Rentner helfen Rentnern
Die Grundidee eines Zeitvorsorgesystems ist simpel: Rüstige Rentner betreuen und unterstützen hilfsbedürftige Rentner in der Alltagsbewältigung und erhalten dafür Zeit gutgeschrieben. Die angesparten Zeitgutschriften können später, vielleicht nach drei, vielleicht aber auch erst nach 30 Jahren, für den Bezug ähnlicher Leistungen eingesetzt werden.
Das auf diese Weise geförderte Engagement der dritten Generation zugunsten der vierten Generation hilft mit, die Herausforderungen, die sich aus der demografischen Entwicklung ergeben, zu meistern: Der absehbare Personalmangel in Pflege und Betreuung trifft auf ein starkes Wachstum der Altersgruppe 80 plus. Es ist zentral, dass sich die professionellen Systeme dann auf ihre Kernaufgaben (Pflege) konzentrieren können und von Leistungen, die keine formelle berufliche Qualifikation erfordern, entlastet werden. Alle Leistungen, die nicht zwingend innerhalb des professionellen Systems erbracht werden müssen, sondern vom familiären, nachbarschaftlichen Umfeld aufgefangen werden, mildern den Druck auf das Versorgungssystem und damit auf die öffentlichen Haushalte.
Das St. Galler Stadtparlament hat im Sommer 2012 grünes Licht für den Aufbau eines solchen Zeitvorsorgesystems in St. Gallen gegeben. In der Folge wurde eine Stiftung gegründet, an der neben der Stadt St. Gallen und dem Amt für Soziales des Kantons auch die lokalen Kirchgemeinden, die Frauenzentrale sowie die Kantonalverbände von Pro Senectute, Spitex und Rotem Kreuz beteiligt sind.
Einfache Idee, schwierige Umsetzung
Im Unterschied zur Idee ist die Umsetzung eines Zeitvorsorgesystems eine sehr komplexe Angelegenheit. Sehr viele Menschen und Organisationen kommen in diesem System in Kontakt und viele technische Fragen mussten geklärt und ausdiskutiert werden. Gemeinsam mit einigen Testorganisationen wurden in den vergangenen Monaten daher Prozesse definiert, Merkblätter entworfen, eine Webseite aufgebaut, oder die elektronische Verwaltungsplattform getestet.
In der Testphase waren zwölf Zeitvorsorgende aktiv, die im Rahmen von insgesamt 278 Stunden Zeitvorsorge erste Erfahrungen gesammelt haben. Jeder Zeitvorsorger kann auf seinem persönlichen Zeitkonto bis zu 750 Stunden ansparen. Die Zeitguthaben sind nicht übertragbar.
Gleichgewicht der Zeit
Eine interessante Erkenntnis aus der Testphase ist etwa, dass es hilfsbedürftigen Rentnern leichter fiel, Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn sie wussten, dass der oder die Zeitvorsorgende dafür eine konkrete Gegenleistung, nämlich eine Zeitgutschrift, erhält. Denn in der Zeitvorsorge sind Nehmen und Geben im Gleichgewicht. Der Fokus der Einsätze liegt vorderhand im häuslichen Umfeld. Erbrachte Betreuungsleistungen sind beispielsweise gemeinsames Einkaufen, Kochen, Essen oder Spaziergänge. Pflegerische Leistungen werden nicht von Zeitvorsorgenden erbracht, sondern gehören nach Auffassung der Projektverantwortlichen in professionelle Hände.
Diese Testphase ist nun abgeschlossen und der schrittweise Aufbau des Zeitvorsorgesystems kann beginnen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass in der Anfangsphase noch niemand über selbst erarbeitete Zeitgutschriften verfügt. Hilfsbedürftige Menschen erhalten die nötigen Stunden vorerst von der Zeitvorsorge respektive indirekt von der Stadt St.Gallen geschenkt. Im Bedarfsfall sollen sie sich wie bisher an ihre Spitex, ihre Kirchgemeinde oder den Besuchsdienst der Pro Senectute wenden. Weitere Einsatzorganisationen sollen bald folgen.
Wer Zeitvorsorger oder Zeitvorsorgerin werden möchte, muss in St.Gallen wohnen, pensioniert oder über 60 Jahre alt sein und Freude am Umgang mit Menschen haben. (mgt/aes)