Archäologie: Europas erste Bauern siedelten am Ohridsee
Am nordmazedonischen Ufer des Ohridsees siedelten vor rund 7000 Jahren Bauern, vermutlich die ersten in Europa. Das legen dendrochonologische Untersuchungen von Pfahlbauüberresten im Rahmen eines Forschungsprojekts unter der Leitung der Universität Bern nahe.
Quelle: Johannes Reich
Ausgrabungsarbeiten im Sommer 2021.
Archäologische Stätten unter Wasser wie die Überreste von Fundamenten einer Pfahlbausiedlung im Ohridsee in der Bucht von Ploča Mičov Grad sind für die Wissenschaft ein Glücksfall: Weil die insgesamt 800 Pfähle während Jahrtausenden keinem Sauerstoff ausgesetzt gewesen und weder von Pilzen noch Bakterien zersetzt worden sind, eigenen sie sich besonders gut für dendrochronologische Untersuchungen oder vielmehr sie mittels ihrer Jahrringe zu datieren. In Kombination mit Radiokarbondatierung kann das Alter des Holzes präzise bestimmt werden – und damit auch der Zeitpunkt, zu dem die Pfahlbauten errichtet worden sind.
Nachdem diese Methode bislang vor allem im Alpenraum angewandt worden ist, ist sie nun am Ohridsee erstmals ausserhalb dieser Region zum Einsatz gekommen: Im Rahmen eines Forschungsprojektes unter der Leitung der Universität Bern wurden die Pfahlreste datiert.
Dabei zeigte sich, dass der Siedlungsbau in der Bucht von Ploča Mičov Grad in verschiedenen Phasen verlaufen und sich über Jahrtausende hingezogen hat – und nicht wie bisher angenommen vor allem in der Zeit um 1000 v. Chr. stattgefunden hat. Gebaut wurde an den Ufern von der Jungsteinzeit (Mitte des 5. Jahrtausend v. Chr.) bis in die Bronzezeit (2. Jahrtausend v. Chr.) hinein. Zudem zeugt die „aussergewöhnliche Dichte“ der Pfähle laut dem Archäologenteam von einer intensiven Bautätigkeit: Im Laufe der Zeit sind hier gewissermassen Siedlungen übereinander gebaut worden.
Wiege der europäischen Landwirtschaft
Quelle: Pavel Georgiev
Ausgrabungsarbeiten unter Wasser in Ploča Michovgrad, Ohridsee, Nordmazedonien (2018–2019).
«Die präzisen Datierungen der unterschiedlichen Siedlungsphasen von Ploča Mičov Grad stellen wichtige zeitliche Referenzpunkte für eine Chronologie der Prähistorie im südwestlichen Balkan dar», sagt Albert Hafner, Professor für Prähistorische Archäologie an der Universität Bern und Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung. Die exakte zeitliche Einordung eröffneten neue Interpretationsmöglichkeiten für die gefundenen Spuren der frühen Besiedlung des Ohridsees.
Unter dem heutigen Seegrund verbirgt sich eine 1,7 Meter dicke Kulturschicht: Sie besteht vorwiegend aus organischem Material. Es handelt um Überreste von geerntetem Getreide sowie von Wildpflanzen und Tieren, die Rückschlüsse auf die Entwicklung der Landwirtschaft zulassen: So waren die neu zugezogenen Bauern mit einem relativ kühlen, feuchten Klima konfrontiert, an das sie ihren Arbeitsalltag anpassen mussten. «Die Wechselwirkungen zwischen dieser revolutionären Innovation und der Umwelt sind weitgehend unbekannt», sagt Hafner. Diese Forschungslücke sollen diese Untersuchungen schliessen helfen schliessen.
Quelle: Johannes Reich
Situation am Seegrund mit Holzpfählen von versunkenen prähistorischen Gebäuden. © Johannes Reich
Die Pfahlbauten im Alpenbogen und im Balkan seien weltweit die einzigen Überreste von Siedlungen aus der Jungsteinzeit mit exzellenter organischer Erhaltung, heisst es in der Medienmitteilung der Universität Bern. Die Funde vom Ohridsee sind besonders interessant, weil das Gebiet in der Ausbreitung der Landwirtschaft eine geografische Schlüsselrolle spielt: Hier lebten die ersten Bauern Europas. Vor mehr als 8’000 Jahren gelangten frühe Viehzüchter und Ackerbauern aus Anatolien zunächst in den ägäischen Raum, insbesondere Nordgriechenland, und danach über Süditalien und den Balkan nach Mitteleuropa.
Wichtiges Kulturerbe im Balkan
«Unsere Untersuchungen beleuchten nicht zuletzt das grosse Potenzial für künftige Forschung zu den prähistorischen Siedlungen in der Region», sagt Hafner. Der Stellenwert der Siedlungen am Ohridsee ist gross. «Seit 2011 zählen die Pfahlbauten rund um die Alpen zum Unesco-Welterbe, die Feuchtbodensiedlungen im südwestlichen Balkan sind nicht weniger bedeutend», erklärt Hafner. Die Region biete eine mit dem Raum rund um die Alpen vergleichbare Situation: Im heutigen Albanien, in Nordgriechenland und Nord-Mazedonien haben sich in zahlreichen Seen prähistorische Siedlungsrelikte erhalten. Allerdings sind die Fundplätze im Balkan bis auf wenige Ausnahmen bisher kaum untersucht worden.
Langfristig verfolgen die Berner Forschenden noch weitere Ziele. Hafner dazu: «Wir möchten mithelfen, dass der Stellenwert dieser Feuchtlandsiedlungen vor Ort erkannt wird und diese Kulturgüter besser geschützt werden.» (mai/mgt)