Spannungsverhältnis zwischen gegenseitigem Näherbaurecht und öffentlich-rechtlichen Vorschriften
Das Bundesgericht musste in einem den Kanton Glarus betreffenden Fall die Frage beurteilen, welche Auswirkungen die Vereinbarung eines gegenseitigen Näherbaurechts für den Zweitbauenden hat (vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_955/2022 vom 26. Mai 2023). Dabei erinnerte das Bundesgericht an die Grundsätze der Auslegung von Dienstbarkeiten und legte dar, wie der Konflikt zwischen dem gegenseitigen Näherbaurecht und baurechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften gelöst werden soll.
Quelle: Ikiwaner/Free Documentation License/Wikimedia Commons
Zwei benachbarte Grundeigentümer vereinbarten, dass jeder bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze bauen darf. Doch was geschieht, wenn eine Partei weiter baut als abgemacht?
Von Claudia Schnüriger*
Zwei benachbarte Grundeigentümer in einer Glarner Gemeinde räumten sich gegenseitig das Recht ein, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen. Der eine Grundeigentümer erhielt im Sommer 2019 die Baubewilligung für ein Bauprojekt, bei dem ein Grenzabstand von 110 cm eingehalten wird. Der andere Grundeigentümer führte gegen den erstbauenden Grundeigentümer einen Zivilprozess bis vor das Bundesgericht und machte geltend, er könne sein eigenes Näherbaurecht in einem späteren Zeitpunkt gar nicht mehr ausüben, da er in diesem Fall den Gebäudeabstand einzuhalten habe.
Das Näherbaurecht
Das Näherbaurecht umfasst das Recht, in einem geringeren als dem gesetzlichen Abstand an die Grenze des Nachbargrundstücks zu bauen, d.h. auf oder unter der Bodenfläche ein Bauwerk zu errichten oder beizubehalten. Bei einem gegenseitigen Näherbaurecht verpflichten sich die beteiligten Grundeigentümer gegenseitig, ein Gebäude oder einen Gebäudeteil des anderen im Abstandsbereich zu dulden.
Auslegung des gegenseitigen Näherbaurechts
Für die Ermittlung von Inhalt und Umfang einer Dienstbarkeit gibt Art. 738 ZGB eine Stufenordnung vor. Ausgangspunkt ist der Grundbucheintrag. Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrag deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend (Art. 738 Abs. 1 ZGB). Der gutgläubige Dritte darf sich auf einen klaren und deutlichen Eintrag verlassen, selbst wenn dieser Eintrag inhaltlich unrichtig ist. Nur wenn der Wortlaut des Grundbucheintrags unklar ist, darf im Rahmen dieses Eintrags auf den Erwerbsgrund zurückgegriffen werden (Art. 738 Abs. 1 ZGB), das heisst auf den Begründungsakt, der als Beleg beim Grundbuchamt aufbewahrt wird.
Dies ist insbesondere dann erforderlich und der Schutz des guten Glaubens in den Eintrag dem Dritterwerber abzusprechen, wenn der Eintrag die Dienstbarkeit nicht ausreichend zu spezifizieren vermag und sich Rechte und Pflichten daraus nicht eindeutig ergeben. Dies liegt vor, wenn sich der Eintrag ohne weitere Erklärungen in der blossen Benennung erschöpft und einfach ein «Durchleitungsrecht», ein «Näherbaurecht», ein «Quellenrecht» etc. erwähnt. Diese Dienstbarkeiten können nach Inhalt und Umfang verschieden ausgestaltet sein. Ist auch der Erwerbsgrund nicht schlüssig, kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist.
Quelle: Felmy
Die in gewissen Kantonen (unter anderem Glarus) zwingend einzuhaltenden Gebäudeabstände führen zu Problemen für den Zweitbauenden.
Zusammenhang zwischen Näherbaurechten und dem öffentlichen Recht
Näherbaurechte können nur im Rahmen des öffentlich-rechtlich Zulässigen begründet werden. Die in gewissen Kantonen (unter anderem Glarus) zwingend einzuhaltenden Gebäudeabstände führen zu Problemen für den Zweitbauenden. In der Lehre wird die Ansicht vertreten, es profitiere der Erstbauende vom Abstandsprivileg, und der Zweitbauende müsse weiter von der Grenze abrücken. Das Bundesgericht kam zum Schluss, aus dem Vertrag ergebe sich keine Abrückungspflicht in dem Sinne, dass beide Parteien gleichermassen vom gegenseitigen Näherbaurecht profitieren könnten. Demzufolge profitiere der Erstbauende und könne vom Näherbaurecht Gebrauch machen, während dem Zweitbauenden die Nutzung «seines» Näherbaurechts verwehrt bleibe.
Fazit
Im vorliegenden Fall durfte der erstbauende Grundeigentümer das bewilligte Bauvorhaben realisieren. Der Zweitbauende muss bei einem eigenen Bauprojekt zu einem späteren Zeitpunkt weiter von der Grenze abrücken, um den Konflikt zwischen dem Näherbaurecht und den öffentlich-rechtlichen Vorschriften über den Gebäudeabstand zu lösen. Wird bei Vereinbarung eines gegenseitigen Näherbaurechts nicht unmissverständlich eine Abrückungspflicht in dem Sinne vorgesehen, dass beide Parteien gleichermassen vom gegenseitigen Näherbaurecht profitieren, kommt das Abstandsprivileg lediglich dem Erstbauenden zugute.
*Zur Person
Quelle: Baur Hürlimann AG, Baden /Zürich.
Claudia Schnüriger ist Rechtsanwältin bei der Baur Hürlimann AG, Baden /Zürich.
Claudia Schnüriger ist Rechtsanwältin bei der Baur Hürlimann AG, Baden/Zürich. Sie ist auf folgende Fachgebiete spezialisiert: Beratungs-und Prozessmandate, Bau- und Immobilienrecht sowie Staats- und Verwaltungsrecht. Ihr Studium absolvierte Claudia Schnüriger an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur und der Universität Luzern. Im Jahr 2020 erlangte sie ihr Anwaltspatent. Bevor sie im Jahr 2021 ihre Anwaltstätigkeit bei der Baur Hürlimann AG aufnahm, arbeitete sie in einer Anwaltskanzlei im Kanton Zug.