10:02 KOMMUNAL

Im Ernstfall auf sich alleine gestellt?

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Die Fachhochschule Nordwestschweiz hat in einer Umfrage die Risikokultur und die medizinischen Notfallkonzepte von Gemeinden und KMU untersucht. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Auf den Gemeindeverwaltungen fehlt oft das Bewusstsein für den Umgang mit einem medizinischen Notfall. Dabei hätten sie eine Vorbildsfunktion.

Defibrillator

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Seit Kurzem ist das Notfallmanagement-System «Secure City» vor der Breite-Apotheke in Basel installiert.

Von Evelyn von Wieser *

Andy Weiss hat es hautnah miterlebt. An einem eiskalten Wintertag erlitt ein 60-jähriger Mann vor seiner Apotheke einen Herzkreislaufstillstand. Weiss ist Inhaber und Geschäftsführer der Breite-Apotheke in Basel. Er und sein Team reagierten sofort, machten eine Herzmassage und beatmeten den Mann. Nach etwa zehn Minuten traf der alarmierte Rettungsdienst ein und brachte einen Defibrillator mit – doch es war zu spät.

«Ich weiss nicht, was gewesen wäre, wenn wir damals einen eigenen Defibrillator gehabt hätten oder wenn wir in unmittelbarer Umgebung ein öffentliches Gerät hätten erreichen können», sagt Weiss. Aber es sei auf jeden Fall ein einschneidendes Erlebnis gewesen: «Ich bin Gesundheitsfachmann und möchte Leben retten und Leben verbessern. Das will ich beruflich und persönlich. Und Statistiken belegen, dass ein schnell erreichbarer Defibrillator viele Leben retten kann», so Weiss.

Sensibilisierung fehlt

Tatsächlich sind öffentlich zugängliche Defibrillatoren in Schweizer Gemeinden nicht besonders dicht gestreut. Es fehlt an der Sensibilisierung rund um die Risikokultur und an medizinischen Notfallkonzepten. In einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) wurden genau diese beiden Punkte untersucht, bezogen auf Gemeinden und auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Die Studie zeigt: Während bei KMU zumindest eine Sensibilisierung für ein Risikomanagement und damit das Vorhandensein einer Risikokultur feststellbar ist, fehlt diese bei Gemeinden zu einem grossen Teil.

Trotz einiger guter Beispiele, etwa Rüschlikon ZH und Zuzwil SG (siehe «Lebensrettender Stromstoss», Kommunalmagazin 5/2013), die in ihren Gemeinden Defibrillatoren an neuralgischen Punkten installiert haben: Über alle untersuchten Punkte hinweg zeigt sich, dass Gemeinden über eine mangelnde Risikokultur verfügen. Dies gilt auch und ganz besonders für den medizinischen Notfall. Schon bei der Zuständigkeit einer bestimmten Person hapert es beträchtlich. Ein Zusammenhang zwischen der Grösse einer Gemeinde und der Qualität des Risikomanagements ist hingegen nicht festzustellen.

Ernüchternde Ergebnisse

Für die Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) haben die Autoren 90 Gemeinden und 90 KMU befragt. Davon haben 50 Prozent geantwortet, 60 KMU und 31 Gemeinden. Die Ergebnisse decken sich grundsätzlich mit einer Untersuchung der Universität St. Gallen und der Hochschule Luzern über Risikokulturen in Gemeinden. In der damaligen Studie kamen die Autoren zum ernüchternden Ergebnis, dass bei Gemeinden in Bezug auf die Risikokultur grosser Handlungsbedarf bestehe. Dieser Schlussfolgerung kann sich die aktuelle Studie der FHNW nur anschliessen und diese vor allem auch auf KMU ausdehnen.

Die Erkenntnisse geben erst recht zu denken, wenn schwere Unfälle und Herzkreislaufstillstände beziffert werden. Jedes Jahr kommt es in der Schweiz zu rund 10 000 schweren Arbeitsunfällen, die mehrere Millionen Ausfalltage und Versicherungsleistungen von über einer Milliarde Schweizer Franken verursachen. Fast an jedem Arbeitstag gibt es ein Todesopfer. Das sagt die Unfallstatistik UVG. Und: Jedes Jahr erleiden rund 30 000 Menschen in der Schweiz einen Herzinfarkt, fast 8000 Betroffene sterben an den Folgen.

Die Uhr tickt

Bei einem Unfall und ganz besonders bei einem Herzkreislaufstillstand sind die ersten drei bis vier Minuten entscheidend. Wird den Betroffenen dann nicht geholfen, können irreversible Schäden auftreten. Nach durchschnittlich acht bis neun Minuten tritt der Tod ein. Bis professionelle Rettungskräfte eintreffen, vergehen in der Regel aber zehn bis fünfzehn Minuten.

In dieser Zeit müssen also die Ersthelfer vor Ort möglichst viel Unterstützung bieten können, zum Beispiel durch den Einsatz eines nahegelegenen Defibrillators. Wird in den ersten Minuten nach einem Herzkreislaufstillstand ein Defibrillator eingesetzt, beträgt die Überlebensrate eines Kammerflimmer-Patienten 90 Prozent – ohne Defibrillator-Einsatz sind es weniger als fünf Prozent. Aktuell werden aber nur rund drei Prozent der Betroffenen innerhalb der kritischen ersten vier Minuten so behandelt.

Eigeninitiative im Quartier

Andy Weiss von der Breite-Apotheke wurde schliesslich selber aktiv und beschaffte sich einen Defibrillator, der öffentlich zugänglich ist. Inzwischen hat er bereits ein neues Gerät von einem anderen Anbieter: Ende Februar 2018 liess er das Notfallmanagement-System «Secure City» der Lifetec AG (siehe Box) vor seiner Apotheke installieren. Das Gerät passt zu seinen Bedürfnissen: «Die Geolokalisation war mir sehr wichtig, wenn etwas passiert, wissen die Rettungskräfte gleich, wohin sie müssen. Die 24/7-Verbindung zur Notrufzentrale, in diesem Fall sogar zur Nummer 144, und dadurch ein direkter Kontakt mit Fachpersonen, kann sehr viel helfen.»

FürLaien seien solche Notfälle sehr erschreckende Situationen. Es sei wichtig, dass sie beruhigt und angeleitet würden und dass sie Hemmungen abbauen könnten. «Das Gerät ist klimatisiert, wird im Sommer gekühlt und im Winter leicht geheizt. Dadurch bleibt es einsatzfähig und kann im öffentlichen Raum bestehen», erklärt Weiss.

Die Breite-Apotheke nimmt damit eine besondere Rolle ein. Sie befindet sich geografisch fast im Zentrum eines Quartiers mit rund 10 000 Einwohnern. Der Standort ist optimal, um aus der Nähe rasch auf den Defibrillator zugreifen zu können. Das Gerät installierte Weiss zwar aus Eigeninitiative und auf eigene Kosten. Doch er würde es begrüssen, wenn Städte und Gemeinden – egal welcher Grösse – dafür sorgten, dass öffentlich zugängliche Defibrillatoren installiert würden, beispielsweise vor gut frequentierten und zentralen Geschäften oder vor der Gemeindeverwaltung.

«Es wäre toll, wenn die Gemeinden einen solchen Apparat finanzieren könnten», sagt Weiss. «Jedoch muss es dann auch die Bereitschaft des Geschäfts oder der Gemeindeverwaltung geben, einige Mitarbeitende entsprechend zu schulen.» Er selbst hat 15 Angestellte, die alle zwei Jahre vor Ort von einem Rettungssanitäter im Umgang mit dem Defibrillator geschult werden. «Das ist kein grosser Kostenpunkt», so Weiss.

Es bräuchte also nicht allzu viel, um die Risikokultur und die Notfallkonzepte in Gemeinden deutlich zu verbessern. Man muss es bloss tun. Die Installation eines öffentlich zugänglichen Notfallmanagement-Systems beispielsweise wäre ein kleiner Schritt für eine Gemeinde, aber ein grosser Schritt für die Ersthelfer und die von ihnen geretteten Menschen.

* Evelyn von Wieser ist Geschäftsleiterin der L&W Communication AG in Zürich und Wien.

Nachgefragt bei Volker Schulte

Volker Schulte ist Dozent für Gesundheitsmanagement, -politik und -ökonomie an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und Autor der FHNW-Studie.

Volker Schulte

Quelle: zvg

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