Atlas des Dazwischenwohnens: Vom Abenteuer, Freiräume zu entdecken
In ihrem architekturpsychologischen Werk zeigen Angelika Juppien und Richard Zemp auf, wie sich Bewohnerinnen und Bewohner von Mietwohnungen Nischen und Refugien rund ums Haus zu Eigen machen.
Quelle: Angelika Juppien
Der Luzerner Buddelenhof ist eines der sechs untersuchten Stadtquartiere. Er wird von einer sechsgeschossigen Blockrandbebauung aus dem 1. Viertel des 20. Jahrhunderts umschlossen.
Wohnt man seit Jahren in derselben, als positiv wahrgenommenen Mietsituation, so wird man schnell das beschriebene Phänomen nachvollziehen können: Der für alle Hausbesucher offensichtlichste Hinweis eines «Dazwischenwohnens» ist die geduldete Ausdehnung des offiziell vermieteten Wohnraums auf die vorgelagerten Flure.
Das mag mit einem Kinderwagen beginnen, der im Erdgeschoss abgestellt ist, geht über Schuhe, die lediglich auf der Fussmatte abgestellt sind, steigert sich über Bilder, mit denen die Bewohner ihr Treppenhaus verschönern und gipfelt in ganzen Kommoden oder gar Schränken auf den Treppenabsätzen, in denen private Dinge wie Schuhe oder Gartengerät verstaut sind.
Umnutzung von Treppenhäusern
Hier attestiert der «Atlas des Dazwischenwohnens», basierend auf einer Studie von Angelika Juppien und Richard Zemp, dass dieses in Altbauten häufiger passiere, da sich in deren Treppenhäusern vielfach Nischen und ungenutzte Bereiche finden, die sich für eine solche Umnutzung anbieten. In heutigen Bauten sind die Treppenhäuser hingegen oft soweit optimiert, dass sie genau nur noch den Brandschutzbestimmungen entsprechen und daher keine weiteren Aufenthaltsqualitäten besitzen.
Das Buch vermittelt ferner die Erkenntnis, dass eben nicht die ultimative Flexibilität eines Ortes von seiner Wohnqualität zeugt, sondern eine jeweils originäre Nutzungsoption, die nur genau dort möglich ist. Beispielhaft angeführt sei hier eine perfekte Nischengrösse für ein bestimmtes Kinderwagenmodell oder der ideale Ort für ein Gartenfrühstück, weil nur dort morgens die Sonne hinscheint.
Juppien und Zemp fassen die Ausrichtung des Buches in ihrer Einleitung wie folgt zusammen: «Das Wohnen, über die eigenen Wände hinaus, entspringt nicht bloss dem Wunsch, Defizite der Wohnung auszugleichen. Vielmehr haben wir es mit ganz grundsätzlichen Wohnbedürfnissen zu tun, die eigentlich nur ‹auf der anderen Strassenseite›, ‹ums Haus herum› oder ‹vor der Wohnungstür› befriedigt werden können.»
Quelle: Richard Zemp
Dieses öffentliche Bücherregal leitet das Kapitel «Auf der anderen Strassenseite» ein, in dem der alltägliche und allgemein zugängliche Nahraum und dessen subtile Kultivierung untersucht wird.
«Abenteuer», «Zauber», «Tapetenwechsel»
Bewusst wird in der Studie eine neue, umgangssprachlich erscheinende Begrifflichkeit eingeführt. Denn die Autoren sind zu der Überzeugung gekommen, dass Bezeichnungen wie «Abenteuer», «Zauber» oder «Tapetenwechsel», die vorgestellten baulichen Situationen treffender umschreiben als gängige Fachtermini wie «Möglichkeitsraum», «Raumaneignung» oder «Freiraumnutzung». Durch diese Wortwahl sollen im «besten Sinne positive Irritationen» entstehen, die zu neuen Denkansätzen führen. In dem Kapitel «Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle» wird jeder dieser Begriffe in einem eigenen Abschnitt erläutert:
Mit Abenteuer wird ein Freiraum umschrieben, der die Fantasie anregt, in dem neue Dinge entdeckt werden können und wo spontanes, experimentelles oder unbestimmtes ausgelebt werden kann. Für Kinder ist das etwa ein Kletterbaum, an dem man vielleicht noch eine Schaukel befestigen und unter dem man vielleicht auch noch spontan frühstücken kann.
Mit Engagement wird ein Ort angesprochen, der grundsätzlich ohne eine weitere Pflege auch funktionieren würde, etwa ein karger Innenhof oder ein Vorgarten mit belangloser Bepflanzung. Stellt man dort nun Pflanztöpfe auf und hegt und pflegt man diese zuvor unbeachtete Grün- beziehungsweise Freifläche, kann ein kleiner Garten entstehen, für den sich der Anwohner verantwortlich und sich heimatlich verbunden fühlt.
Der Begriff «Landnahme» beschreibt im weitesten Sinne das Fachwort Aneignung. Damit kann etwa das Aufstellen von Schuhkommoden im Treppenhaus gemeint sein. Es kann aber genauso eine kontinuierliche Nutzung eines bestimmten, kleinräumigen Hofareals bedeuten. Die Autoren denken dabei vor allem an Tische und Bänke, die in ausgewählten Hofnischen stehen, und die auch nur bestimmten Bewohnern vorbehalten sein können. Dabei kann die Art von deren Zuteilung und Nutzung den unterschiedlichsten Regeln und Rechten folgen.
Quelle: Angelika Juppien
Diese Feuerstelle steht im Kapitel «Um das Haus herum». In ihm wird die Aneignung des halböffentlichen Umgebungsraums direkt auf dem jeweiligen Grundstück beschrieben.
Der Tapetenwechsel umschreibt die Option eines vorübergehenden Rückzugs aus den eigenen vier Wänden für eine Pause von alltäglichen Pflichten und Tätigkeiten. Hier gilt – genauso wie für den Begriff Abenteuer – dass dieser Ort nicht zwingend auf dem bewohnten Grundstück liegen muss, sondern stadträumlich nahe liegt. Es kann sich also beispielsweise auch um eine bestimmte Parkbank handeln oder auch um ein Café um die Ecke.
Der Zauber beschreibt eine Situation, einen Ort, Ausblicke oder Dinge, die als einzigartig empfunden werden und die eine spezielle Stimmung oder Faszination hervorrufen. Der Autor dieser Zeilen assoziiert mit diesem Begriff persönlich die halböffentliche Hinterhausterrasse des Mietshauses, in dem er wohnt. Von dort lässt sich regelmässig ein grosses Kirmesfeuerwerk beobachten, ohne dass dafür das Haus verlassen zu müssen.
Vielfältige Formen des «Dazwischen»
In diesem 37-seitigen Kapitel werden mit Hilfe von Sofortbildaufnahmen 47 Orte vorgestellt, die die Verfasser dieser Studie ausfindig gemacht haben und bei denen sich vielfältige Formen des «Dazwischenwohnens» zeigen. Kategorisiert wurden diese Orte in drei, immer intimer werdende Gruppen: «Auf der anderen Strassenseite», «Um das Haus herum» und «Vor der Wohnungstür».
Zu verorten sind all diese 47 Orte in sechs verschiedenen Siedlungen, davon befinden sich vier in der Schweiz und zwei in Deutschland. Sie alle wurden begutachtet, umfassend begangen und zudem mit deren Bewohnern ausführliche Interviews geführt. Auch mit den Eigentümern wurde das Gespräch gesucht und zusätzlich die wohnrechtliche Struktur in Organigrammen aufgeschlüsselt. Untersucht wurden die folgenden Objekte:
Quelle: Angelika Juppien
Dieses Foto entstand in dem Quartier «Im Werk» in Uster und illustriert die Aneignung des unmittelbaren Bereiches «Vor der Wohnungstür». Das Bild steht dem gleichnamigen Kapitel voran und zeigt eine aktive Nutzung der Wohnungserschliessung.
Der Buddelenhof Luzern ist eine sechsgeschossige Blockrandbebauung, die einen annähernd rechteckigen, nicht nach verdichteten Innenhofbereich umschreibt. Das Areal weist einen parkähnlichen Baum-bestand auf und ist nur in seinen Rand-bereichen mit Strassenbelägen versiegelt. Das Ensemble entstand im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts und ist von der Moosmatt-, der Eichmatt-, der Volta- und der Rhynhauser Strasse eingefasst.
Der Erismannhof in Zürich beschreibt eine fünfgeschossige Wohnanlage in Zürich Aussersihl an der Ecke Erismann- und Hohlbahnstrasse. Das aus insgesamt fünf freistehenden, jedoch die Strassen begleitenden Baukörpern bestehende Ensemble, in dessen langgestrecktem Innenhof sich zudem heute ein städtischer Kindergarten befindet, entstand zwischen 1926 bis 1928 und wurde zwischen 1989 und 1991 umfassend saniert.
Fluchtmöglichkeiten im Aussenraum
Die Berliner Granitzstrasse ist ein viergeschossiges Haus unweit des S-Bahnhofs Pankow. Das Gebäude wurde zwischen 1901 und 1910 errichtet und befindet sich in Privatbesitz. Der gründerzeitliche Bau ist geprägt von einer maximalen Raum-ausnutzung durch Seiten- und Querflügel, seine Qualitäten im Dazwischenwohnen zeigen sich in den vielfältigen Fluchtmöglichkeiten im Aussenraum.
Das Ensemble an der Zürcher Hellmutstrasse liegt unweit des Erismannhofs, ebenfalls an der Hohlstrasse, Ecke Hellmutstrasse und entstand in den Jahren 1990 bis 1991. Das Ensemble besteht aus einem dreigeschossigen Riegel und einem quadratischen Kopfbau, von dem breite Laubengänge die Wohnungen erschliessen. Das Objekt ist genossenschaftlich organisiert und verwaltet sich selber.
Beim Werk Uster, einem ebenfalls genossenschaftlich organisierten Wohnobjekt, finden sich neben der Verwaltungsform architektonische Parallelen zu dem zuvor aufgeführten Projekt: Auch dieses ist dreigeschossig, nur knapp sieben Jahren jünger. Hier wie dort besteht die Fassade aus einer steinsichtigen Kalksteinfassade, die eine Unfertigkeit suggerieren und zur Aneignung motivieren soll. Darüber hinaus erfolgt auch hier die Erschliessung mittels überbreiter Laubengänge, die sich die Bewohner ebenfalls rege angeeignet haben. Die Adresse entspricht dabei dem Projektnamen.
Das Buch dazu
Juppien, Angelika; Zemp, Richard: Atlas des Dazwischenwohnens: Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle. Hrsg. von der Hochschule Luzern, Institut für Architektur (IAR) und Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP). 1. Auflage. 184 Seiten. Zürich: Park Books, 2022. ISBN 978-3-03860-301-6. CHF 43.90