Stadtentwicklung: Die soziale Durchmischung soll es richten
Sozial gemischte Siedlungen und Quartiere sind ein wichtiges
Ideal der Stadtplanung. Städte und Wohnbaugenossenschaften fördern die soziale
Durchmischung. In der Wissenschaft ist der Nutzen des nachbarschaftlichen
Zusammenlebens aber umstritten.
Quelle: Keystone AP, Alexandre Meneghini
Arm und Reich streng getrennt: Die Favela Morumbi, einer der grössten Slums in São Paulo, grenzt an eines der reichsten Viertel der Stadt.
Slums und Villenviertel, getrennt nur durch eine hohe Mauer:
In vielen Grossstädten in Lateinamerika leben Arm und Reich häufig dicht
nebeneinander, doch die oberen Zehntausend verschanzen sich in geschlossenen
Wohnsiedlungen. Auch in der Schweiz finden sich sogenannte Gated Communities,
zum Beispiel in Küssnacht am Rigi. Wie viele es sind, weiss niemand. Kein
Bundesamt erfasst sie, keines zählt sie. Klar ist: Es entstehen laufend neue.
Die Nachfrage ist gross – von Personen, die im Ausland schon in abgeschotteten
Wohnanlagen lebten und hier dieselbe Sicherheit suchen, aber auch von ebenso
vielen Schweizern.
Einige finden nichts dabei, wenn sich ein paar Menschen mit
Geld hinter Mauern zurückziehen und es sich gut gehen lassen. Für andere ist es
weiterer Schritt zu einer Zweiklassengesellschaft. In grossen Schweizer Städten
wie Bern und Zürich geht schon lange das Schreckgespenst der Gentrifizierung
um. Der Begriff stammt aus England, wo der Landadel – die sogenannte Gentry –
im 18. Jahrhundert vom Land in die Städte zog und dort die ansässige
Bevölkerung verdrängte.
Gegen Ausgrenzung und Armut
In der Stadtpolitik sind sich viele einig: In einer
durchmischten Gesellschaft geht es allen besser – den Starken und den
Schwachen. Hier leben Handwerker neben Akademikern, Kinder neben Rentnern,
Menschen mit Migrationshintergrund neben Einheimischen. Manche sehen soziale
Mischung als Heilmittel gegen Armut, Ausgrenzung und Rassismus. Doch was ist
mit sozialer Durchmischung von Siedlungen oder Quartieren gemeint? Warum soll
sie angestrebt werden, und welches sind die Ziele dabei? Diesen Fragen ging ein
Online-Fachseminar der Hochschule Luzern (HSLU) sowie der Verbände Wohnbaugenossenschaften
Schweiz und Wohnen Schweiz nach.
«Das Konzept der sozialen Durchmischung reicht weit in die
Planungsgeschichte zurück und spielt bis heute in aktuellen Debatten der
Stadtentwicklung eine grosse Rolle», so Stephanie Weiss, Dozentin und Projektleiterin
am Institut für soziokulturelle Entwicklung der HSLU. Soziale Mischung hat laut
Weiss drei Ziele: Sie soll die ungleiche Verteilung von einzelnen
Bevölkerungsgruppen im Stadtgebiet verringern, eine räumliche Polarisierung der
Gesellschaft mit sozialen Brennpunkten und abgeriegelten Quartieren verhindern
und die Integration von Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaft fördern.
Eine lange Vorgeschichte
Die historischen Wurzeln dieser Diskussionen reichen ins 19.
Jahrhundert zurück, in die Frühphase der kapitalistischen Verstädterung.
Miserable Wohnungsverhältnisse und eine starke soziale Trennung bestimmten die
Lebensverhältnisse in den schnell wachsenden Städten. Die Wohnungsfrage war so
von Beginn an eng verbunden mit Problemen der sozialräumlichen Verteilung. Aus
Angst vor Seuchen in den Arbeiterquartieren und vor Revolutionen sowie zur
Einbindung des Proletariats ersann das Bürgertum die Idee der sozialen
Durchmischung. Bereits 1907 entstand in Zürich am Limmatplatz die erste
städtische Siedlung. Damit sollte besonders für benachteiligte
Bevölkerungskreise Wohnraum geschaffen werden.
Quelle: Baugeschichtliches Archiv Zürich
Die erste Wohnsiedlung der Stadt Zürich, 1907 beim Limmatplatz erbaut, weist 253 Wohnungen auf.
In den 1960er-Jahren begannen die städtischen Verwaltungen,
die Erneuerungsbedürftigkeit von Stadtteilen nicht mehr nur mit Funktions- und
Strukturschwächen, sondern auch mit «unausgewogenen Sozialstrukturen» zu
begründen. In den Sanierungsgebieten wurden eine Annäherung an den städtischen
Durchschnitt und eine Aufwertung der Bewohnerstruktur angestrebt. Die soziale Durchmischung
beziehungsweise der Durchschnitt wurde so in dieser Epoche zur Leitideal der
Stadtentwicklung.
Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren begannen sich
behutsame Erneuerungen und Gebietsaufwertungen durchzusetzen. Stadtplaner und
Verwaltungen bemühten sich nun um den Schutz der bestehenden Nachbarschaftsstrukturen.
Neue partizipative Planungsansätze und der Einsatz von öffentlichen
Fördermitteln ermöglichten bauliche Aufwertungen ohne die Verdrängung der
ärmeren Bevölkerungsgruppen.
Gegen das Diktat der Marktkräfte
Seit der Jahrtausendwende wird nach einer Neuinterpretation
der sozialen Durchmischung gesucht. Sozialräumliche Stadtentwicklung, soziale
Stadtentwicklung oder integrierte Stadtteilentwicklung lauten die Stichworte.
«Es wird nach Wegen gesucht, Quartierentwicklungen nicht dem ökonomischen
Diktat des Standortwettbewerbs auszuliefern, sondern mit einer
ressortübergreifenden Stadtentwicklungspolitik an den Ursachen der
gesellschaftlichen und räumlichen Segregation anzusetzen», heisst es in einer
Studie des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). In den Mittelpunkt gerückt sei
dabei der Sozialraum als «Schnittmenge zwischen städtebaulichen und sozialen
Ansätzen». Er erfahre als Ort des Wohnens, Lebens und Arbeitens der ansässigen
Bevölkerung eine interdisziplinäre Aufmerksamkeit, und es werde wieder an die
behutsamen Quartieraufwertungen der 1970er- und 1980er-Jahre angeknüpft.
Nutzen nicht nachgewiesen
Ansprüche und empirische Realität klaffen allerdings
bisweilen auseinander. Es sei nicht klar, welche Prozesse oder Akteure als
Treiber der Mischung oder der Trennung wirken, erklärt Weiss. Der Zuzug von
Haushalten mit mittleren und höheren Einkommen führe auch nicht unbedingt zu
einer Verbesserung der Integration von sozioökonomisch benachteiligten
Bevölkerungsgruppen. Es gebe keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse
zu den Vor‐ und Nachteilen des nachbarschaftlichen Zusammenlebens sehr
unterschiedlicher Schichten. Lerneffekte zwischen unterschiedlichen Gruppen
könnten nicht eindeutig nachgewiesen werden. Stattdessen komme es immer wieder
zu Konflikten und Kommunikationsproblemen zwischen unterschiedlichen Schichten.
Gleichzeitig bestehe die Gefahr der Verdrängung durch bauliche Erneuerungen
beziehungsweise steigende Mietpreise.
Die soziale und kulturelle Integration wird gemäss der ARE-Studie
vor allem durch eine sozial und kulturell homogene Nachbarschaft begünstigt.
Entscheidend für die strukturelle, kulturelle und soziale Integration sowie die
Identifikation sei der Zugang zu den gesellschaftlichen Teilsystemen: Schule,
Bildung, öffentliche Verkehrsmittel, Arbeits- und Wohnungsmarkt, öffentlicher
Raum und soziokulturelle Begegnungsmöglichkeiten. Am wirksamsten könne die
Zusammensetzung der Bevölkerung in neu entstehenden Quartieren über die
Wohnbau‐ und Wohnvermietungspolitik gesteuert werden. Dazu müsste allerdings
die öffentliche Hand sich entweder selbst massgeblich am gemeinnützigen
Wohnungsbau beteiligen oder die privaten Investoren und Immobilienfirmen mit
entsprechenden Auflagen belegen. Doch dies sei «nur begrenzt möglich».
Auf der EU-Ebene haben sich die Ministerinnen und Minister
in der «Leipzig-Charta zur europäischen nachhaltigen Stadt» verpflichtet, in
ihren Staaten die Anwendung des Modells der integrierten Stadtentwicklung zu
prüfen. Die Kernpunkte: Bürgerbeteiligung in der Planung, die gerechte Abwägung
der Interessen des Markts gegenüber denen der Öffentlichkeit, eine bessere
Koordinierung öffentlicher und privater Investitionen sowie die
Berücksichtigung langfristiger Aspekte in der Stadtplanung.
Zürich subventioniert Wohnungen
Obwohl der Nutzen wissenschaftlich umstritten ist, fördern
viele Städte und Gemeinden die soziale Mischung in Siedlungen und Quartieren.
Die Stadt Zürich unterstützt seit über 100 Jahren den gemeinnützigen
Wohnungsbau. Damit auch Menschen mit geringen Einkommen und Vermögen ein
Zuhause finden, subventionieren Stadt und Kanton über 6700 gemeinnützige
Wohnungen zusätzlich – vor allem in Neu- und Ersatzneubauten.
Auch viele Wohnbaugenossenschaften legen grossen Wert auf
eine gemischte Zusammensetzung der Bewohnerschaft. Die meisten
Baugenossenschaften übernehmen freiwillig soziale Verantwortung und vermieten
selbstverständlich auch Wohnungen an wirtschaftlich oder sozial Schwächere. Die
Wohngenossenschaft Zimmerfrei in Basel zum Beispiel möchte in ihrem Wohnhaus
namens Stadterle Raum für vielfältige Lebensentwürfe schaffen, wie es im
Vermietungsreglement heisst. Angestrebt wird eine ausgewogene Durchmischung
nach Haushaltstypen, Alter, Einkommen, Vermögen, Geschlecht und Herkunft.
Das Genossenschaftshaus weist deshalb verschiedene Wohnungstypen und -grössen auf. Kompakter, kostengünstiger Wohnraum sollte geschaffen werden, ergänzt durch attraktive gemeinschaftlich genutzte Räume wie eine Dachterrasse, eine Lobby, ein Gästezimmer und vieles mehr. Zentraler Teil der Projektentwicklung war von Beginn an die Partizipation der Mieter und Genossenschafter. «Das Wohnen in der Stadterle soll einen ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Mehrwert ergeben, sowohl für die Gesellschaft als auch für die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner», erklärt die Wohngenossenschaft Zimmerfrei.
Auch die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich
will gemäss ihrem Vermietungsreglement langfristig eine ausgewogene soziale
Durchmischung gewährleisten. Als Kriterien aufgelistet werden Alter,
Geschlecht, Einkommen, Vermögen, Berufs- und Bildungshintergrund und
Staatsangehörigkeit. Unterschiedliche Haushaltstypen sollen in einem
ausgewogenen Verhältnis stehen.
Quelle: Michele Limina, Wohnbaugenossenschaften Schweiz
Genossenschaftssiedlung Kalkbreite in Zürich: Das Vermietungsreglement sieht eine ausgewogene soziale Mischung vor.
Baulich kann der räumlichen Ausgrenzung etwa mit einer
blockweisen Mischung der Typologien, Nutzungen und Eigentumsformen
entgegengewirkt werden, was Kleinparzellierungen erfordert, wie Weiss erklärt.
Wichtig sei auch das Prinzip der lernenden Planung. Veränderungen in der
Struktur oder den Bedürfnissen der Bewohnerschaft könne damit rasch begegnet
werden.
Als Beispiel nennt Weiss das 2005 fertiggestellte
Stadterweiterungsprojekt Solar City im Südwesten der österreichischen Stadt
Linz. Auf einer Fläche von 36 000 Quadratmetern wurden rund 1400 Wohneinheiten
erstellt. Davon vergaben die gemeinnützigen Wohnbauträger 95 Prozent zur Miete,
davon die Hälfte zum Mietkauf, und fünf Prozent im Eigentum. Von Anfang an
wurden flexible Infrastrukturen geplant, die an die sich verändernden
Bedürfnisse der Siedlungsbevölkerung angepasst werden können. Entstanden ist
etwa eine Begegnungs‐ und Seelsorgestelle. Die Architektur des Gebäudes lässt
religiöse, soziale und fürsorgerische Angebote für alle Bewohner zu.
Quelle: Wirthi, CC BY-SA 3.0, LinzWiki.at
Solar City bei Linz: Auf einer Fläche von 36 000 Quadratmetern wurden rund 1400 Wohneinheiten erstellt.
Auf eine kleinteilige Parzellierung zugunsten vielfältiger
Wohnformen setzt auch die Stiftung Habitat auf dem Lysbüchel‐Areal in Basel.
Die 12 400 Quadratmeter grosse Fläche, ein ehemaliges Gewerbe- und
Industrieareal, teilte sie in 15 Parzellen auf. Zwölf davon gab sie im Baurecht
an Genossenschaften und andere Baugemeinschaften ab. Öffentliche Nutzungen und
Allmendflächen sollen Raum für Begegnung bieten. Das Ziel sei es, Wohnraum für
die bestehende Bevölkerung des Quartiers St. Johann anzubieten, sagt Weiss.
Tragfähige Nachbarschaften
Wie sich Nachbarschaften in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen
im Zusammenspiel von gelebtem Alltag, genossenschaftlichen Strukturen und
gebautem Umfeld entwickeln, hat das Institut für soziokulturelle Entwicklung
der HSLU untersucht. Dies in einem Innosuisse-Forschungsprojekt in
Zusammenarbeit mit verschiedenen Wohnbaugenossenschaften, dem Bundesamt für
Wohnungswesen, dem Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz und der Stiftung
Domicil. Im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel und innerstädtischen
Verdichtungen gewännen tragfähige Nachbarschaftsmodelle an Relevanz, erklärt
Meike Müller, Senior wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
soziokulturelle Entwicklung. Wohnbaugenossenschaften spielten mit ihrem
Erfahrungsschatz und ihren Mitwirkungsstrukturen dabei eine wichtige Rolle.
Nachbarschaft sei vielfältig, überlagere sich und zeige sich
als Kontinuum von losen Beziehungen bis hin zu starken Bindungen, heisst es in
der Studie. Der verbindenden Kraft der losen Beziehungen komme eine grosse
Bedeutung zu. Sich gegenseitig zu grüssen und erkannt zu werden, aber auch die
kleinen Unterhaltungen im Treppenhaus oder vor der Haustüre lassen bereits das
Gefühl entstehen, eingebunden und zu Hause zu sein. Die starken Bindungen
hingegen bilden sich vor allem in Gruppen ähnlich Gesinnter und können sowohl
integrierende wie auch ausgrenzende Wirkungen haben.
Wichtig sind laut Müller auch Möglichkeitsräume: Vielfältig
bespielbare Räume und geeignete Mitwirkungsgefässe, die das Engagement und die
Initiative der Bewohner unterstützen und fördern. Auch mit gemeinschaftsfördernder
Architektur könnten niederschwellige Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden.
In der Siedlung der Genossenschaft Kalkbreite wurde zum Beispiel eine zentrale
Halle eingerichtet, die allen jederzeit offen steht. Dort befinden sich nicht
nur die Briefkästen aller Wohnungen. Die Halle ist auch der Eingang zur
Cafeteria, zur Bibliothek und zum Waschsalon.
Möglichkeitsräume bildeten zusammen
mit dem Engagement und den Kontakten der Bewohner einen Wirkungskreis, der die
Formen der Nachbarschaft bestimme, so Müller. Damit sich diese integrierenden
Wirkungen entfalten können, seien aber sozialräumliche Investitionen der
Genossenschaft notwendig.