14:19 VERSCHIEDENES

Wanderziel Autobahnraststätte: Am Rand vom Asphaltband

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Toni Höck/Photoglob

Autobahnraststätten sind für Zwischenhalte da. Sie gewährleisten maximale Anonymität. Trotzdem nehmen sie ihren festen Platz in der Landschaft ein. Die Architektur hat «Wegwerf-Qualität», bestimmt für den schnellen, unkomplizierten Konsum. Aber stimmt das? Vier Wanderungen mit Annäherungen «von hinten» stellen die Probe aufs Exempel.

Bellinzona

Quelle: Manuel Pestalozzi

Raststätten sind Durchgangsorte mit hoher Anonymität, die völlig von der Autobahn abhängig sind. Dennoch besteht eine Wechselwirkung mit der Umgebung, wie etwa bei der Raststätte Bellinzona Sud zu erfahren ist.

Die Ursprünge von Autobahnraststätten dürften bei den historischen Karawansereien im Mittleren Osten liegen. Sie sind völlig abhängig vom Weg, an dessen Rand sie erbaut wurden. Begegnungen sind hier flüchtig, zufällig. Raststätten stehen aber keineswegs im «Nirgendwo». Und sie haben einen engen Bezug zur Landschaft. Wanderungen zu vier Raststätten auf Schusters Rappen, im Velosattel oder auf dem Kickboard, sollen dies belegen. Die Auswahl mag etwas willkürlich sein, auf jeden Fall bietet sie Stoff für Geschichten.

«Lost Place»: Restaurant Walensee

Das Restaurant Walensee an der Autobahn A3 liegt auch an der Seenroute 9 von Veloland Schweiz und am Wanderwegnetz. Mit dem Fahrrad ist sie vom Bahnhof Ziegelbrücke eine gemütliche halbe Stunde entfernt. Die Route folgt zuerst dem Linthkanal. Man passiert den 1969 eröffneten Bahnhof Weesen. Beim abgelegenen Sichtbetonbau im Stil des legendären SBB-Architekten Max Vogt hält längst kein Personenzug mehr. Für ein Weilchen geht es durch den Wald am Ostende der Ebene. Eine Brücke führt über den Escherkanal.

Dann wird es ruhig und schattig; die Seenroute 9 ist nun ein schmaler, einsamer Streifen zwischen dem Seeufer und der Steilwand des Kerenzerbergs, in dem die A3 verschwunden ist. Auch der Velo-weg führt durch Tunnels. Der erste diente einst der Eisenbahn. Der zweite ist länger, niedriger und verwinkelter, auch etwas unheimlicher. Bei der Rückkehr ans Tageslicht erscheint das Ziel direkt vor Augen. Ein Halt ist angezeigt, auch wenn es hier längst nichts mehr zu konsumieren gibt: Das Restaurant Walensee ist ein spektakulärer «Lost Place» mit ungewissem Schicksal.

Diese Raststätte existiert schon länger als ihre Autobahn. Sie empfing an der neuen Uferstrasse ab 1968 Gäste, 2003 warf der letzte Betreiber das Handtuch. Die Architektur ist bemerkenswert. Sie soll von einem Büro namens Scheu & Hauser stammen, wie Studierende der Universität Liechtenstein herausgefunden haben. Ein dortiger Lehrstuhl widmete dem «Lost Place» im Sommersemester 2021 eine «Upcycling»-Seminarwoche.

Restaurant Walensee Obstalden

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Raststätte Walensee bei Obstalden ist von der A3 nicht mehr erreichbar. Der Betrieb wurde 2003 eingestellt.

Restaurant Walensee Obstalden von oben

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_F69-14283 / CC BY-SA 4.0

In der Aufnahme aus dem Jahr 1969 wirkt das einsame Restaurant Walensee mit seiner Rampenanlage wie ein kleines Brasilia. Sicherheitsbedenken führten zur Schliessung des Restaurants. Die Ein- und Ausfädelungsstreifen der Autobahn waren zu kurz.

Das breit gelagerte, zur Fahrbahn hin auf zwei Geschosse hohe Stützen gestellte Gebäude widerspiegelt den Optimismus aus den Jahren der Hochkonjunktur. Alles sollte damals neu, modern werden. Das isolierte Restaurant ist ein kleines Brasilia am Walensee. Oder wirkt es wie die Villa eines jener staatenlosen, schwerreichen, superintelligenten Erz-Bösewichte, die in den zahlreichen James Bond-artigen Spionagefilmen der 1960er-Jahre nicht fehlen durften? Die Gaststätte ist als Panorama-terrasse hoch über der Strasse konzipiert. Die Parkplätze unter ihr und am Seeufer verbanden die Architekten mit einer eleganten, skulpturalen Rampenanlage. An ihr befindet sich auch der Eingang zum Restaurant. Im Geschoss darüber warteten Gästezimmer an einem mit Oberlichtern versehenen ringförmigen Korridor auf müde Touristen. Jetzt liegt das Innere in Trümmern.

Der Niedergang begann mit dem Tag, an dem das Restaurant eine «echte» Autobahnraststätte wurde; nach der Eröffnung des Kerenzerbergtunnels 1986 konnte sie nur noch den nach Westen orientierten Verkehr bedienen, erreichbar war sie bloss über den Parkplatz am See, der mit einer Unterführung ergänzt wurde. Der Kanton Glarus als vorletzter Eigentümer veräusserte die Immobilie an einen Investor, der Lofts und Gewerberäume in sie einbauen wollte. Diese Pläne wurden aber vom Bundesamt für Strassen (ASTRA) durchkreuzt, welches den Parkplatz am See sperrte. So ist das Restaurant, das direkt an der Überholspur steht, nur noch über den Velo- und Wanderweg erreichbar. Es gibt kaum eine Fensterscheibe, die nicht in Brüche gegangen ist, der Vandalismus hat leider ganze Arbeit geleistet. 

Jene, die die Aura von «Lost Places» lieben, wird das Restaurant Walensee nicht enttäuschen. Es gab hier schon Fotoshootings, auf Youtube ist ein aufwendig inszeniertes Musikvideo des Elektropop-Duos Lexs abrufbar. Die Rampenanlage ist intakt, der Fahrbahnübergang wurde aber gesperrt. Die Unterführung zum See ist zugänglich. Das ASTRA hat dem Eigentümer des Restaurants ein Verkaufsangebote gemacht. Werden die Parteien handelseinig, ist das Schicksal des kuriosen, architektonisch inspirierenden Baus wohl besiegelt.

Uerke aufwärts: Kölliken Nord

Auch die Raststätte Kölliken Nord liegt am Wanderwegnetz. Vom Bahnhof Kölliken geht es zuerst in Richtung Osten. Nach wenigen Schritten weist die gelbe Signaletik nach rechts, zu einer Naturstrasse. Sie folgt dem kleinen Fluss Uerke und seiner üppigen Böschungsvegetation. Nach etwa dreihundert Metern führt eine Brücke auf das andere Ufer, vorbei geht es an neueren Einfamilienhäusern und einem alten Gewerbebau. 

Die Umgebung ist grün und lauschig, das Rauschen der Pneus auf dem Asphalt bleibt stets hörbar. Nach insgesamt fünfzehn Minuten ist die entscheidende Gabelung erreicht: Links geht es zusammen mit der Uerke in die Unterführung der A1 und dann weiter in Richtung Zofingen, rechts erreicht man nach 150 Metern und einer leichten Steigung ein schmales Schwenktörchen, den offenbar normierten Hintereingang für den Fussverkehr von Autobahnraststätten.

Kölliken Nord 1971

Quelle: Toni Höck/Photoglob

Wie die Aufnahme zeigt, bestand 1971 zwischen Raststätte und Siedlungsgebiet noch ein Abstand, das nun bis zum Maschendrahtzaun reicht.

Diese Raststätte wurde 1970 eingeweiht. Sie bedient den Verkehr, der von Lenzburg und Suhr herkommend das Automekka Safenwil und dahinter die grossen Verzweigungen Wiggertal und Oftringen ansteuert. Die Architektur verantworteten Miklos Hajnos aus Zürich und Werner Brauen aus Kölliken. Sie setzten einen kompakten dreigeschossigen Baukörper in eine Asphaltfläche mit Parkplätzen.

Ähnlichkeiten mit dem fast gleich alten Restaurant Walensee sind augenfällig: Säulen stemmen das Restaurant in die Höhe und machen es schon aus der Distanz sichtbar, auch wenn es nicht hart an der Fahrbahn steht. Die Gäste haben eine Aussicht. Architekt Hajnos plante für sie ursprünglich eine Rampe, die als langgezogene Spirale in die Nordostecke eingepasst worden wäre. Sie wurde auf eine Wendeltreppe reduziert, die noch weitgehend im Original erhalten ist. Im ersten Obergeschoss des rückwärtigen Bereichs wurde eine Cafeteria eingerichtet. Vom Restaurant darüber erlaubte ein Atrium mit Oberlicht den Blick hinab auf die Tankstelle.

Die prägnanten Rundstützen wurden als Zweiergruppen zusammengefasst und in der Restaurant-Fassade mit kapitellartigen Hohlräumen in Szene gesetzt: nach Westen mit einem gerundeten «Bug»-, nach Osten mit einem rechteckigen «Heck»-Motiv. Darüber umgibt ein leichter vorkragender Storen- und Sonnenbrecherkranz das Volumen. Er schliesst die klassizistisch angehauchte Komposition nach oben ab. Kölliken Nord hat bis heute seine Grundform behalten, auch wenn das Atrium und das erste Obergeschoss verschwunden sind. Rolltreppen führen nun von hinten durch den überhohen Kioskraum direkt zum Restaurant – pardon, die Burger King-Filiale.

Ticino abwärts: Bellinzona Sud

Wanderwegschilder säumen auch den Weg vom Bahnhof der Tessiner Hauptstadt zur Raststätte Bellinzona Sud. Zu Fuss marschiert man gute 45 Minuten, das gratis im Zug mitführbare Kickboard verkürzt die Dauer. Unterwegs trifft man auf zahlreiche Architekturperlen. Der Wanderweg führt über die Passerelle der epochalen Badanstalt von Bellinzona aus den 1970er-Jahren von Aurelio Galfetti, Flora Ruchat, Ivo Trümpy und Pablo Casals Aguirre. Sie endet direkt am Fluss Ticino, dem nun stromabwärts zu folgen ist. 

Linkerhand tauchen sehenswerte öffentliche Bauten auf: die Scuola Cantonale di Commercio und der Palazzo Franscini mit dem Staatsarchiv. In der Distanz ist das Business Center Bellinzona von Mario Botta erkennbar. Über eine nagelneue, weiss gestrichene Passerelle geht es über den Fluss, dann erscheint die Raststätte. Zwei Törchen mit den bekannten Schwingflügeln gewähren Zutritt. Zwischen ihnen verläuft das gemauerte Bett des Sturzbachs Sementina, der in einem grossen Regulierbecken oberhalb der A2 so weit beruhigt wird, dass man ihn in den Ticino abfliessen lassen kann.

Bellinzona 2

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Eingangsfassade des Hotels Bellinzona Sud ist kulissenhaft als «Castello» inszeniert. Architekt Aurelio Galfetti restaurierte zur selben Zeit das Castelgrande von Bellinzona.

Bellinzona Sud 1

Quelle: Manuel Pestalozzi

Wie viele Raststätten liegt auch Bellinzona Sud an einem Wanderweg.

Bellinzona Sud aus den späteren 1980er-Jahren repräsentiert die Epoche, in der man Raststätten einen Regionalbezug gab. Im Tessin engagierte man dafür regionale Architekten. Aurelio Galfetti kam hier, wo man ausschliesslich den Verkehr nach Norden bedient, zum Zug. Zusammen mit Livio Vacchini und Claudio Pellegrini konzipierte er einen nüchternen Tankstellenpavillon im südlichen Teil des Areals. Dieser wurde kürzlich saniert. 

Nördlich der Sementina entwarf er ein Hotel, welches die Festungsarchitektur Bellinzonas ironisch und kulissenhaft imitiert. Das viergeschossige Hotel ist in die Böschung eingepasst. Die Zimmer im Erdgeschoss haben Aussensitzplätze am Maschenzaun. Auch Langzeitgäste sind hier willkommen. Für den Architekturtourismus wäre es ein ausgezeichneter Stützpunkt. Direkt auf der anderen Seite der Autobahn steht die interessante Sichtbetonsiedlung Morenal von Luigi Snozzi. Sie ist in wenigen Schritten erreichbar. Und nördlich der Sementina befindet sich der Ort Monte Carasso, dessen Planung Snozzi während vielen Jahren lenkte und wo sich auch einige seiner wichtigsten Bauten befinden.

Im Abendlicht: My Stop, Obfelden

My Stop, die Raststätte im Knonauer Amt, ist die jüngste der Schweiz und seit 2009 in Betrieb. Sie liegt am Ortsrand von Affoltern am Albis, aber jenseits der Gemeindegrenze, und mitten in einer Einfahrt in die A4 von Zürich nach Luzern. Der Bahnhof Affoltern ist 15 Gehminuten entfernt. Kein Wanderweg führt hier vorbei, der Fuss- und Veloverkehr wird über eine separate Brücke umgeleitet. Beim Gewerbegebiet von Affoltern befindet sich das obligate Törchen auf das Areal.

Das Gebäude des Büros Hotz Partner entspricht dem Raststättentyp «Balken», einer Brückenkonstruktion über der Fahrbahn. Es ist von beiden Fahrrichtungen erreichbar. Via Tankstellenshops führen Rolltreppen über ein Zwischenpodest in einen fensterlosen «Food Court» mit Läden im unteren Geschoss des «Balkens». Weitere Rolltreppen erschliessen die ausgedehnte Restaurant-Ebene darüber, wo auch ein McDonald’s angesiedelt ist. Riesige, gerahmte Fenster erlauben einen Ausblick – und von aussen einen Durchblick. Am Abend ist das Panorama spektakulär, besonders in Richtung Innerschweiz, wo das ästhetische Potenzial einer Autobahn deutlich erkennbar wird.

Knonauer Amt Hinterlichtfassade

Quelle: Manuel Pestalozzi

Mit der transparenten Metallverkleidung, die sich hinterleuchten lässt, möchte My Stop scheinbar einen «Bilbao Effekt» erzeugen. Bisher hat dieser der Raststätte nicht zum Erfolg verholfen.

Der Baukörper ist mit einer transparenten, nächtens hinterleuchtbaren Metall-Doppelfassade verkleidet, man denkt an den Traum von einem «Bilbao-Effekt». Doch My Stop war bisher leider kein Glück beschieden. Diese Raststätte ist offenbar überdimensioniert, und die Wegführung in die oberen Geschosse wohl zu umständlich. 2015 ging die erste Besitzerin von My Stop ein. Ihre Nachfolgerin befindet sich gemäss einer Internetrecherche in Liquidation. So wird sich wohl demnächst die Frage stellen, was mit My Stop geschieht. Für einen «Lost Place» ist diese Raststätte eigentlich zu jung.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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