Findlinge: Monumente der Eiszeit
Findlinge sind mittlere bis riesengrosse Felsblöcke, welche die schmelzenden Gletscher am Ende der letzten Eiszeit zurückliessen. Doch die Steine sind mehr als nur Zeugen der Erdgeschichte: Sie bilden einen Lebensraum für seltene Arten – und markieren den Beginn des Naturschutzes in der Schweiz.
Quelle: Ben Kron
Findlingsgarten in Zürich-Höngg: Überall im Mittelland um im Jura sind die erratischen Blöcke zu finden.
Wer im Mittelland oder im Jura lebt, hat
sehr wahrscheinlich ein paar Exemplare in seiner Nähe: Findlinge, mittlere bis
riesig grosse Gesteinsbrocken, die scheinbar ohne Zusammenhang in der
Landschaft herumliegen. Und wer in Erdkunde nicht durchgeschlafen hat, weiss
auch: Diese Steine wurden in der letzten Eiszeit von Gletschern hierher
transportiert und dann liegengelassen, als die Eismassen vor etwa zehntausend
Jahren schmolzen. Wobei die Geologie den Begriff Findling erst ab einem Volumen
von einem Kubikmeter verwendet. Kleinere Steine gelten schlicht als
Moränenmaterial.
Findlinge bestehen insgesamt aus einer
Vielzahl von Gesteinsarten und sind mehr als nur Zeugen der Erdgeschichte und
beeindruckende Exempel für die Kraft der Gletscher. Vor allem Silikatsteine
sind für die Biodiversität von grosser Bedeutung: Denn sie bilden wichtige
Lebensräume für einige hoch spezialisierte Algen, Flechten, Moose und Pflanzen,
die nur auf solchen Silikatsteine gedeihen können. Zu diesen gehören etwa
Feldspate und Quarze, die «Silikatinseln» in einer von Kalksteinen geprägten
Landschaft darstellen.
Quelle: Ben Kron
Ohne Bewuchs: Dieser Findling besteht aus Nagelfluh.
Beginn der Naturschutzbewegung
Darüber hinaus haben Findlinge gerade in
der Schweiz eine besondere Bedeutung: Sie wurden im vorletzten Jahrhundert zu
einer Art Nationalsymbol erhoben, und die Bemühungen um ihre Erhaltung stehen
am Anfang der Naturschutzbewegung in unserem Land.
Tatsächlich war das Wissen um die
Erdgeschichte lange mager, und erst Mitte des 19. Jahrhunderts brachten die
auffällig herumliegenden grossen Steine Schweizer Naturforscher auf die
Eiszeittheorie. Um auf Basis dieser Hypothese die Ausdehnung der eiszeitlichen
Gletscher zu bestimmen, kam den erratischen Blöcken eine besondere Bedeutung
zu: Sie waren quasi die Endsteine der maximalen Ausdehnung der Eisdecke und
wurden dadurch zu wertvollen, schützenswerten Forschungsgegenständen. Denn bis
dahin waren Findlinge ganz profan als Baumaterial abgetragen worden.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Wehrli, Leo
Die «Pierre des Marmettes» bei Montey VS war der erste Findling, der in der Schweiz unter Schutz gestellt wurde.
Schutz der erratischen Blöcke
Für die Naturforscher aber waren die
Findlinge wichtige Zeugen der einmaligen natürlichen Geschichte des Landes.
Durch die zunehmende Nutzung der Steine, vor allem für den Eisenbahn- und den
Strassenbau, sahen sich die Wissenschaftler gezwungen, für den Schutz und
Erhalt dieser Naturobjekte aktiv zu werden. So rief der Forscher Alphonse Favre
schon 1867 im Namen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft (SNG) zum
Schutz der erratischen Blöcke auf.
Der erste unter Schutz gestellte Findling ist die «Pierre des Marmettes», ein 1600 Kubikmeter grosser Findling bei Monthey VS. Er besteht aus Mont-Blanc-Granit, der sich für Eisenbahn-Schotter hervorragend eignet. Damit ihm dieses Schicksal erspart bleibt, wurde 1906 eigens die Schweizerische Naturschutzkommission gegründet, die den Findling zusammen mit der SNG erwerben konnte. Aus der Naturschutzkommission ging der heutige Naturschutzbund hervor.
Quelle: Ben Kron
Vorbildlich: Dieser Nagelfluh-Findling wurde vom Kanton erfasst und sorgsam mit einer Infotafel beschriftet.
Erste kantonale Verzeichnisse
Im zwanzigsten Jahrhundert wuchs das
Verständnis für die Bedeutung der Findlinge: Erste Kantone legten Verzeichnisse
ihrer schützenswerten Objekte an, wozu auch Schalensteine gehörten. Einzelne
Steine wurden sogar mit Tafeln beschriftet, von den Kantonsregierungen als
geschützt erklärt und die Besitzer enteignet. Selbst Einträge ins Grundbuch
wurden vorgenommen, was die sicherste Massnahme für den dauerhaften Schutz
eines Objektes ist.
Einige Kantone haben heute im Grundbuch
nicht einzelne Objekte, sondern archäologische Zonen eingetragen, worin jede
Bautätigkeit meldepflichtig ist. Ab dem Jahr 2000 kamen zudem erste
Geotop-Inventare ins Netz, die teilweise auch Steindenkmäler und damit
Findlinge enthalten.
30 Moos- und 80 Flechten-Arten
Zentrale Instanz für die Erforschung und
den Schutz der Findling ist die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft (WSL), die auch das Merkblatt «Portrait, Gefährdung und
Schutz der Findlingsflora» herausgegeben hat. Die kostenlose Publikation
richtet sich vor allem an Entscheidungsträger in Gemeinden und Kantonen. Die
Forscher führen darin unter anderem auch 30 Moosarten, über 80 Arten von
Flechten und mehrere Begleitpflanzen auf, die ausschliesslich auf den
Silikat-Findlingen gedeihen können.
Die WSL-Forschenden halten fest, dass
Findlinge zum Glück heute in den meisten Kantonen geschützt werden und immer
seltener zu Schaden kommen. «Trotzdem kommt es vor, dass Findlinge noch heute
aus Landschaftsflächen entfernt werden, etwa im Rahmen von Meliorationsprogrammen.
Das führt zum lokalen Absterben der Findlingsflora.»
Quelle: Ben Kron
Oft werden Findlinge zerstört oder als Lebensraum beschädigt: Sprayerei auf einem Felsblock.
Unsinniges «putzen»
Schaden nehmen kann diese Flora auch durch
einen veränderten Lebensraum, zum Beispiel wenn bei Findlingen im Wald
rundherum Bäume gefällt werden. Und dann werden heute noch Findlinge immer
wieder «geputzt», zum Beispiel aus übertriebenem Ordnungssinn, oder um die
Steine als Kletterfelsen zu benutzen. Trittschäden, aber auch das verwendete
Magnesia-Pulver schädigen den empfindlichen Bewuchs ebenfalls.
Die Nutzung von Findlingen für
Klettertouren ist dabei nicht nur sehr schädlich sondern blanker Unsinn: Jede
Kletterhalle bietet mehr und längere Kletterrouten als ein Solitär, der durch
die menschliche Nutzung mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden nimmt.
Sensibilisierung nötig
Wichtig für einen wirksamen Schutz der
Findlinge ist laut WSL-Forschenden die Sensibilisierung von Personen der
Verwaltung, des Naturschutzes sowie der Bau-, Land- und Waldwirtschaft: «Sie
sollten bei der Planung und Umsetzung ihrer Tätigkeiten Findlinge und deren
Flora berücksichtigen.» Dazu wünscht man sich eine bessere Kartierung und
Dokumentierung der Findlinge, wie sie in einigen Kantonen schon erfolgt ist.
In der Landwirtschaft sollten Findlinge
weder zerstört noch verschoben werden. «Massnahmen zum Schutz und zur Pflege
können im Rahmen von Vernetzungs- oder Landschafts-Qualitätsprojekten
abgegolten werden», wie dies der Kanton Zürich seit 2022 praktiziert. Zur
Pflege der Findlinge empfiehlt es sich, Brombeeren und andere Gehölze vom Stein
zu entfernen. Die Pflanzen rundherum sollten die Besonnung des Steins nicht zu
sehr beeinträchtigen.
Bleibt am Ende noch die Frage für Unsichere: Woran genau erkenne ich einen Findling? Ganz einfach: «Alle in der Landschaft liegenden Steinblöcke, die nicht der Zusammensetzung des lokalen Gesteins entsprechen und nicht von Menschen oder Flüssen dorthin transportiert wurden, sind mit grosser Wahrscheinlichkeit Findlinge.»