Gewappnet für die grosse Flut
Damit die 162 grossen Talsperren in der Schweiz sicher betrieben werden können, müssen Bauwerke zur Hochwasserentlastung errichtet werden, die bei extremen Regenfällen ein unkontrolliertes Überlaufen des Stausees verhindern. Die ETH Lausanne (EPFL) hat eine neue Methode entwickelt, mit der sich die Gefahren durch ausserordentliche Hochwasserereignisse besser abschätzen lassen.
Quelle: SwissCOD
Sicherheit ist essenziell: Die Bogenstaumauer Limmernboden im Kanton Glarus wurde 1963 fertiggestellt.
Von Benedikt Vogel*
Wenn es um die Erforschung von Wasserkraftwerken und anderen hydraulischen Bauwerken geht, geniesst das Wasserbaulabor der ETH Lausanne (EPFL) einen erstklassigen Ruf. Wissenschaftler untersuchen hier die Verlässlichkeit von Talsperren, die Zweckmässigkeit von hydraulischen Bauwerken, von Wasserkraftanlagen oder den Sedimenteintrag in Stauseen, aber auch Fragestellungen rund um den Hochwasserschutz und die Gewässerrevitalisierung.
In der grossen Versuchshalle werden neben den Forschungsexperimenten mehrere praktische Fragestellungen zu Projekten im Inund Ausland untersucht. Dazu gehören Massnahmen gegen Erosionen am Fusse der Staumauer Kariba am Zambesi-Fluss in Afrika, Erosionsschutz mit grossen Betonprismen beim Flusskraftwerk Chancy-Pougny an der Rhone unterhalb von Genf, Fischaufstieg an einem Rheinkraftwerk unterhalb von Basel und ein Wirbelfallschacht zur Abführung von Abwasser in Cossonay VD.
Hochwasser gefährdet Damm
Das Thema Sicherheit zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Forschungsprojekte. Die Schweizer Bevölkerung hat Vertrauen in die Verlässlichkeit der einheimischen Talsperren. Doch die Sicherheit von Staumauern und Staudämmen bleibt eine ständige Aufgabe.
Was im Schadenfall passiert, hat die Bevölkerung unterhalb des Oroville-Staudamms im nördlichen Kalifornien im Frühjahr 2017 leidvoll erfahren. Damals drohte eine Seitenmauer beim Notüberlauf abseits des 200 Meter hohen Erddammes nach wochenlangen Regenfällen zu brechen. Der Staudamm hat zwar einen Überlauf – Hochwasserentlastung genannt –, welcher verhindert, dass das Wasser unkontrolliert über den Staudamm fliesst. Doch nach einem Schaden konnte der Hauptüberlauf nicht mehr benutzt werden. Das Wasser floss über den Notüberlauf und drohte diesen zu unterspülen. Aus Sicherheitsgründen wurden vorsorglich 160 000 Personen evakuiert. Die Seitenmauer und der Damm hielten den Wassermassen jedoch stand.
Es ist ein Zufall, dass kurz vor dieser spektakulären Panne in Kalifornien ein Forschungsprojekt an der EPFL abgeschlossen wurde, das sich der Sicherheit von Talsperren bei Hochwassern widmet. Fränz Zeimetz hat in seiner Doktorarbeit untersucht, welche Wassermenge während eines starken Regens im Einzugsgebiet eines Stausees niedergeht – und welche Auswirkungen der Niederschlag auf den Füllstand des Stausees hat.
Der Luxemburger Wissenschaftler entwickelte eine Methode, um die Auswirkungen extremer Niederschlagsereignisse zu bestimmen. Die Arbeit leiste einen Beitrag zur Sicherheit von Talsperren, sagt Anton Schleiss, der an der EPFL das Laboratoire de constructions hydrauliques (LCH) leitet und die Dissertation betreut hat: «Die Talsperren in der Schweiz werden alle fünf Jahre einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Die vorliegende Arbeit stellt die wissenschaftlichen Grundlagen bereit, um das Gefährdungspotenzial von extremen Niederschlägen in den Schweizer Alpen in Zukunft noch besser abschätzen und in die Sicherheitsüberprüfungen einbeziehen zu können.»
Wenn Hochwasser «extreme» Ausmasse annehmen
Regen ist nicht gleich Regen: Wenn es im Amazonas-Gebiet regnet, kommt im selben Zeitraum gut und gern die doppelte Menge Wasser vom Himmel, als wenn sich die Wolken über der Schweiz entleeren. Der Hauptgrund: Die Luft in Südamerika ist wärmer und die Wolken können entsprechend mehr Feuchtigkeit speichern. Doch auch in der Schweiz kommen bei Starkregen erkleckliche Mengen zusammen. Beim verheerenden Alpenhochwasser im August 2005 waren es rund 150 Millimeter Niederschlag in 24 Stunden.
Das Unwetter von 2005 war gewaltig. Aber es könnte noch schlimmer kommen. Die Aufsichtsbehörden fordern von den Betreibern von Talsperren, sich für ein aussergewöhnliches Hochwasser zu wappnen. «Aussergewöhnlich» bedeutet in diesem Zusammenhang ein Hochwasser von der Stärke, wie es alle Tausend Jahre nur einmal zu erwarten ist. Staudämme müssen so robust gebaut sein, dass sie ein solches tausendjähriges Hochwasser ohne Schäden bewältigen. Selbst einem extremen Hochwasser, welches noch deutlich seltener zu erwarten ist, muss eine Talsperre – allenfalls mit Schäden – standhalten.
Wie viel Wasser bei einem tausendjährigen oder gar einem extremen Hochwasser in einen Stausee strömt, lässt sich nicht aus Erfahrung sagen, weil entsprechende Hochwasser noch nicht gemessen wurden. Deshalb versuchen Wissenschaftler, solche Hochwasser in Ausmass und Dauer möglichst genau zu berechnen. Diese Berechnungen dienen als Grundlage beim Bau und der regelmässigen Sicherheitsüberprüfung von Staumauern und Staudämmen.
Extremereignisse voraussehen
Grundsätzlich gilt: Wenn es stark regnet, sind Staumauern und Dämme erst einmal ein Segen, denn sie fangen die Wassermassen auf, die über dem Einzugsgebiet des Stausees niedergehen, und verhindern so ein abruptes Anschwellen der Flüsse.
Allerdings ist das Fassungsvermögen jedes Stausees begrenzt. Damit das Wasser aus dem vollen See kontrolliert abfliessen kann, verfügt jeder Stausee über ein Bauwerk zur Hochwasserentlastung. Dazu dienen Überläufe oder Öffnungen in den Talsperren – Fachleute sprechen von «Überfallen» und «Durchlässen».
Damit die Hochwasserentlastungen robust genug gebaut werden können, müssen die Betreiber der Stauanlagen wissen, mit welchen Hochwassern sie im extremsten Fall zu rechnen haben. Seit ab dem frühen 20. Jahrhundert und dann nach 1945 im grossen Stil Talsperren in den Schweizer Alpen errichtet wurden, um die Wasserkraft für die Stromproduktion zu nutzen, wurde versucht, schlimmstmögliche Hochwasserereignisse vorauszusehen.
Grundlage dieser Abschätzungen waren lange Zeit hauptsächlich beobachtete Hochwasser. Aus den historischen Aufzeichnungen und gemessenen Hochwassern versuchten Wissenschaftler mit statistischen Methoden abzuleiten, mit welchen Hochwassern für die Zukunft im schlimmsten Fall mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist.
Neues Vorhersagemodell
Dieser Ansatz führt indessen für sich alleine häufig nicht zu verlässlichen Ergebnissen bei extremen Hochwassern. Daher gehen Forscher seit etwa 20 Jahren einen neuen Weg, bei dem sie bestimmen, welche Regenmenge über einem Landstrich maximal niedergehen kann. Diesen Berechnungen legen sie eine maximale Wolkendichte mit maximaler Sättigung an Feuchtigkeit zugrunde.
Die Ergebnisse werden in sogenannten PMP-Karten zusammengefasst, die für jeden geografischen Ort den maximal möglichen Niederschlag (PMP steht für «probable maximum precipitation») ausweisen. Doch auch dieses Vorgehen hat seine Schwächen: Die ausgewiesenen Regenmengen sind tendenziell zu hoch, weil der Regen über einem bestimmten Gebiet nicht flächendeckend über einen längeren Zeitraum mit maximaler Stärke niedergeht.
Fränk Zeimetz hat in seiner Doktorarbeit nun eine Methode entwickelt, die von Maximalwerten der PMP-Karten ausgeht, aber auch die gemessenen Hochwasserereignisse miteinbezieht und auf dem Weg zu einer aussagekräftigeren Vorhersage extremer Hochwasserereignisse gelangt. Diese Methode inkludiert verschiedene Faktoren, welche die Grösse eines Hochwassers in der Realität massgeblich mitbestimmt haben.
Dazu gehören neben der Temperaturverteilung in der Atmosphäre auch Umstände, die die Auswirkungen eines Hochwassers tendenziell dämpfen oder verstärken: Wenn der Boden beispielsweise aus Erdreich und nicht aus Fels besteht und daher Wasser speichern kann. Oder wenn der Regen auf eine Schneedecke fällt und diese schmilzt, was den Abfluss erhöht.
Quelle: Hertig and Fallot (2009)
Die PMP-Karte zeigt die maximal zu erwartende 24-h-Regenmenge in der Schweiz. In gewissen Alpenregionen können bis zu 750 Millimeter (mm) Regen niedergehen. Das ist deutlich mehr als die 150 mm, die beim Alpenhochwasser 2005 gemessen wurden. Zum Vergleich: Der Jahresniederschlag in der Schweiz beträgt durchschnittlich 1500 mm.
Klimawandel ausgeklammert
In der Öffentlichkeit ist heute die Annahme verbreitet, mit dem Klimawandel werde Zahl und Heftigkeit von Hochwassern in Zukunft zunehmen. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass die EPFL-Studie den Klimawandel bewusst nicht miteinbezogen hat. Anton Schleiss sieht darin keinen Mangel: «Der Klimawandel wird die Häufigkeit von Hochwassern zwar beeinflussen, doch die Regenmenge wird dadurch kaum erhöht, da wir in unseren Modellen ja bereits von den maximal möglichen Mengen ausgehen, die Wolken überhaupt aufnehmen können.»
Ausserdem werden die grössten Talsperren alle fünf Jahre einer umfassenden Sicherheitsüberprüfung unterzogen und wenn nötig die Anforderungen an die Hochwassersicherheit angepasst. Bei den übrigen Talsperren werden die Annahmen zur Gewährleistung der Hochwassersicherheit alle zehn Jahre überprüft. Schleiss betont gleichzeitig, dass die Auswirkungen des Klimawandels längerfristig die Berechnung extremer Hochwasser beeinflussen können.
So könnte eine Erhöhung der Nullgradgrenze die Regenmenge im Hochgebirge erhöhen, weil dann weniger Niederschlag in Form von Schnee fällt. Zudem könnten sich
die Bodeneigenschaften und deren Nutzung ändern. Um solche Effekte heute schon einzubeziehen, sei es allerdings noch zu früh, sagt der EPFL-Forscher, der das massgebliche internationale Expertengremium – die Internationale Kommission für grosse Talsperren – präsidiert.
Die Ergebnisse des Lausanner Forschungsprojekts werden in Zukunft dabei helfen, Staumauern und -dämme für extreme Hochwasserereignisse auszulegen. Von 1900 bis 1970 gab es in Europa vergleichsweise wenig grosse Hochwasser, daher wurde beim Bau der Talsperren die Hochwassergefahr eher zu tief angesetzt, da man sich auf beobachtete Hochwasserereignisse bezog.
Dieses Defizit sei unterdessen wo nötig durch Sanierungen kompensiert worden, sagt Anton Schleiss. Gleichwohl sei denkbar, dass auf Grundlage des neuen Forschungsprojekts einzelne Hochwasserentlastungen vergrössert werden müssten.
Alternativ könne bei Stauseen auch ein grösseres «Freibord» – das ist der Abstand zwischen maximal zulässigem Füllstand und Mauerkrone – festgesetzt werden.
* Benedikt Vogel betreibt eine Agentur für Forschungskommunikation in Berlin. Der Text ist im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE) entstanden.
Quelle: Dissertation Zeimetz/Swisstopo
Die Karte zeigt den Stausee Limmernboden (dunkelblau) und das Einzugsgebiet (schwarz ausgezogen) mit Gletschern (hellblau). Damit für den Stausee genügend Wasser zur Verfügung steht, wird das Wasser von benachbarten Tälern in zusätzlichen Wasserfassungen gesammelt (rote Punkte) und über einen Stollen in den Stausee gebracht.