12:38 KOMMUNAL

Biodiversität im Siedlungsraum: So werden Grünflächen insektenfreundlich

Teaserbild-Quelle: Sofia Mangili

Insekten und Reptilien suchen zunehmend Zuflucht in Siedlungsgebieten. Fachgerecht gepflegte, blühende Grünflächen sind ein wichtiger Beitrag zur Biodiversität. Es gilt, ein paar einfache Regeln zu beachten, wenn die Mühe nicht umsonst sein soll.

Blumenwiese

Quelle: Alexandra von Ascheraden

Auf blühenden Magerwiesen im Siedlungsgebiet tummeln sich die Insekten.

Gründe fürs Insektensterben kennt man zur Genüge: Insektizide, intensivierte Landwirtschaft mit Monokulturen, wachsende Siedlungsräume, sterile Grünflächen ohne Blütenangebot, Lichtverschmutzung, zu aufgeräumte Gärten und Wälder.

Längst finden zahlreiche Insektenarten in der Stadt mehr Nahrung als in den Intensivkulturen der Landwirtschaft. Viele Stadtgärtnereien pflanzen bewusst pollenreiche Pflanzen, setzen auf Blumen- statt Golfrasen, verzichten auf Pestizide. Im Kurs «Insektenfreundliche Grünflächenpflege» der sanu erklärte Katrin Luder, Projektleiterin Natur im Siedlungsraum bei der Naturschutz- und Artenförderung GmbH, worauf zu achten ist, wenn bei den Unterhaltsarbeiten auch die Insekten gefördert werden sollen. 

Hohes ökologisches Potential

«Der Siedlungsraum hat hohes ökologisches Potential, wenn die Grünflächen richtig bewirtschaftet werden. Sie können neben Naturschutzgebieten zu den letzten Rückzugsorten gewisser Arten werden. Entscheidend ist, dass sich über die Siedlungsfläche gesehen ein vernetztes Mosaik verschiedener Lebensraumtypen ergibt.» 

Dort können Privatgärten einen ebenso wichtigen Beitrag leisten wie Parks, Strassenrandbegrünungen oder Flachdächer. «Eine vorbildlich insektenfreundlich begrünte Verkehrsinsel hilft wenig, wenn die Insekten in der Umgebung keine weiteren Lebensräume finden. Sonst sind sie dort eingesperrt», nennt die Projektleiterin ein Beispiel.

Ruderalflächen statt Rasen

Als Praxisbeispiel für die anschliessende Ortsbegehung diente Rümlang (ZH), da dort seit 1991 aktiv «Natur im Siedlungsraum» gefördert wird. Das Naturschutzunternehmen, bei dem Luder arbeitet, hat dort Projekte übernommen. In Rümlang gibt es Richtlinien zur ökologischen Umgebungsgestaltung bei Arealüberbauungen. Viele Grünflächen sind längst als Ruderalflächen oder Blumenwiesen umgestaltet. 

Die kies- und sandreichen mageren Ruderalflächen werden nur einmal pro Jahr geschnitten. Mit der Zeit wandeln sich solche Ruderalflächen in Magerwiesen um. Ist das nicht erwünscht so müssen Ruderalflächen alle zehn bis fünfzehn Jahre umgegraben werden, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. In Rümlang aber entstehen laufend neue Ruderalflächen, so dass man die langsame Umwandlung in Magerwiesen, die ebenfalls spannende Standorte sind, zulässt.

Strukturen

Quelle: Alexandra von Ascheraden

Ast-, Holz- und Steinhaufen als Strukturelemente bieten auch für Reptilien Nist- und Versteckmöglichkeiten. Einzelne aufkommende Brombeeren oder Heckenrosen dürfen zudem ruhig stehen bleiben – sie halten die Katzen ab.

Öffentlichkeitsarbeit wichtig

Ruderalflächen gehören zu den artenreichsten Flächen im Siedlungsgebiet. So «schön» wie der gewohnte Wechselflor sind sie für viele Bürgerinnen und Bürger nicht. Vielen erschliesst sich der Charme nach einer solchen Umstellung nicht gleich. Um so wichtiger ist die Informationsarbeit. «Es ist wichtig, die Öffentlichkeit mitzunehmen, man muss die Lokalpresse ins Boot holen und interessierten Bürgern Exkursionen anbieten, in denen sie erklärt bekommen, warum man weniger Wechselflor macht und weshalb an bestimmten Stellen das Gras stehen bleibt», so Luder weiter. 

Auch Schilder wurden in Rümlang schon aufgestellt, die etwa erklären, warum gewisse Flächen nur selten gemäht werden und welche Pflanzen und Insekten man in diesem Lebensraum beobachten kann. «Das Problem ist nur, dass die Schilder immer wieder verschwinden», räumt Luder ein.

Auch den Eindruck, die Gärtner seien einfach nur zu faul zum Mähen lässt sich einfach entkräften, indem rund um die Fläche eine Mäherbreite kurz gehalten wird. So hängt kein langes Gras «unordentlich» aufs Trottoir und es ist klar, dass sich jemand um diese Fläche kümmert. Denn das ist der Hauptkonflikt in der Biodiversitätsförderung. Was die Fachleute als sinnvoll ansehen empfinden die Bürger gern als «nicht schön» oder «ungepflegt». 

Zudem braucht es möglichst einheimische Bäume und Sträucher als Versteck und Nahrungsquelle in der Nähe. Luder: «Der Zitronenfalter legt seine Eier auf Kreuzdorn ab, die Pfaffenhütchen-Gespinstmotte auf dem gleichnamigen Busch. Seine Raupen spinnen ihn unschön ein, was häufig zu Anrufen besorgter Bürger führt. Aber an den auffallenden pink-orangen Früchten im Herbst freuen sich dann wieder alle.» Ein Appell, Brennnesseln wo immer möglich stehen zu lassen durfte nicht fehlen: «Es gibt sechs Tag- und an die sechzig Nachtfalterarten, die ihre Eier dort ablegen. Wer Schmetterlinge will muss auch Brennnesseln dulden.» 

Ruderalfläche

Quelle: Alexandra von Ascheraden

Die kies- und sandreichen mageren Ruderalflächen werden nur einmal pro Jahr geschnitten und sind für viele Insekten wichtig.

Ruderalfläche

Quelle: Alexandra von Ascheraden

Mit der Zeit wandeln sich solche Ruderalflächen in Magerwiesen um, die ebenfalls vielen Insekten Lebensraum bieten.

Spezialisten und Generalisten

Es gibt unter allen Arten Spezialisten und Generalisten, die unterschiedlich gefördert werden müssen. Die Raupen des Grossen Ochsenauges fressen zahlreiche Gräser und Seggen. Der Zwergbläuling legt seine Eier ausschliesslich an Wundklee. Dieser ist eine Pionierpflanze, die Brachen besiedelt. Daher braucht es nicht nur üppig blühende Magerwiesen, sondern auch Fettwiesen, Feuchtwiesen und Ruderalflächen im Siedlungsraum. Katrin Luder sagt dazu: «Es braucht ein Blütenangebot aus möglichst heimischen Pflanzen, das auch im Frühjahr und Herbst Angebote macht. Dabei zählt nicht der Blütenreichtum allein. Auch die Artenzusammensetzung auf der Fläche ist wichtig.» 

Für die Aufwertung bestehender Flächen gibt es verschiedene Methoden. Auf manchen Flächen genügt es, die intensive Mahd aufzugeben, sofern das vorhandene Substrat stimmt, geeignetes Saatgut im Boden vorhanden ist und die vorhandene Artenzusammensetzung geeignet ist. Sonst kann Streifensaat, bei der die Erde streifenweise umgebrochen und neu angesät wird, den Prozess unterstützen. Bei zahlreichen offenen Bodenstellen genügt es häufig, einfach diese einzusäen. Bei beiden Methoden ist die Idee, dass die neu eingebrachten Arten in die umgebenden Flächen versamen. 

Neben einer an die Region und die lokalen Bedingungen angepassten Blumenwiesensaatmischung ist die Pflege solcher Flächen entscheidend. Sie dürfen nicht zu früh gemäht werden, so dass die Blumen noch absamen können. Zehn Zentimeter Schnitthöhe sind das Minimum. Luder erklärt: «Bei jeder Mahd muss unbedingt etwas Gras stehen bleiben. Eine Fläche von zehn bis dreissig Prozent sollte es je nach Gegebenheiten schon sein.» Diese dient den Insekten als Rückzugsraum. Sie finden auch weiterhin ein Blütenangebot, bis auf der gemähten Fläche wieder die ersten Blüten auftauchen. Sie sagt weiter: «Mäht man alles kommen die Krähen und haben ein Käferfest.»

Die stehengelassenen Stellen sollte man als Gedächtnisstütze kartieren oder schnell fotografieren und jedes Mal verschieben. Wichtig ist, die Brache über den Winter und möglichst bis zum Juni stehen zu lassen, da viel Insekten, deren Larven oder deren Eier in den Stängeln oder an den Pflanzen überwintern. 

Mahdzeitpunkt entscheidend

«Bei der Mahd ist der richtige Zeitpunkt entscheidend. Sie sollte nicht morgens oder abends stattfinden, da die Insekten da nicht aktiv sind, sondern auf den Pflanzen schlafen. Sie haben keine Chance rechtzeitig zu flüchten. Generell sollte an sonnigen Tagen gemäht werden, wenn sich der Boden schon etwas erwärmt hat.»

Wo immer möglich ist der Schnitt mit der Sense ideal. Auch Balkenmäher oder Motormäher arbeiten einigermassen insektenschonend. Ungeeignet für insektenfreundlichen Schnitt sind Schlegelmäher und Rotationsmäher mit Aufbereiter. Beim Freischneider ist das Grasblatt am besten geeignet, da es lange Grashalme hinterlässt, die sich einfach aufnehmen lassen. Faden und Häckselblatt zerteilen das Schnittgut und so manches Insekt und erhöhen den Nährstoffeintrag in die Fläche, da das geschnetzelte Material nur schwierig restlos aufgesammelt werden kann. 

Schnittgut liegen lassen

All diese Massnahmen sind umsonst, wenn das Gras direkt aufgesaugt wird. «Die Mortalität der Insekten liegt dann bei hundert Prozent. Man sollte das Gras immer drei bis fünf Tage liegen lassen. So können auch die langsamen Arten einen neuen Rückzugsort suchen.» Zudem ist auch die Mähgeschwindigkeit wichtig. «Bei Schrittgeschwindigkeit haben die Insekten gute Chancen, noch zu flüchten. Und keinesfalls sollte man in Spiralen zu einer Mitte hin mähen. Damit treibt man die Insekten auf dem verbleibenden Platz im Zentrum zusammen und mäht dann auch den.» Besser in Linien mähen also. 

Der Schnittzeitpunkt ist ein schwieriges Thema. Einerseits sollten möglichst viele Blüten Samen gebildet haben. Andererseits haben die im Gras lebenden Insekten sehr unterschiedliche Entwicklungszyklen. Je nachdem welche Arten gefördert werden sollen müsste man ihn anpassen. Den idealen Zeitpunkt gibt es schlicht nicht. «Man muss den Leuten bewusst machen, dass die schönen Schmetterlinge nur wenige Wochen lang Schmetterlinge sind. Bei Schwebfliegen, Wildbienen, Käfern ist es ähnlich. Die Larven und Raupen brauchen Futterpflanzen, damit es später die schillernden Käfer und Sommervögel gibt», sagt Katrin Luder weiter. 

Zahlreiche Insektenarten wie Wanzen, Zikaden oder Heuschrecken fressen oder saugen ihr Leben lang nur an grünen Pflanzenteilen und sind darauf angewiesen, dass Wiesen nicht komplett gemäht werden, sondern ihnen Rückzugsräume und genügend Nahrung bleiben.

gemähte Wiese mit Rückzugsfläche

Quelle: Alexandra von Ascheraden

Es sollte nie die ganze Fläche gemäht werden. So entstehen wichtige Rückzugsräume für die Insekten und sie finden weiterhin Nahrung.

Wichtig sind auch Ast-, Holz- und Steinhaufen als Strukturelemente, die Nist- und Versteckmöglichkeiten bieten. Einzelne aufkommende Brombeeren oder Heckenrosen kann man dort ruhig stehen lassen. Sie halten die Katzen ab.

Königskerzenkompromiss

Manchmal braucht es einfach etwas Kreativität und Kompromissbereitschaft. Luder berichtet: «Wir haben die abgeblühten Königskerzen immer stehen lassen, weil in deren Stängeln die Dreizahn-Stängelbiene überwintert. Die Leute haben sich beschwert das sehe nicht schön aus. Also brechen wir sie jetzt jeweils knapp über dem Boden ab und legen sie als Ganzes etwas versteckt vor Ort auf einem Haufen ab.»

Klar ist Luders Haltung zu invasiven Neophyten, wie dem nach wie vor beliebten Schmetterlingsflieder, der ja tatsächlich bei einigen der häufigeren Schmetterlingsarten eine beliebte Nahrungsquelle ist: «Bei invasiven Neophyten wie Goldrute oder Sommerflieder sieht man so gut wie keine Frassschäden. Somit bieten deren Blätter kein Nahrung für Raupen, sondern nur welche für die wenigen Wochen am Ende des Lebenszyklus, in der Schmetterlinge bereits Schmetterlinge sind. Ich finde solche Pflanzen kann man mit gutem Gewissen abhauen.»

Insektenfreundliches Mahd-Regime

Grundsätzlich gilt: Mindestens zwei Monate Pause zwischen den Mahddurchgängen. Nicht am Morgen oder Abend mähen, da die Insekten in der Kühle inaktiv sind und nicht flüchten können. Mähgut nicht sofort abführen, sondern erst nach einigen Tagen, damit auch nicht flugfähige Insekten genug Zeit haben, sich einen neuen Unterschlupf zu suchen.

Mahdzeitpunkt nach Lebensraumtyp:

  • Magerwiese: 1 – 2- x jährlich ab Anfang Juli
  • Fettwiese: 2 – 3 x jährlich ab Ende Mai
  • Feuchtwiese: 2 – 3 x jährlich ab Ende Mai
  • Blumenrasen: 4 – 6 x jährlich ab Anfang Mai

Insekten im Siedlungsraum fördern – warum?

Auf vielen Flächen lebt heute etwa ein Drittel weniger Insektenarten als noch vor einem Jahrzehnt. Dies geht aus einer Untersuchung unter Beteiligung der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der Universität Bern hervor. Vom Artenschwund betroffen sind vor allem Wiesen, die sich in einer stark landwirtschaftlich genutzten Umgebung befinden – aber auch Wald- und Schutzgebiete.

Dass es auf den Wiesen weniger zirpt, summt, kreucht und fleucht als noch vor 25 Jahren, haben bereits mehrere Studien gezeigt. «Bisherige Studien konzentrierten sich aber entweder ausschliesslich auf die Biomasse, also das Gesamtgewicht aller Insekten, oder auf einzelne Arten oder Artengruppen. Dass tatsächlich ein Grossteil der Insektengruppen betroffen ist, war bisher nicht klar», sagt Dr. Sebastian Seibold von der Technischen Universität München, der massgeblich an der Studie beteiligt war.

Das internationale Forschungsteam hat zwischen 2008 und 2017 eine Vielzahl von Insektengruppen in Brandenburg, Thüringen und Baden-Württemberg erfasst. Auf 300 Flächen wurden über eine Million Insekten gesammelt. Viele der fast 2700 untersuchten Arten sind nachweislich rückläufig. Sowohl auf den Waldflächen als auch auf den Wiesen zählten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach zehn Jahren etwa ein Drittel weniger Insektenarten.

«Bisher war nicht klar, ob und wie stark auch der Wald vom Insektenrückgang berührt ist», sagt Seibold. Das Team stellte fest, dass die Biomasse der Insekten in den untersuchten Wäldern seit 2008 um etwa 40 Prozent zurückgegangen war. Im Grünland waren die Ergebnisse noch alarmierender: Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte sich die Insektenbiomasse auf nur ein Drittel ihres früheren Niveaus verringert.

Betroffen sind alle untersuchten Wald- und Wiesenflächen. Den grössten Schwund stellten die Forscherinnen und Forscher auf Grünflächen fest, die von Ackerland umgeben sind. Dort litten vor allem die Arten, die nicht in der Lage sind, grosse Distanzen zu überwinden. Um so wichtiger, dass Insekten ökologisch sinnvoll bewirtschaftete Flächen im Siedlungsraum finden – von der Verkehrsinsel bis zur begrünten, grosszügig dimensionierten Baumscheibe.

Geschrieben von

Regelmässige freie Mitarbeiterin für das Baublatt. Ihre Spezialgebiete sind Raumplanung, Grünräume sowie Natur- und Umweltthemen.

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