Freie Bahn für alle gibt es nicht
Von Patrick Aeschlimann
Seit 2004 ist im Behindertengleichstellungsgesetz (Behig) explizit festgehalten, dass Menschen mit einer Behinderung – unter Wahrung der Verhältnismässigkeit – nicht benachteiligt werden dürfen. Als minimale Grundanforderung gilt, dass bei Neu- oder Umbau von öffentlich zugänglichen Anlagen und Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs Benachteiligungen für Menschen mit einer Behinderung verhindert, verringert oder beseitigt werden müssen.
Wie schwierig das in der Praxis ist, zeigte sich für Joe Manser, Gründer und Leiter der Schweizerischen Fachstelle für behindertengerechtes Bauen, an der Tagung «Hindernisfreier Verkehrsraum» des Vereins Forschung und Normierung im Strassen- und Verkehrswesen (VSS). Der wegen Kinderlähmung auf den Rollstuhl angewiesene Manser konnte am Tagungsort, dem Neubau der pädagogischen Hochschule in der Zürcher Europaallee, während seiner Präsentation nicht gleichzeitig die Anwesenden und seine Folien im Blick haben. Er merkte an, dass das Gebäude auch sonst überhaupt nicht behindertengerecht gebautworden sei. Dabei gibt es im Hochbau seit 2009 eine SIA-Norm, welche dies sicherstellen sollte.
Doch nicht nur der Zugang zu Gebäuden muss für Menschen mit einer Behinderung geregelt werden. Auch im öffentlichen Raum, besonders in Verkehrsräumen, haben sie ein Recht darauf, sich möglichst frei bewegen zu können. Weil die SIA-Norm 2009 ältere Normen ersetzte, die auch den Verkehrsraum regelten, entstand eine Normierungslücke. Diese wurde per 1. Dezember 2014 durch die VSS-Norm «SN 640 075; Fussgängerverkehr, hindernisfreier Verkehrsraum» geschlossen.
ÖV bis 2023 hindernisfrei?
Vorab stellt sich bei einem Bauvorhaben die Frage, ob und wann behindertengerecht gebaut werden muss. Das Behig definiert auf eidgenössischer Ebene lediglich, dass Bauten, Anlagen und Fahrzeugedes öffentlichen Verkehrs bis Ende 2023 für Menschen mit einer Behinderung zugänglich sein müssen. «Das gilt auch für die über 5000 Bushaltestellen», erklärt Joe Manser, «aber nur die wenigsten erfüllen heute diese Bedingung.»
Umsetzungsfristen für andere öffentlich zugängliche Anlagen, etwa Verkehrsanlagen, sind teilweise in kantonalen Verfassungen und Gesetzen definiert. «Die Gesetze in der Schweiz sind oft eher allgemein gehalten, die Umsetzung erfolgt dann über Verordnungen oder Normen, etwa SIA- oder VSS-Normen», sagt Manser.
Ein wichtiger Punkt, den die VSSNorm «Hindernisfreier Verkehrsraum» regelt, ist die Höhenüberwindung. «Dieses Problem ist im Innern von Gebäuden grösser als im Aussenbereich, da auch Velo- und Autofahrer keine Stufen überwinden können», so Manser. Aus Forschung und Praxis weiss man, dass Rampen mit einer Neigung von mehr als sechs Prozent nicht ohne motorisierte Hilfsmittel zu überwinden sind. «Im Bergland Schweiz liegt es aber schon in der Natur der Topografie, dass oft keine Rampe mit einer solch moderaten Steigung gebaut werden kann», sagt Manser.
Darum definiert die Norm lediglich, dass man «nach Möglichkeit» unter sechs Prozent bleiben soll. Im Freien sind Rampen mit einer Steigung bis zehn Prozent erlaubt. «Ab zwölf Prozent wird es dann auch für Hilfspersonen schwierig», weiss Manser. Handläufe für gehbehinderte Personen, am besten beidseitig, seien zusätzlich ohnehin sinnvoll.
Die Norm verpflichtet bei grösseren Steigungen zu einer alternativen Verbindung, etwa mit einem Aufzug oder einem öffentlichen Verkehrsmittel. Auch für Lifte werden Vorgaben punkto Grösse der Kabine gemacht, sodass ein Rollstuhl ohne Mühe hineinfahren kann. (...)