«Kowloon Walled City»: Die einst am dichtesten besiedelte Stadt der Welt
Die Geschichte der «Kowloon Walled City» ist unglaublich. Das heute nicht mehr stehende, düstere Viertel in Hongkong galt einst als die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt. 33‘000 Menschen lebten dort auf engstem Raum und unter prekären Verhältnissen.
Quelle: Ian Lambot wikimedia CC BY-SA 4.0
Ein Luftbild der «Kowloon Walled City» von 1989: Um 1987 sollen dort 33'000 Menschen auf einer Fläche von knapp 2,7 Hektar gelebt haben. Die Stadt bestand aus wild und wahllos aneinandergebauten Hochhäusern.
Zahlreiche hohe und äusserst schmale Hochhäuser drängten sich dicht aneinander. – So dicht, dass sie alle praktisch als ein einziges, riesiges Bauwerk erschienen. So könnte man die «Kowloon Walled City» beschreiben, einen anarchistischen, gesetzlosen Stadtteil von Hongkong auf der Halbinsel Kowloon. Im Viertel glich kaum ein Gebäude dem anderen – denn erweitert und gebaut wurde in Eigenregie und ohne Plan. Eine einheitliche Form oder Höhe gab es deshalb nicht, auch kein durchgängig verwendetes Baumaterial.
Stadt der Dunkelheit ohne Tageslicht
Die «ummauerte Stadt» erstreckte sich über eine Fläche von rund 2,7 Hektar. Es war eine Art Wohnfestung, ein chaotisches und wahlloses Zusammenspiel aus Hochhäusern, in dem Gitter-Balkone an Backsteinbauten anschlossen und tausende Leitungen und Rohre alle Oberflächen bedeckten. Vor allem Kabel prägten die engen Häuserschluchten, verliefen mal vertikal vom Boden bis zu den Fernsehantennen auf die Dächer hinauf oder zogen sich horizontal wie ein Spinnennetz durch den riesigen Häuserwald.
Die «Kowloon Walled City» ist auch unter dem Namen «Stadt der Dunkelheit» bekannt. Denn wer einen Fuss in sie setzte, liess das Tageslicht hinter sich, wie das Online-Magazin «AtlasObscura» 2020 in einem ausführlichen Artikel zum Stadtteil berichtete. In ihrem Inneren gab es Hunderte von Gassen, die teils nicht einmal einen Meter breit waren. In die untersten Etagen im wirren Netzwerk aus Gängen drang kaum Tageslicht. Hinzu kam, dass die düsteren Wege oftmals von Müll gesäumt waren, der achtlos liegengelassen wurde.
Auch zahllose stümperhaft angelegte Wasserleitungen durchzogen das Viertel und verliefen entlang der Wände und Decken – die meisten davon waren undicht und verrostet. Wegen der tropfenden Leitungen gehörten zur Standardausrüstung der Bewohner und auch der Postboten – die dort zu ihrem Leidwesen Briefe und Pakete austragen mussten – meist Hut und Regenschirm.
Quelle: Ian Lambot, wikimedia CC BY 4.0
Grund für den Titel «Stadt der Dunkelheit»: Blick in eine der düsteren Gassen, in die unteren Etagen drang praktisch nie Tageslicht vor. Unkontrolliert verlegte Kabel und Leitungen prägten das gesamte Netzwerk innerhalb des Stadtteils.
500 Gebäude, 8'500 Wohnungen und 33'000 Einwohner
Vor allem für Postboten war das Viertel ein Albtraum. Zwar beschränkte sich eine Auslieferungsroute auf eine vergleichsweise kleine Fläche. Aber diese hatte es in sich: Die «Walled City» umfasste mehr als 500 Gebäude, die alle zwischen 10 und 14 Stockwerke zählten, in denen total etwa 8‘500 Wohnungen untergebracht waren und die zeitweise von mehr als 33‘000 Menschen bewohnt wurden. Die Wohnungen waren mit einer durchschnittlichen Fläche von 20 Quadratmetern sehr klein, wurden aber meist von ganzen Familien bewohnt.
Aufgrund der extrem hohen Bevölkerungsdichte, die sich nach Schätzungen auf 1,3 Millionen Einwohner pro Quadratkilometer belief, der teilweise fehlenden Trinkwasser- und Stromversorgung sowie einer inexistenten Abwasserentsorgung galt die «Walled City» lange als Schandfleck und stand für tiefen Lebensstandard, schlechte Hygiene und eine hohe Kriminalitätsrate. Der Stadtteil war denn auch das Zentrum von Drogenhandel und Prostitution in Hongkong und wurde zeitweise sogar von den Triaden, einer mafiaähnlichen Organisation, kontrolliert.
Trotzdem gab es dort aber auch gewöhnliche Geschäfte, Handwerksbetriebe, Tempel und sogar Schulen. Zudem gab es in der «Walled City» ein Gemeindezentrum in Form eines offenen Innenhofs, wo es einen sogenannten Yamen, also eine lokale Behördenstelle, gab. Der Yamen im Herzen des Viertels war für die Bewohner eine wichtige soziale Anlaufstelle, wo sie sich trafen. Aber auch die Hausdächer wurden gerne als Treffpunkte genutzt, die wegen der dichten Bebauung meist miteinander verbunden waren und problemlos über provisorische Stege erreicht werden konnten.
Quelle: Gemeinfrei
Um 1843 errichtete China an der Spitze der Halbinsel Kowloon den militärischen Aussenposten «Kowloon Walled City». Eine Aufnahme von 1898 zeigt das Fort, das zu diesem Zeitpunkt eine chinesische Enklave war.
«Walled City» war einst Militäraussenposten
Recht und Ordnung existierten in der «Walled City» nicht. Im Grunde lebte dort eine anarchistische Gesellschaft, die sich selbst regulierte. Die Gründe dafür liegen in ihrer komplexen Entstehungsgeschichte, die mit dem ersten Opiumkrieg von 1839 bis 1842 ihren Lauf genommen hatte. China unterzeichnete damals einen Vertrag, mit dem es einen Teil seines Territoriums an Grossbritannien abtrat. Dabei handelte es sich um die damals fast menschenleere, gebirgige Insel Hongkong gegenüber der Halbinsel Kowloon.
Im Jahr 1843 errichtete China dann an der Spitze der Halbinsel Kowloon einen 213 Meter langen und 126 Meter breiten militärischen Aussenposten, mit einem Büro für einen Mandarin respektive einen Regierungsbeamten, und einer Kaserne für 150 Soldaten, die von einer vier bis sechs Meter hohen Mauer umgeben war. Der Aussenposten wurde «Kowloon Walled City» genannt und sollte eine gut sichtbare chinesische Militärpräsenz in der Nähe der neuen britischen Kolonie bilden.
Nachdem 1860 der zweite Opiumkrieg ausgebrochen und China den britischen und französischen Streitkräften unterlegen war, sprach ein neuer Vertrag Grossbritannien die gesamte Halbinsel Kowloon zu. Dies jedoch mit einer einzigen Ausnahme – der «Walled City». Vergeblich versuchten die britischen Behörden in den folgenden 30 Jahren die Kontrolle über sie auszuhandeln. Auch als 1898 in einem neuerlichen Vertrag Hongkong, Kowloon und weitere Gebiete an Grossbritannien abgetreten wurden, blieb die «ummauerte Stadt» stets unter chinesischer Kontrolle.
Quelle: Ian Lambot, wikimedia, CC BY 4.0
Eine Luftaufnahme von 1973 der «Kowloon Walled City»: Der unkontrollierte und wahllose Bau von Hochhäusern nahm langsam seinen Lauf. Später sollte das Stadtviertel über 500 Gebäude zählen.
Die «Walled City» als geschützte Zone
Damit war die «Walled City» zu einer chinesischen Enklave geworden. Als dann 1899 Gerüchte kursierten, wonach sich chinesische Soldaten dort sammelten, nahmen britische Truppen die Anlage ein. Dies, obwohl China nie auf seinen Anspruch verzichtet hatte. Danach wurden dort einige kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen gebaut sowie Grundstücke innerhalb des früheren Forts erworben. Da es hierbei aber so gut wie keine administrative Kontrolle gab, wurde der Ort bald zu einem Slum.
Zwar versuchte die Hongkonger Regierung das inoffizielle Viertel mehrmals zu räumen, wurde dabei aber stets von der chinesischen Regierung blockiert, die darauf beharrte, dass die «Walled City» zu ihrem Territorium zählte. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges blieb die prekäre Situation der «ummauerten Stadt» deshalb ungelöst. Nachdem Japan im Zweiten Weltkrieg dann Hongkong besetzte, wurden einige Teile des Viertels und des einstigen Forts zerstört.
Wiederum später, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, erklärte die Volksrepublik China die Absicht, die Enklave erneut aktiv nutzen zu wollen. Daraufhin strömten Tausende von Flüchtlingen nach Kowloon und liessen sich bei den Überresten der «ummauerten Stadt» nieder. 1947 campierten dort mehr als 2000 Menschen in baufälligen Hütten, dabei wohl bedacht genau auf den von China geschützten Flächen des früheren Militärpostens der «Walled City».
Im Laufe der Zeit kamen jedoch immer mehr Menschen, wodurch das Lager immer überfüllter wurde und zunehmend verwahrloste. Der Absichtserklärung von China folgten ausserdem keine Taten, so dass das Viertel immer weiter vernachlässigt wurde.
Quelle: Ian Lambot, wikimedia, CC BY 4.0
Eine Aufnahme von 1975 zeigt die Südseite der «Walled City» von Aussen. Im Laufe der Zeit entstand eine Art Mauer aus Hochhäusern, die die Stadt immer mehr von der Umgebung abschottete.
Eine Stadt ohne Gesetze
Die Behörden von Hongkong schmiedeten um 1948 abermals Pläne für eine Räumung, die dann auch umgesetzt wurden: Die Flüchtlinge wurden weggewiesen und ihre Hütten abgerissen. Doch innerhalb von nur einer Woche kehrten sie zurück und bauten ihr Zuhause wieder auf. Es folgten heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei, während die chinesische Regierung die Flüchtlinge stets dazu ermutigte, gegen die «britische Unterdrückung» anzukämpfen.
Es folgte ein langjähriges Hickhack zwischen den beiden Regierungen. Das chinesische Aussenministerium bestand weiter darauf, dass es die Hoheitsgewalt über das Viertel behält. Schlussendlich lenkte Hongkongs Regierung dann ein und die Räumungspläne wurden gestoppt. Die «Walled City» wurde daraufhin von einem Flüchtlingslager in etwas Dauerhaftes umgewandelt – eine neue Stadt wurde auf den Ruinen der alten Militäranlage gebaut.
Das waren dann aber die Anfänge, die ihr später den Titel «Stadt der Dunkelheit» einbringen sollten. Denn nach den Unruhen von 1948 hatte sich die Regierung von Hongkong ähnlich wie jene von China – die den unsicheren Status der Stadt für politische Zwecke nutzte – dazu entschieden, auf eine Politik der «Nichteinmischung» zu setzen.
Deshalb war die von beiden Seiten völlig vernachlässigte «Walled City» praktisch eine Stadt ohne Gesetze. Es gab keine Steuern, es fehlte an einem Gesundheitssystem, es gab keine Stadtplanung und auch keine Polizeipräsenz. In der Folge begann die Kriminalität zu blühen.
Quelle: Gemeinfrei
Blick auf die einzelnen Hochhäuser der Walled City. Die Bewohner nutzten die Dächer als Treffpunkte, die durch die enge Bebauung über provisorische Stege problemlos überquert werden konnten.
Unkontrollierter und planloser Bau von Hochhäusern
Die Bewohner konnten sich hinsichtlich der stark wachsenden Bevölkerungszahlen aussergewöhnlich gut anpassen. Denn als immer mehr Menschen in die «Walled City» strömten, orientierten sich die lokalen «Bauherren» an den in Hongkong vermehrt gebauten modernen Hochhäusern und taten es ihnen nach. Als Ergebnis davon wurden schmale Wohntürme auf Fundamenten gebaut, die oft nur aus dünnen Betonschichten bestanden, die in flache Gräben gegossen wurden.
Da in der Stadt natürlich auch keine Baugenehmigung erforderlich war, wurden die Gebäude vergleichsweise sehr schnell gebaut. Dies aber mehr schlecht als recht: Absenkungen und Setzungen waren an der Tagesordnung. Die Häuser wurden planlos wie Bauklötze zusammengesetzt, so dass die «Walled City» später zu einem soliden «Stadtblock» aus tausenden individuellen Einheiten zusammenwuchs. Viele Jahre konnte der Ort auf diese Weise unkontrolliert wuchern, ohne dass Konsequenzen drohten.
Erst 1963, über ein Jahrzehnt nach dem letzten Räumungsversuch, wollte Hongkong erneut intervenieren, indem die Behörden einen Abrissbefehl für eine Ecke der Stadt ausstellten und vorschlugen, die Bewohner in eine neue Siedlung in der Nähe unterzubringen. Natürlich stiessen aber auch diese Pläne auf heftigen Widerstand und das Vorhaben scheiterte ein weiteres Mal.
Quelle: Roger Price from Antwerp, Belgium, wikimedia CC BY 2.0
Eine Aussenseite der «Walled City» um 1991. Zwei Jahre später sollte die «Stadt der Dunkelheit» abgerissen werden.
Räumung sechs Monate im Voraus geplant
Hongkong aber lernte aus den gescheiterten Räumungsplänen. Denn 1987 errichteten 400 Beamte des Hongkonger Wohnungsamtes Absperrungen an den insgesamt 83 Gassen, die die «Walled City» mit der Aussenwelt verbanden und drangen in die Stadt ein. Das Ziel: Jeden einzelnen Bewohner zu kontaktieren, zu befragen und zu registrieren. Denn am Vormittag war bekannt gegeben worden, dass die Stadt geräumt und an ihrer Stelle ein öffentlicher Park gebaut werden sollte.
Nur diesmal sollte es keinen Widerstand von China geben. Denn zwei Jahre zuvor hatten die Regierungen Chinas und Grossbritanniens eine Erklärung unterzeichnet, nach der die Souveränität über Hongkong am 1. Juli 1997 an China zurückgegeben werden sollte. China hatte damit keinen Grund mehr, die Räumung des finsteren Viertels zu verhindern. Das Besondere am Vorhaben war aber, dass es weit im Voraus geplant und lange Zeit geheim gehalten worden war, damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholten.
Quelle: Archangelselect - Eigenes Werk, wikimedia CC BY-SA 3.0
Am Eingang des heutigen Landschaftsparks befindet sich ein Modell, dass den endgültigen Aufbau der Stadt zeigt, bevor sie 1993 abgebrochen wurde.
2,76 Milliarden Dollar an Entschädigungen
Ein wesentlicher Aspekt des Räumungsplans waren Entschädigungen für die Bewohner. Da aber befürchtet wurde, dass eine grosse Anzahl Menschen in die Stadt strömen könnte, sollten diese Entschädigungen bekannt werden, begannen die Behörden sechs Monate im Voraus damit, Beweise zu den Bevölkerungszahlen in der Stadt zu sammeln. Schlussendlich sollten insgesamt 2,76 Milliarden Dollar an die Bewohner ausgezahlt werden. Die Verhandlungen zogen sich über mehrere Jahre hin.
1991 waren nur noch 457 Haushalte zu einer Einigung bereit. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits ein Grossteil der 33‘000 Bewohner von selber ausgezogen. Nur wenige harrten bis zum Schluss in der «Walled City» aus und wurden 1992 dann endgültig durch die Polizei vertrieben. Nachdem die Stadt geräumt war, spannten die Behörden einen hohen Maschendrahtzaun um das Gelände, um eine erneute Besetzung zu verhindern. Wiederum ein Jahr später starteten dann die Bauarbeiten für den lange geplanten Abbruch.
Innerhalb von nur einem Jahr war das Stadtviertel verschwunden. Bei den Abbrucharbeiten kamen sogar noch einige alte Fragmente des ursprünglichen Militärpostens zum Vorschein, darunter drei Eisenkanonen, die dort heute in einem Museum ausgestellt sind. Nach dem Abbruch wurde am Standort des einstigen «Schandflecks» von Hongkong ein Landschaftspark angelegt, der die dunkle Vergangenheit endgültig überschatten sollte.
Quelle: Wpcpey - Eigenes Werk, wikimedia CC BY-SA 4.0
Blick auf den «Kowloon Walled City Park», der nach dem Abbruch der Walled City angelegt wurde.
Lesetipp
Das Online-Magazin «AtlasObscura» hat 2020 einen ausführlichen Bericht über die «Walled City» veröffentlicht. Dieser bietet einen umfassenden Einblick in das tägliche Leben der Bewohner, die Arbeit der Postboten aber auch in die verschiedenen Bereiche innerhalb der Stadt, wie dem Rotlicht- oder dem Handwerksviertel.
Zum Artikel (Englisch): www.atlasobscura.com