Unrealisiertes Projekt «Scafhusia»: Der Oval-Einfall am Rhein
«Was wäre wenn – ungebaute Architektur in der Schweiz», hiess eine aktuelle Ausstellung im S AM in Basel, die vor kurzem stattfand. Schaffhausens Beitrag war ein ovalförmiges Projekt von Luigi Snozzi und Bruno Jenni von 1984. Kürzlich organisierte ein Architektur Forum im Gedenken an das nie realisierte «Scafhusia» eine Begehung des Standorts.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der Nebel passte zum Anlass, der einem nie konkretisierten Bauprojekt galt. Das geplante Oval hätte sich hinter der Rhybadi, Schaffhausens historischem Badefloss, und der Pappelreihe erstreckt und bis an den linken Bildrand gereicht.
Um zu verstehen, weshalb die Tessiner Architekten Luigi Snozzi und Bruno Jenni dazu kamen, der Stadt Schaffhausen an prominenter, zentraler Lage den Bau eines ovalen «Kolosseums» vorzuschlagen, muss man historisch etwas ausholen. Dies taten die Organisatoren der Begehung, «SCHARF»-Präsident Christian Wäckerlin und Vorstandsmitglied Pierre Néma, am Morgen des 2. März 2024. Sie empfingen das interessierte Publikum an der Schifflände bei der Rheinbrücke, dem einstigen Warenumschlagsplatz am Kreuzungspunkt von Fluss- und Strassenverkehr. Unterstützt wurden sie bei ihren Ausführungen von Ueli Witzig, dem damaligen Stadtbaumeister Schaffhausens, ein Amt, auf das die Stadt heute verzichtet, wie Christian Wäckerlin mit Bedauern anmerkte.
Schaffhausen ist eine beschauliche Stadt am Nordufer des Rheins, mit einem in-takten mittelalterlichen Kern. Im 19. Jahrhundert vermischten sich die Gewerbebauten am Fluss mit Fabriken. Sie bildeten eine Uferbebauung, die bis zur Brücke reichte, welche seit je den von Zürich her kommenden Verkehr in die Altstadt ein-leitet. Die letzten Gebäude in der Reihe gehörten der Strickmaschinenfabrik. Als in den 1960er-Jahren die Brücke ersetzt wurde und das Unternehmen zwecks einer Auslagerung des Betriebs an die Peripherie einen Landtausch vorschlug, war der Moment gekommen, um sich der städtebaulich unbefriedigenden Situation bei der nördlichen Brückenzufahrt anzunehmen. Die Stadt nahm sich ein Herz und veranstaltete 1984 einen Ideenwettbewerb.
Verkehr versus Architektur
Eigentlich ging es beim Ideenwettbewerb primär um den Verkehr. Die neue Brücke über den Fluss hatte gegenüber der Vorgängerin einen neuen Verlauf; sie endete auf der nördlichen Seite weiter westlich, der Verkehr wurde nicht mehr bei der Schifflände in die enge Gasse der historischen Unterstadt eingeleitet. Entlang des Rheinufers hatte die Stadt einen Abwasserkanal angelegt und darüber eine neue Strasse gebaut, sie führt vor den bisher direkt am Ufer stehenden dem Fluss entlang und ist eine südliche Altstadtumfahrung. Diese Massnahmen schufen ein «Doppel T», mit der Uferstrasse als gemeinsamem Querbalken. Die vertikalen Striche des «Doppel T» sind die Brücke über den Rhein und die von Norden kommende, bei der neuen Uferstrasse stark verbreitete Bachstrasse.
Quelle: Manuel Pestalozzi
«Scharf»-Präsident Christian Wäckerlin (links) folgt den Ausführungen des damaligen Stadtbaumeisters Ueli Witzig zum Gipsmodell des Projekts «Scafhusia».
Das Strickmaschinenareal erstreckt sich zwischen den beiden «Strichen» als grosse Verkehrsinsel nördlich der Uferstrasse. Es eignet sich städtebaulich hervorragend für einen Auftakt Schaffhausens mit Portalfunktion. Dieser hatte, so wünschte man es damals, neben anderen Nutzungen ein geräumiges Parkhaus aufzunehmen. Während die siegreichen Wettbewerbsprojekte Verkehrslösungen mit Strassenunterquerungen im Bereich der Bachstrasse enthielten, liess das Team um Luigi Snozzi und Bruno Jenni bei seinem Vorschlag «Scafhusia» das Verkehrsproblem links liegen. Stattdessen schlug es einen kompakten, den bekannten Massstab Schaffhausens sprengenden Grossbau vor, einen gleichmässig ovalen Ring den sie wie einen geschliffenen Kieselstein in die bestehende Bausubstanz der Altstadt hineinlegten.
Im Wettbewerb hatte dieser Vorschlag keine Chance. Ueli Witzig hob bei der Begehung hervor, dass er eine sinnvolle Bewältigung der zu erwartenden Verkehrsströme verunmöglicht hätte. Ausserdem wagte es das Team, ihrem Projekt auch den beliebten Mosergarten zwischen der Bachstrasse und dem westlich angrenzenden Museum Allerheiligen zu opfern, was für manche Einheimische wohl ein Tabu gewesen wäre. In der Fachwelt fand das Projekt wegen seiner Radikalität und vielleicht auch der ihm innewohnenden Kritik am Primat des Verkehrs durchaus Aufmerksamkeit. Eigentlich wollte es, wie der Projektname andeutet, eine Latinisierung des Areals bewirken. Für die vorgeschlagene Lösung wurde ein spezifisches Vorbild aus Italien genannt: der Park Prato della Valle am Südrand der Altstadt von Padova im Veneto.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Ein Gipsmodell des Areals, das für die Planung nach dem Ideenwettbewerb diente, zeigt: «Scafhusia» kam den Lösungsansätzen und den realisierten Massnahmen näher als die siegreichen Wettbewerbsprojekte.
Die Wucht des Situationsmodells verschleierte womöglich die Idee, welche hinter «Scafhusia» lag: Christian Wäckerlin konnte auf dem Rundgang anhand von mitgebrachten, für die S AM-Ausstellung aufbereiteten Plänen zeigen, dass es darum ging, erst einmal das Oval anzulegen, mit Bäumen zu umrunden und anschliessend nach Bedarf etappenweise mit Ringfragmenten zu bebauen, während das leicht erhöhte Innere des Ovals die Einstellhallen des gewünschten Parkhauses überdecken würde. Es ist wohl vor allem die Idee einer nachhaltigen Formgebung des Areals, ohne Rücksicht auf kurzfristige Bedürfnisse, welche damals das Interesse der Architekturwelt weckte – und es auch heute noch zu tun vermag. Dem Entwurfsteam ging es beim Wettbewerb womöglich gar nicht so sehr um das komplettierte «Kolosseum», das es aus Gips modelliert hatte.
Die Erinnerung bleibt
Die auf den Ideenwettbewerb folgenden Ereignisse gaben dem «Scafhusia»-Team eigentlich recht; der Umgang mit dem Planungsperimeter des Ideenwettbewerbs in den folgenden Jahren führte zu einem Stückwerk ohne Tunnellösung. Das ist eigentlich gar nicht so schlecht und hält Optionen für weitere Massnahmen offen. Das «Scharf»-Team zog auf einem Rollwagen ein Gipsmodell vom Strickmaschinenareal in den Mosergarten, zusammen mit diversen Variantenstudien für den westlichen Arealteil, die sich als Puzzlestücke einsetzen liessen.
Ueli Witzig erzählte vor dem Musikpavillon, weshalb auch die siegreichen Wettbewerbsprojekte in Schaffhausen keine Chance hatten. Einerseits regten sich die Liebhaberinnen und Liebhaber des Mosergartens, weshalb dieser tatsächlich faktisch unantastbar wurde. Sodann meldete sich die Denkmalpflege, welche historisch relevante und daher zu schützende Bausubstanz auf dem Strickmaschinenareal ausmachte. Schliesslich wurde kurz vor der Jahrhundertwende bei der Einmündung der Bachstrasse in die Uferstrasse ein Baukomplex mit integriertem Parkhaus realisiert.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Bei der Einmündung der Bachstrasse in die Uferstrasse ist ein Neubaukomplex entstanden, den man als Fragment von «Scafhusia» betrachten könnte.
Ironischerweise nannte der Volksmund das kompakte Ensemble «Kolosseum», seine Ecke bei der spitzwinkligen Einmündung ist abgerundet, denn sie hat der Schleppkurve von 40-Tönnern zu entsprechen, wie Ueli Witzig anmerkte. An der letzten Station des Rundgangs vor der Rhybadi stellte Christian Wäckerlin Skizzen auf die ebenfalls mittransportierten Staffeleien. Er hatte die geschätzten Ausmasse des Wettbewerbsprojekts über aktuelle Fotos des Standorts gelegt. Die Skizzen zeigten, dass der Neubau von seiner Höhe her durchaus als Fragment von «Scafhusia» durchgehen kann.
Der östliche Teil des Strickmaschinenareals dient bis heute als Parkplatz. In der Besichtigungsgruppe war man sich einig, dass hier noch etwas geschehen sollte, auch wenn nichts Konkretes geplant ist. «Scafhusia» könnte hier durch seine bereits erwiesene Fragmentierbarkeit auch heute durchaus Anregungen bieten. So ist es gut, dass der 40 Jahre alte Vorschlag in Erinnerung bleibt. In diesem Zusammenhang erinnerte Pierre Néma in einem kleinen Referat an die Suggestionskraft von Bildern. Denn Bilder lassen träumen, beispielsweise von der Zukunft – «der Bann des Gegenwärtigen löst sich», wie Néma meinte.