19:47 KOMMUNAL

Internettipp: Interviews aus Charkiv, der verletzten Stadt

Teaserbild-Quelle: National Police of Ukraine, CC BY 4.0

Wie lebt es sich in einer vom Ukrainekrieg versehrten Stadt? Wie verändert sie sich? Darum und mehr geht es in elf Interviews mit elf Männern und Frauen aus Charkiv im Online-Themendossier “Die verletzte Stadt” auf dem Onlineportal des Herder-Instituts für historische Osteuropaforschung  in Marburg, Copernico.eu.

Zerstörtes Wohngebäude in Charkiw

Quelle: National Police of Ukraine, CC BY 4.0

Zerstörtes Wohngebäude in Charkiw, nach einem russischen Raketenangriff am Morgen des 23. Januar 2024.

"Ich wachte am frühen Morgen auf. Gegen 6 Uhr hat meine Tochter gesagt, dass ein Freund von ihr aus dem Bezirk Nordsaltiwka um 5 Uhr geschrieben hat, dass er zu uns kommt, weil dort geschossen und bombardiert wurde... ”, erinnert sich die Unternehmerin Oleksandra (53) an den Morgen des 24. Februar, als die ersten Bomben auf Charkiw fielen. “Ich habe gesagt, dass sie natürlich kommen können. Die Eltern, der Bruder und die Grossmutter wollten auch kommen. Wir haben also am Morgen Gäste erwartet. Was konnten wir sonst machen?” 

Längst ist der Krieg im Alltag der zweitgrössten Stadt der Ukraine angekommen. Yevhenij (42) sagt: „Nachts ist der Himmel fast immer rotglühend. So wie die Leute in Leningrad weisse Nächte haben, haben wir in Charkiw rote Nächte.” - “Es schmerzt mich natürlich, wenn ich diese Zerstörungen sehe”, resümiert der Mykola (23), der vor dem Krieg als Architekturmodellbauer gearbeitet hat. “Aber ich denke und hoffe, dass alle Probleme und sogar die Tatsache, dass einige Häuser, einige Wohngebiete und Stadtteile, die ich mag, zerstört wurden, eine Chance für etwas Neues in der Zukunft darstellen.”  

In den ersten Monaten des Ukrainekriegs hat die ukrainische NGO “Young Charkiw” – eine Gruppe von Historikerinnen und Historikern – mit Menschen gesprochen, die in Charkiw zu Hause sind und dort den Kriegsbeginn erlebt haben. Diese Gespräche kann man untertitelt im Themendossier “Die verletzte Stadt” auf Copernico.eu jeweils in einer Kurzversion und in vollständiger Länge mitverfolgen. 

Von der Datscha bis zum Haus der staatlichen Industrie

Die  Frauen und Männer aus Charkiv erzählen, wie sie den Kriegsausbruch erlebten, wie ihre Überlebensstrategien aussehen, wie sie den Alltag in der versehrten Stadt erleben, ob sie über Flucht nachdenken oder welches ihre Lieblingsplätze in der Stadt sind. Letztere werden im Dossier auf einer kleinen interaktiven Karte verortet, mit Angaben zum Zustand, was dort während des Krieges bisher geschehen ist und ob man sie überhaupt noch besuchen kann. Die Bandbreite reicht von der Datscha bis zum zwischen 1925 und 1928 erbauten Haus der staatlichen Industrie, der im konstruktivistischen Stil erbaute Wolkenkratzer gilt als Architekturdenkmal.

Um die Architektur und Stadtgeschichte Charkivs geht es in dem Themenschwerpunkt ebenfalls: So wird aufgezeigt, wie sich die Stadt mit den Angriffen gewandelt hat und was mit den einzelnen Stadtquartieren geschehen ist. Einer der heftigsten Veränderungen dürfte Nord-Saltiwka durchgemacht haben, der am stärksten vom Krieg betroffene Stadtteil ist mittlerweile zum “Geisterviertel” geworden. Von den rund 200’000 Einwohnerinnen und Einwohnern seien hier sind nach optimistischen Berechnungen weniger als tausend übriggeblieben. Des weiteren wird auch unter dem Titel “Charkiv - Haupstadt der Moderne” die Architektur der Metropole beleuchtet:  Als Charkiv zwischen 1919 und 1934 Hauptstadt der sowjetischen Ukraine gewesen war, wandelte sich ihr Gesicht. Noch heute zeugen spektakuläre Bauten vom Bauboom und der architektonischen Experimentierfreude jener Zeit. 

Den Anstoss für das eindrückliche Dossier hat eigentlich Svitlana Telukha aus Charkiv gegeben: Kurz nach Ausbruch des Ukrainekriegs ist die Historikerin nach Leipzig geflüchtet. Hier lernte sie Maren Röger, Direktorin des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), kennen. Telukha begleitete sie in eines ihrer Seminare, um dort von den ersten Tagen des Krieges zu erzählen und brachte dazu die Videointerviews aus Charkiw mit. In der Folge entstand die Idee, die Interviews auf  Copernico.eu zu veröffentlichen. (mai)

Hier gehts zum Themendossier: www.copernico.eu/de/ukraine-geschichte-und-gegenwart

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