«Jungle intérieure» in Nantes: Wild wucherndes Grün statt graue Flachdächer
Mitten in Nantes hat der Künstler Evor nach und nach zwei Innenhöfe mit zahllosen Blumentöpfen in ein üppiges, grünes Paradies verwandelt. Mittlerweile gedeiht der Dschungel nicht nur wegen seiner Pflege, sondern auch mit Hilfe der Stadt.
Quelle: Alexandra von Ascheraden
In der Horizontalen ist längst alles begrünt. Nun geht es in der Vertikalen weiter.
Ein unerwarteter Garten mitten im Auge des Zyklons.» So definiert der Künstler Evor seinen «Jungle intérieure». Der Dschungel besteht aus 600 Quadratmeter wucherndem Grün in einem Hinterhof mitten im Zentrum der französischen Stadt Nantes. Lange Zeit flankierten hier Flachdächer und fensterlose Wände eine wenig genutzte Passage in der belebten Fussgängerzone.
Zehn Flachdächer begrünt
Angefangen hat es mit einigen zufällig zusammengewürfelten, bepflanzten Gefässen, die Evor bei seinem Sitzplatz aufstellte. Die Pflanzen gediehen. Es kamen weitere hinzu. Mal fand er Samen, mal grub er überzählige Setzlinge aus, mal rettete er eine von einem Balkon gestürzte, nicht mehr gewollte Yucca-Palme. Unaufhaltsam breitete sich das Grün auf die umliegenden, reizlosen und ungenutzten Flachdächer aus. «Der eine oder andere Nachbar hat schon angemerkt es sei jetzt bald genug. Aber ich konnte nicht aufhören. Wenn ich irgendwo eine Pflanze gefunden hatte, musste ich sie dazustellen.»
Inzwischen nimmt sein Dschungel zehn Flachdächer und zwei Innenhöfe ein, die vorher nur zum Abstellen der Mülltonnen gedient hatten. Das Ganze wird von einer öffentlich zugänglichen Gasse diagonal in zwei Teile zerschnitten. Da alle ebenen Flächen längst bepflanzt sind, bearbeitet Evor jetzt hauptsächlich die Vertikale. An den rau verputzten Rückwänden ranken Glyzinien und Kletterrosen bis in den fünften Stock empor.
Nach wie vor befindet sich nichts als reiner Beton unter den Pflanzen. Alles Grün wächst in Töpfen. Durch die Dichte der Vegetation bemerkt man das kaum. Derweil installiert Evor nach und nach eine Tröpfchenbewässerung, die nachts automatisch läuft. Anders wäre das Giessen längst nicht mehr zu bewältigen. Auch Sukkulenten und Kakteen finden in den durchgehend besonnten Bereichen Platz. Die meisten dieser Zonen liegen wegen der wandernden Sonne einen Teil des Tages im Schatten.
Quelle: Evor
Vorher- und Nachher-Ansichten eines Teils des Gartens. Unter dem wuchernden Grün sieht es aber immer noch gleich aus – alles wächst in Töpfen.
Umzugsüberbleibsel willkommen
Evor ist jeden Tag mehrere Stunden mit dem Grün beschäftigt. Er arrangiert die einzelnen Bereiche immer wieder neu und achtet dabei auf die Komposition. Er ordnet die Pflanzen so an, dass Dichte und Kontraste stimmen. «Es ist wie bei meinen Skulpturen, nur dass das Material eben Pflanzen sind», stellt er fest.
Die Auswahl der Pflanzen war anfangs eher zufällig. «Bis heute kann ich nur sehr schwer ablehnen, wenn mir jemand eine Pflanze anbietet, etwa weil sie nach einem Umzug keinen Platz mehr hat oder zu gross für eine Wohnung geworden ist. Aber langsam geht mir der Raum aus», gesteht er. Eigentlich würde er gern auch an anderen Orten solche Gärten schaffen.
”Der eine oder andere Nachbar hat schon angemerkt, es sei jetzt bald genug. Aber ich konnte nicht aufhören. Wenn ich irgendwo eine Pflanze gefunden habe, musste ich sie dazustellen.
Evor, Künstler
Pflanzen, die sich von selber ansiedeln, sind ihm hochwillkommen. «Unkraut» gibt es für ihn nicht, es ist einfach die Fülle der Natur in ihrem ganzen übersprudelnden vielfältigen Luxus. Man müsse nur genau hinsehen, findet er. Statt Pestizide zu benutzen, freut er sich lieber an der zunehmenden Zahl Insekten, die er im Garten beobachtet. Es kommen auch immer mehr Vögel – und am Ende reguliert die Natur die Schädlinge sowieso selbst am besten.
Aus seinem persönlichen Engagement ist mehr geworden, als es Evor jemals geplant hat: 2018 hat «Voyage à Nantes», ein Kulturprojekt der Metropolregion Nantes, schliesslich eine Treppe bauen lassen, damit die Passanten, die den öffentlich zugänglichen Durchgang durchqueren, Evors Garten besser bewundern können. Auch Pflanzen, Pflanzgefässe und Substrat bekommt er seither von der Stadtgärtnerei gestellt. Finanziell liesse sich das für eine Einzelperson bei der schieren Menge der Pflanzen längst nicht mehr bewältigen.
Quelle: Evor
Vorher- und Nachher-Ansichten eines Teils des Gartens. Unter dem wuchernden Grün sieht es aber immer noch gleich aus – alles wächst in Töpfen.
Oase im Trubel des Alltags
Aus ein paar Blumentöpfen auf einem privaten Sitzplatz ist so ganz von selbst ein Angebot geworden, das Passanten einlädt, etwas herunterzukommen von der Alltagshektik. «Man darf nicht vergessen, sich einfach mal Zeit zum Sein und zum Innehalten zu nehmen. Das kann dieser Garten leisten, wenn die Menschen in der Lage sind, sich darauf einzulassen.»
Viele tun das tatsächlich. Sie setzen sich auf die Stufen und geniessen den Anblick. Andere steigen auf die Plattform, zücken kurz das Handy für ein paar Fotos und hetzen weiter zur nächsten Attraktion. Mit dieser schnellen Konsumhaltung hat Evor verständlicherweise Mühe: «Solche Leute sehen gar nichts.» Die anderen dafür um so mehr. Er gesteht: «Ich liebe es, wenn ich irgendwo ungesehen zwischen den Pflanzen arbeite und von der Plattform plötzlich ein staunendes Wow herüberdringt.»
Quelle: Alexandra von Ascheraden
Auch Nachbars Katze schätzt den Garten.