09:38 VERSCHIEDENES

Klaus Humpert: «Faul sind die Menschen auch in Zukunft»

Geschrieben von: Stefan Breitenmoser (bre)
Teaserbild-Quelle: Wilfried Dechau

Im Oktober ist der Freiburger Stadtplaner, Architekt und Vordenker Klaus Humpert mit 91 Jahren gestorben. Kurz vor dem Tod sprach das «Baublatt» mit ihm über Abkürzungen, Trampelpfade, mittelalterliche Stadtplanung und was wir von seiner lebenslangen Forschung lernen können.

Wie sind Sie zu dem «Phänomen des menschlichen Laufens», wie Sie es im Buch «Lauf-Spuren» nennen, gestossen?

Klaus Humpert: Ich war im Sonderforschungsprojekt «Natürliche Konstruktionen» mit Frei Otto in Stuttgart involviert. Da haben wir uns auch das Laufen besonders vorgenommen und da bin ich darauf gekommen, dass mich das Laufen sehr interessiert. Besonders interessierte mich aber das Besetzen. Das heisst, wie die Menschen eine Fläche oder einen Standort belegen oder eben besetzen. Beim Laufen habe ich im Grunde genommen vor allem Selbstversuche gemacht. Ausserdem habe ich über Jahre Trampelpfade gesammelt und damit Forschung betrieben. Zu meinem Geburtstag haben mir dann ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Buch «Lauf-Spuren» geschenkt. Die Fotos sind alle von mir und auch die Texte sind von mir diktiert im Laufe der Zeit.

Hat sich Ihr Laufen durch Ihre Selbstbeobachtung verändert?

Nein. Das hat sich nicht verändert. Es ging lediglich um die Bewusstmachung. So habe ich mir, wenn ich einen Weg suchte, bewusst gemacht, was ich dabei gedacht habe. Wie habe ich mich entschieden, den Weg so zu nehmen. Dann habe ich Mechanismen rausgefunden wie beispielsweise, dass man dauernd optimiert und immer mit sich im Gespräch ist. Wobei die Frage meistens ist, wo soll ich laufen, und dann gibt man sich die Antwort. Das ist der sichere Weg nachts. Oder das ist der schönere Weg. Oder vor allem: Das ist der kürzere Weg. Die zentrale Fragestellung ist eigentlich immer, wo ist der kürzere Weg. Man optimiert permanent den körperlichen Einsatz. Abkürzen ist ja nichts anderes als Energiesparen.

Sie würden deshalb sagen, der Mensch hat seit jeher abgekürzt?

Natürlich. Das machen auch alle Tiere. Die Spuren von Kühen sind genau die gleichen wie diejenigen der Menschen. Auch die Kühe kürzen ab. Aber wenn sie Gras fressen, tun sie das nicht, da laufen sie hin und her. Aber wenn sie nach Hause gehen, dann machen sie genau die gleichen Abkürzungen und wenn sie ein Hindernis haben, laufen sie ganz knapp an diesem Hindernis vorbei. Wir haben verschiedene Versuche gemacht. So haben wir beispielsweise Leute dabei fotografiert, wie sie eine unglaubliche Energie aufbringen, um abzukürzen. Im Winter sind sie zum Beispiel immer ganz knapp um ein Blumenbeet herum gelaufen und dadurch hat sich an dieser Stelle Eis gebildet. Das hat sie aber gar nicht gestört. Sie sind lieber auf dem Eis gelaufen, nur damit sie abkürzen können.

Würden Sie sagen, die Gesetzmässigkeiten des Laufens sind vor allem Weglänge, Sicherheit, Bodenbeschaffenheit, Steigung und vielleicht noch die Schönheit des Wegs?

Ja. Wenn sie spazieren gehen, Lustlaufen habe ich das genannt, dann geht es nicht um die Abkürzung. Dann macht man einen Rundweg. Es ist ein Unterschied, ob ich von A nach B will. Dann läuft ein ganz bestimmtes Programm ab, da möchte ich hin und am besten kurz. Aber beim Spazieren ist nur der Weg wichtig und nicht die Energieersparnis. Es geht um die Schönheit, den Blick und vieles andere.

Sie würden daher sagen, der Naturweg, wie Sie ihn nennen, ist eigentlich immer die Ideallinie?

Ja. Sie müssen sich vorstellen, die Menschheit hat in 99,99 Prozent der Zeit niemals Wege gebaut. Ein Weg ist immer entstanden. Das heisst, es ist immer ein Trampelpfad. Es ist ein in den Boden Abdrücken der Laufoptimierung. Erst in modernerer Zeit – die Römer haben damit angefangen – wird der Weg geplant. Deshalb konnten wir immer stark zwischen Kunst- und Naturweg unterscheiden. Denn der Kunstweg folgt nicht unbedingt dieser Optimierung, sondern folgt anderen Logiken wie beispielsweise der Sicherheit. Die römische Strasse wird auf Fernziele orientiert. Ein Trampelpfad hingegen beachtet eher die nahen Probleme, ob es beispielsweise feucht ist. Deswegen konnten mein Sohn Johannes und ich aus der genauen Kenntnis des Laufverhaltens den römischen Übergang über den Schwarzwald klären. Man hatte immer geforscht, aber nie rausgefunden, wie die Römer vom Rheintal an die obere Donau gekommen sind. Erst durch unsere genaue Untersuchung der Naturwege haben wir dann die römische Strasse gefunden, die eine Planstrasse ist. Die wurde abgesteckt und ausgebaut.

Wie lange haben Sie dafür gebraucht, die römische Strasse durch den Schwarzwald zu finden?

Zwei bis drei Jahre haben wir gesucht. Wir haben dann entdeckt, dass bei der Gemeinde Denzlingen ein römischer Kanal gewesen sein muss und daneben musste die alte Römische Strasse verlaufen sein, die den Ausstieg aus dem Rheintal in den Schwarzwald bedeutete. Parallel zur Strasse haben die Römer nämlich eine Fassung der Glotter gemacht. Da haben wir zum ersten Mal den Römerweg gefunden, weil der Bach auf über 2,5 Kilometer völlig gerade in der Gegend liegt, was es in der Natur gar nicht gibt. Die Natur macht niemals auf 2,5 Kilometer eine ganz gerade Linie.

Sie sagen, nicht nur die Bauwerke sind sehr alt, sondern auch die Wege. So beruht laut Ihrer Annahme das Bundesstrassennetz im Gegensatz zum Autobahnnetz zu grossen Teilen auf alten Naturwegen. Davon profitiere man bis heute. Denn das Problem der Naturwege sei nicht die Linienführung, sondern der unzureichende Bauzustand gewesen.

Ja. Die Linienführung ist gut, denn die geht immer von Punkt zu Punkt. Das Problem ist, dass man durch die Erfindung der Motorkraft die Geschwindigkeit erhöhen konnte. Wenn man aber die Strassenführung günstiger macht, damit man schneller fahren kann, tritt das Phänomen ein, dass man sich weiter bewegt und trotzdem schneller ankommt. Aus diesem Grund hat das ganze Schnellstrassennetz ein anderes Charakteristikum als das Naturnetz. Letzteres ist viel feingliedriger und hat unglaublich viele Abkürzungen. Das moderne Netz hingegen muss Boden sparen. Im Naturnetz gab es eine rechtwinklige Abzweigung überhaupt nie. Die gab es höchstens an einer Kreuzung von zwei grossen Fernwegen. Aber an dieser Stelle ist niemand abgezweigt. Wer sich entschieden hat, auf den anderen Querweg überzusteigen, der ist Kilometer davor schon abgewichen. Wenn das Ziel 20 bis 30 Grad aus der Lauflinie wandert, dann löst sich der Weg und macht sich einen neuen. Das haben wir nachgewiesen. Ein Auto hingegen macht das nie. Die Autoverkehrsnetze, die werden ganz nah herangeführt und machen einen rechten Winkel. Deswegen würde ein Autonetz niemals für Fussgänger verwendbar sein. Die würden ganz andere Wege in die Gegend legen.

Also kann man zusammenfassen, bis zum motorisierten Verkehr waren die meisten Strassen sehr alt?

Ja, die sind alle sehr alt und allesamt Sterne. Eine wichtige Stelle hat wahnsinnig viele Zuläufe und das führte dann, als der Verkehr zugenommen hat, im Zentrum, wo alle Wege zusammenkommen, zu grossen Verkehrsproblemen. Das hat schon begonnen, als noch Fuhrwerke gefahren sind. In Paris hat man deshalb den Boulevard erfunden, weil die Fernwege alle auf den Marktplatz führten. Die Franzosen haben also sehr früh erkannt, dass sie eine Ringstrasse um ihr mittelalterliches Netz ziehen müssen, damit es im Mittelpunkt nicht zu einer Überlastung kommt. Das ist ein Problem, dass wir heute bei allen Verkehrsnetzen und auch bei deren Umbau haben. Denn das historische Netz zielt auf die Mitte, was wiederum dazu führt, dass dort wahnsinnige Überlastungen auftreten. Das Autobahnnetz hingegen hat eine ganz andere Struktur. Das ist immer ein Vorbei-Netz. Es geht an den Zielen vorbei, niemals in das Ziel rein. Die Zürcher haben ja damals kurz vor einer Katastrophe gestanden, weil sie mehrere Autobahnen in das Zentrum geführt haben. Eine Autobahn muss aber am Zielpunkt vorbeiführen und dann gibt es extra eine Abzweigung, um in die Stadt hineinzufahren. Momentan ist das fast nicht mehr korrigierbar. Dieser Ausspruch ‹Ausbau statt Neubau› war einer der katastrophalsten Begriffe. Dass man gesagt hat, wir bauen die Strasse immer grösser. Aber an der historischen Strasse liegen die Dörfer und die Gasthäuser und wenn die Strasse immer grösser wird, dann zerstört sie die ganzen Siedlungsstrukturen. Dieses Problem wird meistens nicht gesehen.

Sie sind von Haus aus Architekt, waren dann aber lange Stadtplaner in Freiburg und haben sich vertieft mit Stadtplanung auseinandergesetzt, waren auch Professor für Städtebau an der Universität in Stuttgart. Würden Sie sagen, dass die heutige Stadtplanung dem menschlichen Laufverhalten entgegen läuft?

Das glaube ich nicht. Eine Stadt ist immer ein Ort, wo die Abkürzungen im Grunde genommen nicht optimiert sind. Die Stadt hat ein Netz, welches meistens – insbesondere in Amerika – rechtwinklig ist. Und in einem rechtwinkligen Netz können sie keine Abkürzung machen. Eine Abkürzung ist immer eine Diagonale. Deswegen hat man bei den Hochleistungsstrassen der letzten zwei Jahrhunderte, beispielsweise in Barcelona oder in Washington, überall Diagonalen reingelegt. Mit der Folge, dass die Diagonalen wahnsinnig viel Verkehr angezogen haben. Aber im Grunde genommen kann man den Hochleistungsverkehr nicht den kürzesten Weg fahren lassen.

Aber kann man da als Stadtplaner dem menschlichen Laufen wieder entgegenkommen?

Ja, aber natürlich. Die ganzen Fussgängerzonen sind so konzipiert. Die Menschen laufen ja heute keine grossen Strecken mehr. Es läuft fast kein Mensch mehr in eine Stadt, die 20 Kilometer entfernt ist. Aber die Fahrradnetzstruktur ist jener der Fusswege eigentlich sehr ähnlich. Und die kann eigentlich dieses Direktwegenetz, das die Fussgänger früher hatten, wieder verwenden. Deswegen ist ein grosser Vorteil, wenn es ihnen gelingt, ein altes Netz von den Hochleistungsbelastungen zu befreien und den Fahrradfahrern zurückzugeben. Denn die Fussgänger laufen heute keine langen Strecken, aber die Fahrradfahrer bewegen sich wieder in Entfernungen von 10 bis 20 Kilometern und bevorzugen natürlich dieses Naturnetz.

Also könnte es beispielsweise ein Ansatz für die moderne Stadtplanung sein, dass man versucht, die alten Naturwege vom motorisierten Verkehr zu entlasten und für die Fahrradfahrer freizugeben?

Das macht doch die Stadtplanung schon seit längerer Zeit. Aber natürlich müssen sie dann einen Ersatz schaffen, wo weder Fahrradfahrer noch Fussgänger sind. Denn die Hauptbewegungen sind nach wie vor Motorbewegungen, welche nicht einfach durch Handauflegen weggehen. Deshalb muss das Netz umgebaut werden. Aber der Umbau macht riesigen Ärger, weil er an einer anderen Stelle wieder die unangenehme Seite der Rechnung bringt, nämlich eine Strasse. Deswegen ist es immer der grösste Erfolg, wenn sie einen Tunnel bauen. Dann hat man das Problem oben weg. Aber der Tunnelbau ist erstens teuer und zweitens kann man nicht das gesamte Netz unter den Boden legen, auch wenn ein Tunnel sicher ein Lösungsansatz sein kann, wie man ja in der Schweiz sieht.

Aber eine Bewusstmachung der alten Naturnetze könnte bei der Planung eines neuen Netzes schon hilfreich sein?

Das könnte hilfreich sein. Aber ich habe in der Planung immer wieder festgestellt, dass man damit auf wenig Gegenliebe stösst. Wenn ich gesagt habe: «Liebe Leute, dieser Verkehrsweg ist schon 3000 bis 4000 Jahre alt. Lasst uns doch diesen Weg jetzt nicht einfach schlachten und eine Grünfläche machen. Lasst ihm doch die Bewegungsstruktur für Fussgänger und Fahrradfahrer offen.» Aber man hat nicht viel Resonanz, wenn man versucht, ein gewisses Bewusstsein für die alte Struktur zu schaffen. Da steht das Tagesgeschäft im Weg. Aber versuchen Sie es mal. Sie haben in der Schweiz eine ganz gute Wegforschung, was Römerstrassen und Ähnliches betrifft. So haben Sie beispielsweise eine schöne Römerstrasse, die von Freiburg nach Augusta Raurica führt und trotzdem ist sie heute überall auf der B3. Und bei neuen Strassenprojekten wie der B3 wird an keiner Stelle die Erinnerung an die alte Struktur sichtbar gemacht. Hier im Dreisamtal, wo ich wohne, haben wir eine alte Weggabelung, die ist sicher 2000 Jahre alt. Aber jetzt ist sie abgeschnitten und den Feldern zugeschlagen worden, weil alte Wegstrukturen nicht rechtwinklig sind, sondern immer Abzweige machen – wie Zweige von Bäumen. Und die moderne Landwirtschaft mag solche Spitzen und Gabeln nicht. Denn der Traktor kann besser fahren, wenn die Felder rechtwinklig sind.

Sie haben nachgewiesen, dass mehr Trampelpfade entstehen, wenn – wie beispielsweise in Parkanlagen – viele rechte Winkel vorkommen, weil die Leute abkürzen.

Ja, die Planer wie auch die Gärtner machen wohl der Grafik wegen viele rechtwinklige Anordnungen. Und dann wundern sich die Gärtner, wieso die Ecken in den Grünanlagen immer abgeschnitten werden. Aber wenn man das ein bisschen wüsste, könnte man die Wege gleich so anlegen, dass kein Mensch einen neuen Weg macht. Auf jedem Plan kann man das sofort einzeichnen. Sie können die Leute um 20 bis 30 Grad abweichen lassen, das ertragen sie. Aber wenn Sie die Leute zu sehr aus der Richtung, wo sie hinwollen, abdrängen, dann verlassen sie die schön vorgegebenen Wege und laufen die kürzere Strecke. Da haben sie auch recht.

Sie haben sich auch viel mit mittelalterlicher Stadtplanung befasst, sozusagen ihr zweites Steckenpferd. Wie gehen diese zwei Themen, das Laufen und die mittelalterliche Stadtplanung, für Sie zusammen?

Bei der Forschung über die mittelalterliche Stadtplanung ist es immer sehr gut, wenn man sich alte Pläne besorgt. So ab 1850 wurden die ersten ordentlichen Pläne gemacht. Und wenn Sie sich dann die Strassen ansehen, bemerken Sie, dass sie vorwiegend noch auf den alten Wegstrukturen verlaufen. In dieser Hinsicht sind Kenntnisse und das Einzeichnen des alten Wegenetzes sehr hilfreich. In meinem Buch zeige ich auf, wie sich in Freiburg ein lockeres Wegenetz fächerartig über die Altstadt ausgebreitet hat. Die Kernziele sind sofort angefahren worden. Als die Stadt geplant wurde, lag darunter also eine Art Fächer. Ein Fächer ist aber für eine Stadtplanung keine gute Grundlage, das wissen die Karlsruher. Das konnte man im Barock machen, aber trotzdem ist das eine extrem hinderliche Struktur, weil Fächerwege keine ökonomischen Erschliessungen sind. Denn ein Tortenstück ist keine gute Erschliessung. Deswegen haben sie in Freiburg beispielsweise eine grosse Diagonalstrasse geschlachtet. Es gibt heute Oberlinden und Unterlinden und das ist genau die Strecke, wo diese Diagonale entlangführte. Das heisst, dass in den Linden noch die Erinnerung an die alte Strasse erhalten ist. Aber das interessiert die Freiburger nicht, weil sie es sowieso nicht wahrhaben wollen, dass sie geplant wurden.

Wieso?

Die mittelalterlichen Städte sind alle beleidigt, wenn man ihnen sagt, ihre Stadt sei geplant worden. Das finden sie ganz fürchterlich, denn sie wollen gewachsen sein. Aber da kann ich ihnen auch nicht helfen. Nehmen Sie beispielsweise die Zähringer, die Bern geplant haben. Wenn Sie den Grundriss von Breisach betrachten, dann ist er mit jenem von Bern fast identisch. Die Stadt ist auch vom selben Mann, dem letzten Zähringer Berthold dem Fünften, ausgebaut worden. Auf dem Berg oben so eine gebogene Wurst. Was ich gefunden habe bei der mittelalterlichen Stadtplanung war, dass sie so besessen waren von den Kurven. Die wollten unbedingt die Kurven und haben sie sogar sehr aufwändig mit dem Seil eingemessen. Diese Orgien von Kurven findet man nur hier in Mitteleuropa und vornehmlich in Deutschland. Denn was ist schon die Gotik anderes als eine Orgie von unglaublich vielen Kreisen, die miteinander ein System bilden. Mein Beitrag war, das auf den Tisch zu legen. Aber bisher haben sich die Städte geweigert, den Ball aufzunehmen. Ich werde aber bald nicht mehr da sein und dann sollen sie mal kucken.

Sie sagen also, dass die Städte viel mehr geplant wurden, als man lange Zeit angenommen hat?

Ja, vor allem beim Grundriss der Stadt. Denn beim Grundriss haben sie festgelegt, wo erschlossen und wo gebaut wird. Zentrales Ziel war die Ausweisung von Hofstätten. Wenn der Stadtplaner weggegangen ist, hat er eine ganze Menge von klar ausgesteckten Grundstücken gehabt, die vergeben werden konnten an Leute, die sich verpflichten, da ein Haus zu bauen. Der ganze Trick dieser mittelalterlichen Stadtgründung war, dass man eine Fläche ausgewiesen hat, dass man 200 bis 500 rechteckige Grundstücke ausgesteckt hat. Und dann hat man gesagt: «Liebe Leute, ihr kriegt so ein Grundstück, das ihr sogar vererben könnt, aber ihr werdet verpflichtet, dort innerhalb eines Jahres ein Haus zu bauen. Wenn ihr eine Ware herstellt, werdet ihr verpflichtet, sie auf dem Markt anzubieten. Und vor allem werdet ihr verpflichtet, euch an der Verteidigung der Stadt zu beteiligen.» Damit hatten die Herrscher eine wunderbare Burg und gleichzeitig eine Burgmannschaft, ohne dass sie Geld dafür ausgeben mussten, sondern im Gegenteil noch Steuern dafür abgesahnt haben. Das war eine geniale Erfindung, die zum ersten Mal 1066 auftaucht und dann innerhalb von ungefähr 200 Jahren über 2000 Mal in Europa praktiziert wurde, bis alles voll gesetzt war.

Im Gegensatz zum Mittelalter bewegen wir uns heute vornehmlich auf vorgegebenen, schon bebauten Wegen. Was macht das mit dem Menschen, wenn das ‹Freilaufen›, wie Sie es nennen, fast nicht mehr möglich ist?

Sie können doch noch genug frei laufen. Wenn ich hier aus Freiburg rausgehe, dann bin ich in zehn Minuten im Wald. Da kann ich laufen, wo und wie ich will. Aber die Leute laufen ja gar nicht so arg viel frei. Sie joggen und fahren mit ihren Mountainbikes wie Wahnsinnige die Waldwege runter. Trotzdem glaube ich, die Möglichkeit zu wandern und die Landschaft zu erleben, gibt es noch. In der Pandemie entdecken die Leute wieder, dass sie in nächster Nähe wunderbare Wanderungen machen können. Ich bin also nicht der Meinung, dass wir schon in einer Form der Eingezwängtheit sind. Wir zwängen uns viel mehr ein, weil wir immer diesen kleinen Apparat vor uns haben. Die eigene Beschränkung oder Beschränktheit ist viel grösser. Da glaube ich allerdings, dass es zeitliche Schwankungen gibt. Wenn ich sehe, wieviel auch wieder zurückgebaut wird. Sie werden sich wundern, wie viele Strassen, die vierspurig waren, im Verlaufe der nächsten 20 Jahre wieder auf zweispurig runtergehen. Und da werden riesige Fahrradwege und Baumstreifen gemacht. Die Städte mit riesigen Strassen haben dann einen Vorteil, weil sie viel Fläche haben, die sich zurückholen und umwidmen lässt. Also in der Hinsicht glaube ich, dass den Menschen eine ganze Menge einfällt.

Sie sprechen aber auch von einer Renaissance des Laufens, weil wir uns doch ein Defizit erkaufen, wenn wir uns immer für den leichteren Weg mit Maschinen entscheiden.

Also faul sind die Leute auch in Zukunft. Glauben Sie ja nicht, dass die Menschen plötzlich die Faulheit und die Bequemlichkeit verlieren. Evolutionsmässig wären sie auch bald am Ende, wenn sie nicht ständig optimieren würden. Aber inzwischen kriegen sie Fahrräder schon für 10000 Euro. Da wird optimiert, dass es aus Karbon ist und noch leichter und noch toller, aber dafür fahren sie dann ein paar Kilometer weiter. Aber ich glaube, dass auch das Schwankungen sind. Das geht mal vor und mal zurück.

Womit beschäftigen Sie sich zurzeit?

Ich beschäftige mich seit bald 20 Jahren mit mittelalterlichen Bildern. Kennen Sie die manessische Handschrift? Die ist in Zürich erstellt worden und die früheste Miniatur. An der vermesse ich die ganze Zeit. Denn sie ist genau so gemacht wie die mittelalterlichen Städte. Aber das ist ein anderes Thema.

Zur Person

Klaus Humpert.

Quelle: Edition Esefeld & Traub

Klaus Humpert.

Klaus Humpert war einer der einflussreichsten Städtebauexperten der vergangenen Jahrzehnte. Geboren 1929 in Frankfurt wuchs er im Schwarzwald auf und studierte von 1949 bis 1954 Architektur in Karlsruhe. Ab 1955 arbeitete er bei der Staatlichen Bauverwaltung in Freiburg, wechselte aber 1965 ins Stadtbauamt Freiburg und war von 1970 bis 1982 Leiter des Planungsamtes. Von 1982 bis 1994 war er Professor für Stadtplanung an der Universität Stuttgart. Im Rahmen dieser Tätigkeit erforschte er nicht nur zusammen mit Frei Otto den Sonderforschungsbereich «Natürliche Konstruktionen», sondern widmete sich ab 1990 intensiv der mittelalterlichen Stadtplanung. Ausserdem war er über 30 Jahre lang Jurymitglied in über 500 Wettbewerben in den Bereichen Architektur, Städtebau, Landschaftsarchitektur und Kunst. So war er unter anderem Preisrichter für Stuttgart 21 oder die Erweiterung des Frankfurter Flughafens. Im Laufe seiner Karriere erhielt er diverse Auszeichnung, darunter auch den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland 2004.

Die Hauptthese seiner Forschung zur mittelalterlichen Stadtentwicklung ist, dass die Städte nicht «natürlich» gewachsen sind, sondern von Städtebauern nach einem festgelegten Schema geplant worden sind. Er entdeckte in diversen Stadtgrundrissen diverse Gesetzmässigkeiten, die er als Hinweis darauf verstand. Insbesondere interessierten ihn dabei die Kreise und Kurven, die man vor allem in mitteleuropäischen Städten findet. Dieselbe Methode wie bei den Städten kann laut Humpert auch in mittelalterlichen Miniaturen wie der Manesse nachgewiesen werden, an denen er bis zuletzt vermass. Allerdings stiess Humpert mit seinen Theorien zur mittelalterlichen Stadtplanung bei anderen Altertumsexperten auf Kritik. So widersprächen andere Forschungsergebnisse Humperts Rekonstruktionen.

«Sein genaues Beobachten, getrieben von einer kindlichen Neugierde, immer über den Tellerrand zu schauen, eröffnete ihm eine Bandbreite neuer Forschungsthemen, darunter sein Interesse an den Laufwegen des Menschen im freien Gelände», schrieb die «Bauwelt» kurz nach seinem Ableben. Denn Klaus Humpert starb am 10. Oktober im Alter von 91 Jahren. Damit verliert die Stadtplanung nicht nur einen Grossen seines Fachs, sondern vor allem einen offenen Geist, einen Entdecker und Vordenker, der zusammen mit seinen Studentinnen und Studenten gerne die Stadt auf dem Velo erkundete.

Buchtipp

«Lauf-Spuren» von Klaus Humpert, Anette Gangler und Jörg Esefeld ist in der Edition Esefeld& Traub erschienen (ISBN: 978-3-9809887-1-1). Das Buch umfasst 122 Seiten. Der Preis liegt bei 50 Franken.

Die englische Version mit dem Titel «Trails, Tracks and Traces» liegt seit 2020 vor (ISBN 978-3-9818128-4-8).


Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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