. Von Graefe: «Wir haben bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Kehl eine Umfrage gemacht, um deren subjektive Eindrücke zu sammeln. Und wir erhielten mehrfach die Rückmeldung, dass in der Nacht ein deutlicher Effekt spürbar sei. Ich selber war mehrfach vor Ort, habe mich aufs Kaltluft-Bänkchen gesetzt und hatte auch das Gefühl, dass da ein angenehm kühler Luftstrom den Hang herunterkam.» Natürlich wird das Projekt auch wissenschaftlich verfolgt: Während zwei Jahren misst man an rund 30 Messpunkten die Temperatur, nachdem schon im Vorfeld Vergleichsmessungen durchgeführt worden waren.
Quelle: Kanton Aargau
Die Stadt Baden auf der kantonalen Planhinweiskarte Nacht: Deutlich zu sehen die nächtlichen Wärmeinseln im Stadtkern - und die diversen Kaltluftströme in den umliegenden Wäldern und Grünflächen.
Mehr Rehe beobachtet
Auch Florian Immer, der Geschäftsführer des Alterszentrums Kehl, ist von der Wirkung angetan. «Ich habe mein Büro im Erdgeschoss zum Wald hin, und am Morgen war vor dem Fenster deutlich eine Reserve an kühler Luft wahrnehmbar.» Immer hat seinerseits auch von mehreren Bewohnerinnen und Bewohnern ein positives Feedback erhalten. «Die Leute freuen sich auch darüber, dass sie nun mehr Rehe beobachten können.» Der Stadtoberförster von Graefe bestätigt: «Sobald ich Bäume fälle, kommt Licht auf den Waldboden und die Krautschicht spriesst. Das schafft ein Äsungsangebot für die Waldbewohner.»
Neben den Kaltluft-Korridoren beim Alterszentrum ist in Baden noch kein weiteres Projekt dieser Art angedacht. «Beim Kehl hatten wir einen idealen Standort. Zudem war die Waldpflege fällig», so von Graefe. Der Stadtoberförster kann sich aber durchaus vorstellen, weitere solcher spezifischen Waldnutzungen zu realisieren. «Mit einer Bewaldungsquote von 56 Prozent ist Baden für solche Vorhaben ideal gelegen.»
Bund und Kantone gegen die Hitze
Nebst diversen Gemeinden haben auch mehrere Kantone intensive Bemühungen angestossen, um die Klimaentwicklung in Siedlungsgebieten besser verstehen und steuern zu können. So stellt der Kanton Aargau seit Ende 2021 Interessierten und den Vertretern der Kommunen vier neue Klimakarten online zur Verfügung. «Mit diesen Klimakarten ist für jede Gemeinde des Kantons nun ersichtlich, wo sich auf ihrem Gemeindegebiet die Hitze im Siedlungsgebiet staut und zu Hitzebelastungen führt», heisst es in der Begleitinformation. «Sie zeigen, welche Grünflächen und Freiräume bedeutend für die Produktion von Kalt- und Frischluft sind und wo wichtige Kaltluftbahnen verlaufen, entlang derer kühle, frische Luft in die Siedlung einströmen kann.» Das Projekt beim Alterzentrum Kehl basiert auf ebendiesen Klimakarten.
Diese sind auch ein wertvolles entscheidendes Planungsinstrument für die sogenannte «hitzeangepasste Siedlungsentwicklung». Auf Basis der Klimaanalyse und mit den vier Klimakarten lassen sich entsprechende Klimaaspekte in die Siedlungsplanung einbauen. Konkret lassen sich Hitzeinseln aufspüren, die aufgrund starker Versiegelung und fehlender Ventilation entstehen. Weiter kann man den Verlauf von Kaltluftbahnen nachvollziehen und damit festlegen, welche Bereiche frei bleiben müssen, um diese nicht zu behindern. Darüber hinaus lassen sich auch Gebäude eruieren, die früher in Unkenntnis der Verhältnisse quer zum Kaltluftstrom stehen. Die ideale Platzierung von Grünflächen und Freiräumen, um deren Kühlwirkung einzusetzen, wird auf Basis der Klimakarten ebenfalls möglich. (bk)
Online-Klimakarten des Kantons Aargau: www.ag.ch
Zürich setzt auf eine Datenbank
«Klimaangepasste Innenentwicklung» heisst die Datenbank, welche der Planungsdachverband Region Zürich und Umgebung (RZU) als Gemeinschaftsprojekt mit dem unabhängigen Beratungsunternehmen Infras betreibt. Dies im Rahmen des Projekts RZU-Netzwerk Klimaanpassung und Innenentwicklung. Und dies wiederum im Rahmen des Pilotprogramms «Anpassung an den Klimawandel» des Bundesamts für Umwelt.
Mit diesem bis 2025 laufenden Programm will der Bund die Kantone, Regionen und Gemeinden beim Umgang mit den neuen Herausforderungen unterstützen. Neben dem BAFU sind auch die Bundesämter für Energie, Gesundheit, Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, Meteorologie und Klimatologie, Raumentwicklung sowie Wohnungswesen beteiligt. Unter anderem wird eine Plattform geschaffen, worauf aktuelle Informationen zu den Anpassungsaktivitäten von Bund, Kantonen und Gemeinden bereitgestellt werden.
Eine grundsätzliche Erkenntnis hat man in Zürich bereits heute gewonnen, wie es in einem Pressetext des RZU-Netzwerks heisst: «Die Klimaanpassung sollte Hand in Hand mit der laufenden Innenentwicklung gedacht und behandelt werden.» (bk)
RZU-Datenbank für den Kanton Zürich: klimaanpassung-datenbank.rzu.ch
Quelle: Stadt Zürich
Auch in der Stadt Zürich bilden sich im Zentrum diverse Wärmeinseln. Die Basis zu deren künftiger Vermeidung soll die RZU-Datenbank «Klimaangepasste Innenentwicklung» schaffen.