Vielseitige Naturfaser: Sisal als Dämmstoff im Bauwesen
Sisal kennen viele als Material für robuste Teppiche. Die aus den Blättern der Agave gewonnenen Fasern werden dafür eingefärbt, zu Garn verzwirnt, geschoren und auf dem Webstuhl klassisch weiterverarbeitet. Im Bauwesen kommt Sisal in gepresster Form als Dämmstoff zum Einsatz.
Quelle: zvg
Die Sisal-Agave hat ihren Ursprung in Lateinamerika. Die genügsamen Pflanzen werden heute vor allem auf Plantagen in Kenia und Tansania herangezogen.
Sisalteppiche werden in unterschiedlichen Variante angeboten. In den verschiedensten Farbtönen als Meterware, quadratisch oder rund, mit Umkettelung oder Stoffbordüre. Eins haben sie alle gemein: Das robuste und pflegeleichte Material ist fast unverwüstlich und pflegeleicht.
Deshalb eignet es sich besonders für stark frequentierte Bereichen wie Eingänge und Korridore. Das zumeist antibakterielle und antistatische Naturmaterial ist zudem atmungsaktiv und sorgt so für ein angenehmes Raumklima. Im Materialmix mit Wolle eignet sich Sisal auch hervorragend für Wohnräume. Doch bis die Teppiche in unseren Räumen liegen, ist es ein langer Produktionsweg, der fern von der Schweiz in Afrika oder Südamerika seinen Anfang hat.
Ursprung in Sisal auf Yucatán
Die Sisal-Agave (lateinisch gave sisalana) ist eine Pflanzenart aus der Unterfamilie der Agavengewächse. Das Epitheton der Art verweist auf die mexikanische Hafenstadt Sisal an der Nordküste von Yucatán. Seit dem 19. Jahrhundert wird die Pflanze intensiv wirtschaftlich genutzt. Von Mexiko aus gelangte sie in die gesamte Welt.
Die Sisal-Agave wurde allerdings bereits vor der Eroberung Mittelamerikas von den Ureinwohnern domestiziert und zur Produktion von Pulqueverwendet. Diese milchartige Flüssigkeit, auch «Göttermilch» bezeichnet, wird aus dem «Herzen» der Agave gewonnen. Die Azteken schätzten das leicht alkoholische Getränk, das vor allem für rituelle Zeremonien der Adeligen verwendet wurde.
1534 wurde es vom spanischen Konquistator Hernán Cortésverboten, was allerdings nicht zur Abschaffung, sondern eher zum verstärkten Zuspruch führte. «Bekannter sind wahrscheinlich einige andere mexikanische «Cousins» des Getränks, nämlich der Agaven-BrandTequila und Mezcal», meint Axel Rister von der Terr’Arte AG. Er gab während einer Veranstaltung in der Schweizer Baumuster-Centrale Zürich Einblicke in den Anbau der Agaven und die Weiterverarbeitung der Naturfaser Sisal.
Durch die Verschleppung der mexikanischen Ureinwohner bereitete sich die Pflanze auch in Nordamerika aus. Spanier und Portugiesen brachten sie bei ihren Reisen auf andere Kontinente und Länder, wo sie sich im 18. und 19.Jahrhundert verbreitet Gebrauch als Zierpflanze fanden.
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Zur Gewinnung der Sisalfaser werden den Agaven die gut ein Meter langen Seitenblätter abgeschnitten und ausgepresst.
Ideale Länge von 90 Zentimetern
Die Agave ist heute eine der bedeutendsten Faserpflanzen. Das Produktionsvolumen von Sisal beläuft sich weltweit auf rund 300'000 Tonnen im Jahr, die nicht allein in Mexiko, sondern vor allem in Brasilien, Kenia und Tansania produziert werden.1893 führte Richard Hindorf Brutknospen zur vegetativen, ungeschlechtlichen Vermehrung aus Florida in Tansania ein.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Pflanzen nach Brasilien gebracht. Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Blütezeit der Sisalproduktion, war Brasilien bereits das zweitgrösste Erzeugerland nach Tansania. Pro Hektar rechnet man je nach klimatischen Bedingungen mit rund einer bis 2,5 Tonnen Ertrag.
Die Sisal-Faser wird geerntet, getrocknet und gekämmt. Idealerweise ist sie für die Weiterverarbeitung zu Teppichen ungefähr 90 Zentimeter lang. Dabei zeigen sich bereits die sehr spezifischen Eigenschaften: Die Fasern sind relativ steif, zäh und extrem robust. Deshalb eignen sie sich hervorragend auch zur Herstellung von Tauen, Seilen, Teppichen oder Auslegware, als Matratzenfüllung oder Gebrauchsgegenständen wie Körben und Katzenbäumen.
Konkurrenz durch Kunstfasern
«Ab den 30er-Jahren bestand ein regelrechter Boom bei der Verwendung von Sisal, denn es war fast die einziger verfügbare Naturfaser dieser Qualität», berichtet Riester. In den 60er- und 70er-Jahren fiel der Bedarf stark, Kunstfasern wie Polypropylen und Nylon etablierten sich auf dem Markt.
In den vergangenen Jahren ist der Bedarf wieder stark angewachsen. Dies vor allem, weil man begonnen hat, Verbundstoffe mit Zement oder Kunststoff herzustellen. «Im Bauwesen kommen diese beispielsweise als Isolationsmatten und Dämmstoff sowie als Schleifmittel zum Einsatz. Die Faser ist so robust, dass selbst Metall und Stein damit geschliffen werden können.»
Die Produktion ging zurück, erholt sich jedoch seit der Jahrtausendwende wieder.Gemessen an der Masse der Faserproduktion ist die Sisal-Agave heute die fünftwichtigste Faserpflanze weltweit,2006 belief sich die Weltproduktion von Sisalfasernauf rund 428 000 Tonnen.
Axel Riester besuchte in Kenia eine der grössten Plantagen, die rund 25 Prozent der Landesproduktion an Sisal liefert. In der ähnlich einer Community geführten Plantage leben 1200 Mitarbeiter mit ihren Familien, insgesamt gut 6000 Menschen. Es gibt eigene Bildungseinrichtungen und eine Krankenstation. Die Zucht, Kultivierung und Ernte erfolgt im Wesentlichen in Handarbeit.
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Die Agavenblätter werden ausgepresst, die Fasern trennen sich dabei ab.
Genügsam und robust
Die Agave ist eine sehr genügsame und robuste Pflanze. Sie kann rund zwölf Jahre genutzt werden. Sobald sie ihren bis zu sechs Meter langen, aus 10 bis 25 Blüten bestehenden Blütenstand austreibt, neigt sich ihr Leben dem Ende zu. Nach der Blüte stirbt sie ab. Die zahlreichen Samen sind handflächengross und werden in sehr grosser Anzahl hervorgebracht.
Sie werden eingesetzt und zu Setzlingen aufgezogen. Danach werden die kleinen Pflanzen wieder ausgerissen, um in dichtem Abstand gepflanzt zu werden. Dort wachsen sie weitere ein bis zwei Jahre zur Grösse eines kleinen Busches heran. Anschliessend werden sie erneut ausgerissen und auf Felder mit grösserem Raster verpflanzt. Nach drei bis vier Jahren Wachstum sind sie kräftig genug, um erneut umgesetzt zu werden. Die Agaven müssen in dieser Zeit weder gepflegt noch gegossen werden.
Vier Jahre bis zur ersten Ernte
Nun können sie an ihren endgültigen Standort gepflanzt werden, wo sie zu mächtigen Pflanzen mit Blattlängen von 1,10 bis 1,30 Metern heranwachsen. Damit beginnt die Zeit der Ernte, was bedeutet, dass die einzelnen Blätter mit der Machete abgeschnitten werden. Im Zentrum verbleibt der mittlere Ständer, der weiter wächst und neue Blätter austreibt.
Die geernteten Blätter werden gebündelt und der Verarbeitung zugeführt. Die Blätter werden auf einem Förderband ausgerichtet und in einer Presse unter hohem Druck ausgedrückt. Das ausscheidende Fruchtfleisch und Wasser werden als Düngemittel auf den Feldern weiterverwendet.
Die verbleibenden Pflanzenteile sind danach bereits als Fasern zu erkennen. Nach dem Trocknen wird das Rohmaterial beim Kämmprozess geglättet und gesäubert. «In dieser Form sind die Sisalfasern bereit für die Weiterverarbeitung. Für den Versand werden sie deshalb in 250 bis 500 Kilogramm schwere Ballen gepresst. Damit endet der Bearbeitungsprozess in Afrika», erläutert Riester.
Zur Weiterverarbeitung nach Österreich
In Mellau im Vorarlberg hat die Sisalverarbeitung seit den 1930er-Jahren Tradition. «Die Verarbeitung des Rohmaterials zum Garn ist ein sehr aufwendiger Prozess. Dafür müssen die langen Fasern gebrochen werden. Um sie geschmeidiger zu machen, werden sie durch Walzen geführt und angefeuchtet», so Riester. Beim Einfärben des Rohmaterial werden die Ballen in heissem Wasser unter Druck mit Pigmenten oder Farbstoffen in der Färbetrommel behandelt.
Danach beginnt der eigentlich kritischen Prozess: Die einzelnen, in Zopfform verdrehten Bündel werden zunächst verdichtet und linear ausgerichtet. Beim Durchlaufen unterschiedlich schnell laufender Bänder mit Kämmen wird das Material durch Verziehen gestreckt. Dieser Prozess wird mehrfach wiederholt. Das immer dünner werdende Band wird dann in der Spinnerei gedreht und erhält dadurch seine Festigkeit.
Kleine Unregelmässigkeiten im fertigen Garn werden geschärt. Das Material wird aufgespult und auf einem Zwischenträger aufgewickelt. Um eine höhere Festigkeit zu erreichen, werden die Fäden nochmals verzwirbelt. Die Garne werden anschliessend auf dem Webstuhl zu Teppichen und Matten verwoben. Dabei ist eine Materialmix wie etwa mit Wolle möglich, der sehr schöne Kreationen ermöglicht, wieSortiment der Terr‘Arte AG am Event gezeigte.
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Die Faser ist so robust, dass selbst Metall und Stein damit geschliffen werden können.
Axel Riester, Terr’Arte AG
Axel Riester, Terr’Arte AG
Verwendung als Baumaterial
Weniger Bearbeitung benötigt die Faser, wenn sie als Baustoff genutzt werden soll. Die Naturfaser wirkt wärmeisolierend und trittschalldämmend. Das Material wird dafür zu Matten gepresst. Sie werden in Afrika und auf der arabischen Halbinsel als ornamentförmigen Platten angeboten.
Auch in der Schweiz läuft ein Projekt, wo Sisal für Dämmzwecke eingesetzt wird. Die Klosterkirche Menzingen der Kongregationder Schwestern zum Heiligen Kreuz wird umgebaut. Letztes Jahr startete das Bauprojekt, das mehrere Liegenschaften der Glaubensgemeinschaft umfasst, die den heutigen Bedürfnissen angepasst werden sollen.
In der ersten Bauetappe wird der West- sowie der Kirchtrakt im Mutterhaus umgebaut. In dem Rahmen wird auch die profanisierte Kreuzkapelle umfassend saniert und zum Museum umgebaut.Natürliche Baustoffe, die Ruhe, Wärme und Beständigkeit verinnerlichen, wünschten die die Schwestern für die Sanierung der historischen Gemäuer. Dies brachte Architekt Herbert Mäder zum Entschluss, Sisal einzusetzen. Die Bauarbeiten sollen bis 2020 fertiggestellt sein.
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Durch mehrfaches Verziehen und Kämmen wird die Faser gestreckt.
Vom Knüpfen zum Konstruieren
«Konstruieren ist ein genetischer Drang. Er liegt den Menschen sozusagen in den Händen und im Blut. Es ist auch die Freiheit, Materialien wählen zu können, sich nicht nur programmiert auf Steine beschränken zu müssen. Somit kommen die Naturfasern ins Spiel», sagt Andrea Deplazes vom Büro Bearth & Deplazes Architekten AG. Nicht zufällig hat er einen Sisalteppich auf dem Cover seines Buchs «Architektur konstruieren» abgebildet. Doch was verbinden diese «Teppich-Knoten» mit dem Konstruieren?
«Pflanzenfasern lassen sich spielerisch bearbeiten, auch wenn anfangs nicht dieser Sinn im Vordergrund stand. Lange bevor oder während die Fasern für Konstruktionen eingesetzt wurden, nutzen beispielsweise die Inkas bereits im 7. Jahrhundert die Knotenschrift, um Informationen zu übermitteln oder zu zählen», berichtet der Professor.
Das Verlängern, aber auch Zusammenbinden von zuvor natürlich Getrenntem zu etwas, was danach ein neues Ganzes bildet, spielte seit Beginn der Menschheit eine wichtige Rolle beim Bau von Behausungen und Werkzeugen. Heute bekannte statische Regeln spielte keine Rolle, wurden allerdings durch praktische Erfahrung angewandt.
Etwas, was von Natur aus schwach ist, wie Schilf, werde zum Bündel zusammengebunden, damit es eine wesentlich höhere Festigkeit erhält. Dies könne auch in sehr kunstvoller Form geschehen: Dabei werde die Technik durch das Ornament, also die kunstvolle Anordnung des Verbindens begleitet, oder auch umgekehrt, der kunstvolle Knoten werde für die Technik eingesetzt.
Als Beispiel zeigte er kunstvolle Konstruktionen von Häusern aus Schilf-Stengeln im Irak. Aus dem gleichen Material wurden raumabschliessenden Elemente für Wände und Decken geflochten. Netze aus einfachen Knotenverbindungen setzten auch den Start zur Domestizierung der Tiere. Seit der Jungsteinzeit lassen sich Spinnwirbel und Webgewichte archäologisch nachweisen, die Menschen waren also bereits in der Lage, Stoffe herzustellen. Das auf einfachen Gewichtswebstühlen hergestellte Tuch diente als Kleidung und für Wohnzwecke. Teppiche und Zelte der nomadisieren Menschen waren schnell zusammengerollt und abtransportiert.
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Der Sisal wird auf dem Webstuhl zu Matten und Teppichen verarbeitet.
Knoten an Bauwerken
«Stein führt zu Massivbau, feines Material zum Filigranbau, doch es ist auch die Mischung beider Konstruktionsweisen miteinander möglich», sagt der Architekt. Als die Menschen sesshaft wurden, ihre Behausungen also nicht mehr abgebaut und transportiert werden mussten, wurden die leichten Strukturen aus Ruten und Holzstangen durch Lehm beschichtet.
Die Mischbauweise war entstanden. «Dies kann sozusagen als Vorgänger der im 19. Jahrhundert als Stahlbeton erfundenen Mischung von Zement und Kies, verstärkt durch eine Bewährung, angesehen werden», so Andrea Deplazes.
Knoten tauchen in der Baugeschichte immer wieder auf. Sie garantieren im Holz- und Stahlbau für Sicherheit. «Ende des 20. Jahrhunderts war der Bau des Eifelturms, der Ikone des Stahlbaus, ein wichtiger Moment in der Baugeschichte. Erstmals wurde die Tendenz umgekehrt, die es über Jahrtausende vom filigranen Bauen hin zu Misch- oder Massivbauen gab. Das war ein Schock für alle Architekten», betont Deplazes.
Architektur konstruieren, Vom Rohmaterial zum Bauwerk. Ein Handbuch, Andrea Deplazes, Birkhäuser Verlag, Erstveröffentlichung: 3. Dezember 2004 , 5. Auflage 2018, 592 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-0356-1667-5, 76.70 Franken.
Swissbau-Dossier (Schwerpunkte: Gebäudehülle/Innenausbau)
Die Swissbau vom 14. bis 18. Januar 2020 steht unter dem Motto «Trial and Error – Mut für Neues?». Im Vorfeld zur führenden Fachmesse der Schweizer Bau- und Immobilienwirtschaft thematisieren wir in einer Beitragsreihe deren Schwerpunkte.Alle bisher erschienen Beiträge gibt es unter:baublatt.ch/swissbau2020