15:24 VERSCHIEDENES

Warum der Aletschgletscher abrupt die Richtung ändert

Teaserbild-Quelle: Marco Herwegh

Auf seinem Weg Richtung Tal ändert der Aletschgletscher mehrmals abrupt seine Fliessrichtung. Forscher des Instituts für Geologie der Universität Bern konnten nun nachweisen, dass diese Richtungswechsel auf Störungszonen zurückzuführen sind.

Aletschgletscher vor Eggishorn

Quelle: Marco Herwegh

Blick auf den Aletschgletscher, der vor dem Eggishorn eine 90°-Wende in seiner Fliessrichtung vollführt.

Wer öfters topografische Karten der Schweiz betrachtet, habe sich vielleicht auch schon über die teilweise abrupten Richtungswechsel in den Fliessrichtungen von Alpinen Gletschern gewundert, hiess es unlängst in einer Mitteilung der Universität Bern. 

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellt der Aletschgletscher dar, wo am berühmten Konkordiaplatz oder vor dem Eggishorn urplötzlich Richtungswechsel von rund 90 Grad auftreten. Doch wie können diese gewaltigen Eismassen so einfach umgeleitet werden?

Genau dieser Frage ist ein Forschungsteam des Instituts für Geologie der Uni Bern zusammen mit dem Bundesamt für Landestopografie Swisstopo nachgegangen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Alpentäler sowohl vom Klimawandel als auch von tektonischen Bedingungen stark beeinflusst werden.

3D-Modell eines Störungszonenmusters

Das Team erstellte basierend auf einer Kombination von Fernerkundung, computergestützten 3D-Modellierungen und Feldanalysen im hochalpinen Gebirge mit Bergführern ein digitales 3D-Modell eines sogenannten Störungszonenmusters. Dieses entstand ursprünglich in grosser Tiefe im kristallinen Untergrund des Unesco-Welterbes Jungfrau-Aletsch.

Dank der Kombination von kürzlich durch die ETH Zürich publizierten Daten zu Felsoberflächen konnte das Forschungsteam das Zusammenspiel von Gesteinsdeformationen im Untergrund mit Oberflächenprozessen wie der Gletschererosion verknüpfen – und so schliesslich die Richtungsänderungen des Aletschgletschers erklären.

Die entsprechende Studie wurde kürzlich im Fachjournal «Terra Nova» publiziert.

Aletschgletscher Untersuchung Störungszone

Quelle: Marco Herwegh

Angeseilt untersucht Ferdinando Musso Piantelli vom Aletschgletscher aus eine Störungszone im kristallinen Felsgestein.

Aletschgletscher Morphologische Einschnitte in Felswänden

Quelle: Marco Herwegh

Morphologische Einschnitte in den steilen Felswänden des Unesco-Welterbes Jungfrau-Aletsch zeugen von leichter erodierbaren steilen Störungszonen. Auch der Einschnitt der Grünhornlücke (Bildmitte) ist auf das präferenzielle Einschneiden durch die Glazialerosion zurückzuführen.

Frage der Gesteinsfestigkeit

Während der Entstehung der Alpen bildeten sich bei der Kollision der adriatischen mit der europäischen Platte in Tiefen von bis zu 20 Kilometern sogenannte Störungszonen. Die dortigen Granitgesteine sind in Folge hoher Temperaturen und Drucke fliessfähig und weich, weshalb sie leicht deformieren.

Diese Deformation konzentriert sich in wenigen Dezimetern bis Metern breiten, fast vertikalen Störungszonen, welche sich heute über mehrere Kilometer durchs Jungfrau-Aletschgebiet verfolgen lassen. «Unsere Untersuchungen zeigen, dass diese Störungszonen im Vergleich zu ihrem nur gering deformierten Nebengestein deutlich weniger fest sind», erklärt Ferdinando Musso Piantelli, Doktorand am Institut für Geologie der Uni Bern, in der Mitteilung.

Das Gebirge im Welterbe-Gebiet besteht aus intakten Nebengesteinsblöcken von mehreren Metern bis Zehnermetern Durchmesser, welche durch die Störungszonen voneinander getrennt sind. «Die intakten Nebengesteinsblöcke lassen sich mit Legosteinen vergleichen, die in Folge ihres Gewichtes und der Reibung ineinander verkeilt sind und so dem Gebirge seine Standfestigkeit geben», so der Doktorand.

Das Forschungsteam konnte statistisch zeigen, dass die Häufigkeit der Störungszonen zum Beispiel im Bereich des Konkordiaplatzes aber auch vor dem Eggishorn zunimmt – also genau an diesen Stellen, wo der Gletscher seine Fliessrichtung ändert. 

3D-Modell Untergrund Aletschgletscher

Quelle: F. Musso Piantelli

Dreidimensionale Darstellung des Untergrundes des Jungfrau-Aletschgletschers mit den beinahe vertikalen Störungszonen und ihrem Einfluss auf das glaziale Erosionsverhalten.

Vergangenheit kontrolliert Gegenwart

Da die Nebengesteinsblöcke eine höhere Festigkeit besitzen, setzt an der Oberfläche die Erosion – die Abtragung des Gesteins etwa durch Fliessgewässer oder Wind – vorzugsweise zuerst entlang der «weicheren» Störungszonen an. Je näher die Störungszonen beieinander liegen, umso mehr Material kann wegerodiert werden.

«Über geologische Zeiten entstehen somit von Störungszonen kontrollierte Talsysteme, in welchen Gebirgsbäche und Flüsse die Erosion weiter vorantreiben», wird Marco Herwegh, Professor für Strukturgeologie an der Uni Bern, zitiert. Je nachdem, welche Störungszonen ausgeräumt werden, können bei Kreuzungen zweier unterschiedlicher Störungssysteme Richtungswechsel in der Talachse stattfinden.

«Genau solche von Störungssystemen vordefinierte Talformen wurden während der Kaltzeiten vom Aletschgletscher als Fliessbett benutzt und in Folge glazialer Erosion weiter ausgeräumt. Es sind somit die ehemals in der Tiefe angelegten Störungszonenmuster und die Häufigkeit ihres Auftretens, welche die heutigen Fliessrichtungen des Aletschgletschers kontrollieren»folgert Herwegh.

Aletschgletscher Charakterisierung Störungszone

Quelle: Marco Herwegh

Ferdinando Musso Piantelli charakterisiert eine der vielen Störungszonen.

Gefahren für die Zukunft

Mit der Klimaerwärmung und dem Abschmelzen des Gletschereises werden steile Talflanken zu beiden Seiten des Aletschgletschers freigelegt. Aufgefüllt mit Wasser als «Leim» aufgrund des schwindenden Permafrosts in den Störungszonen und des verminderten Gegendrucks durch die schwindenden Eiskörper, kommen die intakten «Legosteine» in Bewegung.

Es entstehen Steinschlag, Felsstürze oder gar grossvolumige Massenbewegungen, wie etwa an der Moosfluh. «In diesem Sinne beeinflusst das in der Tiefe angelegte Störungszonenmuster, wo und wie stark unsere Infrastruktur in hochalpinen Gebieten durch diese Naturgefahren bedroht werden. Da die Hebung der Alpen und somit die Aktivität entlang der Störungszonen immer noch andauert, werden auch in Zukunft unsere Alpen von der Koppelung von Tektonik und Erosion betroffen sein», sagt Marco Herwegh. (pd/pb)

Zur Studie im Fachmagazin «Terra Nova»: https://doi.org/10.1111/ter.12666

Aletschgletscher Messung Störungszone

Quelle: Marco Herwegh

Ferdinando Musso Piantelli misst die Orientierung einer Störungszone im kristallinen Festgestein.

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