09:17 BAUPROJEKTE

Projekt Bahnhof Süd in Rüschlikon: Auf dem Weg zum Bahnhofsquartier

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Lichtbox Sascha Hottinger

Die Gemeinde Rüschlikon ZH will ihr Zentrum rund um den Bahnhof aufwerten. Zu diesem Zweck führte sie einen Architekturwettbewerb für das Gebiet südlich des Bahnhofs durch. Das Siegerprojekt verspricht eine nahtlose Einfügung von Neubauten in die Umgebung.

Bhf Rüschlikon 1

Quelle: Lichtbox Sascha Hottinger

Südlich des Bahnhofs soll ein neuer Platz entstehen. Im unteren Geschoss des Büro- und Gewerbebaus ist ein Nahversorger vorgesehen.

Rüschlikon zählt zu den wohlhabenden Seegemeinden, die als Wohnort mit zahlreichen Attraktionen aufwarten wie eine Uferzone, schöne Hanglagen und eine ausgezeichnete Erschliessung. Das Zentrum von Zürich ist nur wenige S-Bahn-Stationen entfernt. Im 20. Jahrhundert rasant gewachsen, verfügt das einstige Bauerndorf über alle Vorzüge der Agglomeration. Wie andernorts wurde der bestehende Ortskern mit neuen Quartieren ergänzt, die vorwiegend aus frei stehenden Einzelbauten bestehen. 

Südlich des Bahnhofgebäudes soll nun das Zentrum aufgewertet werden. Zu diesem Zweck erwarb die Gemeinde 2011 zwei benachbarte, teilweise bebaute Parzellen, die nach Osten seeseitig von der Bahnhofstrasse und nach Westen von der Bahnlinie begrenzt werden. Bei der Umgestaltung des schmalen, ungefähr 200 Meter langen Geländestreifens, der nach Südosten abfällt, soll neben der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum durch die Ansiedelung eines Nahversorgers auch eine Aktivierung des Bahnhofvorplatzes erfolgen.

Sorgfältige Vorbereitung

Die Gemeinde ging diese selbst gestellte Aufgabe behutsam an. Zur Prüfung der Machbarkeit liess sie in den Jahren 2016 und 2017 eine Volumenstudie zur Bebauung erstellen. Mit ihr wollte man die maximal verträgliche Ausnützung der Parzelle eruieren, unter Berücksichtigung des Wunsches einer harmonischen Einbindung der Überbauung in das Ortsbild und der Freihaltung von Sichtachsen durch die Parzellen hindurch auf den See. Für die Platzierung des Sockelgeschosses, in dem sich ein Nahversorger einrichten will und das an den Bahnhofsplatz angrenzt, wurde zudem eine Testplanung durchgeführt. Die Phase des Vortastens umfasste mehrere Stufen, sie war eng abgestimmt mit dem Gemeinderat und bezog die Öffentlichkeit und die SBB mit ein.

Diese Vorgänge führten zum privaten Gestaltungsplan «Bahnhof Süd». Er wurde am 26. November 2017 von der Bevölkerung bei einer Urnenabstimmung angenommen. Die Wettbewerbsteams mussten sich somit mit einer präzisen Vorlage auseinandersetzen, der den Projektperimeter in zwei Bereiche (A und B) mit jeweils drei Baufeldern (I, II, III im nördlichen Bereich A und IV, V, VI im südlichen Bereich B) gliedert. In Bereich A, beim Bahnhofsgebäude, waren im Sockelgeschoss der Nahversorger und die Zugänge zu den Gebäuden einzuplanen.

Ein Untergeschoss hatte Raum für Parkplätze des Nahversorgers zu bieten. Im Bereich B war das Sockelgeschoss auf eine Weise auszuführen, dass das grundsätzlich angedachte Konzept der Wohnnutzung später in eine gewerbliche Nutzung umgewandelt werden könnte. Das Gebäude I war für die Gewerbenutzung auszubilden, mit einem direkten Zugang zur Personenunterführung des Bahnhofs, die während der Realisierung der Überbauung erneuert werden soll.

Auch bei der Aussenraumgestaltung holte sich die Gemeinde vorgängig fachkundige Meinungen ein. Nach der Erstellung eines Verkehrsgutachtens erarbeitete ein Landschaftsarchitekturbüro Konzepte für die Gestaltung des Bahnhofplatzes sowie des Weingartenparks und der Strassen bergseitig der Bahngleise.

Macrolot-Ansatz

Ein weiteres Anliegen bei der Auslobung des Wettbewerbs war die Hinterfragung des Macrolot-Ansatzes und seine sinnvolle Anwendung bei der Lösung der gestellten Aufgabe. Beim Macrolot-Ansatz geht es um die Würdigung der heute oft feststellbaren Diskrepanz zwischen der Grobkörnung zeitgenössischer Wohnüberbauungen und der Kleinmassstäblichkeit menschlicher Wahrnehmung aus Fussgängerperspektive, wie die beteiligten Projektteams von der Gemeinde informiert wurde. 

Der französische Architekt, Historiker und Kritiker Jacques Lucan habe diese Abweichung, beziehungsweise den erfolgreichen Umgang mit ihr, 2012 in seinem Buch «Wohin entwickelt sich die Stadt von heute?» (Originaltitel: «Où va la ville d’aujourd-hui?») beschrieben. Er erläuterte dabei das Phänomen der Macrolots (abgeleitet von Macro-îlots, französisch für grosse Arealprojekte), welche heute häufig durch einen Entwickler überbaut werden.

Folgendes Risiko wollte die Gemeinde mit ihrem Anliegen ausräumen: Durch den technologischen Fortschritt im Bausektor sind heute wesentlich grössere Spannweiten und Gebäudehöhen möglich. Zusammen mit der Standardisierung von Bauteilen treten deutliche ökonomische Optimierungspotenziale (Skaleneffekte) mit gröberen Gebäudekörnungen auf. Gleichzeitig ist eine Komfortzunahme im Wohnverhalten der heutigen Bevölkerung zu verzeichnen, was eine Steigerung von Wohnungsgrössen und Gebäudetiefen bedingt. In Kombination mit der Minimierung der Gebäudehülle im Verhältnis zum Bauvolumen (Flächenökonomie) führt diese Entwicklung zu massiven Wohnblöcken mit möglichst glatter Fassadenabwicklung.

Bhf Rüschlikon 2

Quelle: Lichtbox Sascha Hottinger

Entlang der Bahnhofstrasse wird am vertrauten Ortsbild «weitergestrickt».

Die ökonomisch und ökologisch begründeten Skaleneffekte stehen gemäss den Vertretern des Macrolot-Ansatzes im Widerspruch zur menschlichen Wahrnehmung. Diese bleibe trotz technischem Fortschritt auf der Fussgängerperspektive verhaftet, meinen sie. Sie nehme die grossen Volumen und einheitlichen Fassaden neuer Wohnareale als ermüdend und bedrückend wahr. Ausserdem steige mit baulicher Konformität auch die Gefahr, dass vermeintlich kleine Baufehler plötzlich ganze Quartiere betreffen.

Mit dem Macrolot-Ansatz sollen sich durch «geschickte Beschränkung der Skaleneffekte» auf sinnvolle Aspekte solcher Areale (z. B. Tragwerk, Haustechnik) neben einer feingliedrigen Gestaltung grosse Überbauungen realisieren lassen, welche differenziert wahrgenommen werden können und trotzdem von den ökonomischen Vorteilen der Standardisierung profitieren.

Silhouette aus sechs Bauvolumen

Insgesamt 20 Teams reichten fristgerecht ihre Unterlagen zur Präqualifikation ein, davon wählte das Preisgericht acht für die Teilnahme aus. Eine erste Jurierungssitzung endete mit der Schlussfolgerung, dass kein eindeutig bestimmbares Siegerprojekt evaluierbar sei. Zwei Wettbewerbseingaben erwiesen sich als gleichwertig. Die beteiligten Büros wurden angefragt, ob sie mit der Öffnung des Verfahrens und der Fortsetzung mit zwei Wettbewerbseingaben einverstanden seien. 

Eine Einverständniserklärung aller teilnehmenden Büros machte dafür den Weg frei. Er mündete schliesslich in die einstimmige Empfehlung des Preisgerichts, das Team hinter dem Projekt «Flügelschlag» mit der Weiterbearbeitung der Bauaufgabe zu beauftragen. Die ffbk Architekten AG mit Sitz in Münchenstein BL hat das Projekt zusammen mit der in Zürich domizilierten Schwabe Suter Architekten GmbH weiterentwickelt unter Einbezug der planikum GmbH, zuständig für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung. Letztere hat ihren Sitz ebenfalls in Zürich.

Das Siegerprojekt bildet eine Silhouette aus sechs Bauvolumen, die sich gemäss den Vorgaben des privaten Gestaltungsplans mit gebührendem Abstand zueinander entlang des Geländestreifens aufreihen. Sie sind untereinander verbunden über einen in den Hang gebauten Sockelbereich, der sich über die ganze Länge des Areals erstreckt. In ihm befinden sich an der Bahnhofstrasse die Eingänge der Häuser auf den Baufeldern II bis VI, die Einstellhallen und im Baufeld I der Nahversorger. Über diesem Sockel treten die erwähnten Bauvolumen als dreigeschossige freistehende Aufbauten in Erscheinung.

Projekt Flügelschlag in Rüschlikon Grundrisse

Quelle: ffbk Architekten AG, Schwabe Suter Architekten GmbH

Die Grundrisse der Obergeschosse weisen auf eine Vielfalt bei der Nutzung und im Wohnangebot hin.

Teilverputzte Fassade und französische Fenster

An der Bahnhofstrasse ergibt sich eine Abfolge viergeschossiger Fassaden. Die Zwischenräume sind als Nischen ausgebildet, teilweise bieten sie Parkflächen, teilweise sind sie begrünt. Hier befinden sich die Hauseingänge, die Anlieferung und die Zufahrt in die Einstellhalle. Der Niveauunterschied von der Bahnhofstrasse zum Perron wird mit einer Terrassenstufe überwunden, bei den südlicheren Zwischenräumen sind es deren zwei. 

Bei den zwei nördlichen Zwischenräumen führen öffentliche Freitreppen zu den Gleisen. Auf den drei Baufeldern des nördlichen, schmäleren Bereichs A sind die Volumen längs zum Hang angeordnet. Die Giebelfront des Büro- und Gewerbehauses auf dem Baufeld I ist zum Bahnhofplatz orientiert, das repräsentative Gebäude steht allseitig zurückversetzt auf dem Sockel und lässt sich umschreiten.

Dieses Baufeld verbindet den Bahnhofplatz und die Bahnhofstrasse mit der Perronanlage, mit dem Nahversorger und mit der geplanten Unterführung, welche auch die Bahnhofstrasse unterqueren wird. Das Haus auf dem Baufeld II mit seiner teilverputzten Fassade orientiert sich hinsichtlich Raumprogramm und Materialisierung wie das in hellem Sichtbeton gehaltene Büro- und Gewerbehaus am Bestand beim Bahnhof. Das Haus auf dem Baufeld III und das im Grundriss annähernd quadratische Volumen auf dem Baufeld IV reagieren auf die unmittelbare Nachbarschaft mit hochwertigen Wohnbauten. 

Sie verfügen über französische Fenster, für die Fassadenmaterialisierung wählte das Entwurfsteam Eternit (III) und Putz (IV). Die Häuser auf den Baufeldern V und VI sind quer zum Hang angeordnet. Sie sollen die bestehenden Familiengärten ersetzen. Das Entwurfsteam sieht sie eingebettet in eine Gartenlandschaft, die sich über das Areal hinaus nach Osten und Süden fortsetzt. Während der First des Walmdachs auf dem Volumen IV talwärts verläuft, sind jene der südlichsten Bauten wieder parallel zu den Höhenlinien ausgerichtet und ihre Giebelfronten grenzen an die Grünräume. Die Materialisierung der Fassaden in Holz und Metall erinnert an einfache Garten-bauten.

Projekt Flügelschlag in Rüschlikon Grundriss Sockel

Quelle: ffbk Architekten AG, Schwabe Suter Architekten GmbH

Im Sockelbereich sind Einstellhallen und der Nahversorger untergebracht. Auch die Hauseingänge an der Bahnhofstrasse liegen auf diesem Niveau.

Als vielfältig wahrgenommen

Nach der Meinung des Preisgerichts folgt der gewählte Ausdruck der verschiedenen Fassaden dem Macrolot-Prinzip, nach dem Motto «same but different»; sie versuchen auch die dahinter liegende Konstruktion abzubilden. In den Worten des Entwurfsteams spannt sich zwischen dem Bahnhof und dem das Areal im Süden begrenzenden Dammweg ein vielfältiges Angebot an Wohn- und Arbeitswelten auf, das sich vom herkömmlichen Laden- und Bürobetrieb am Bahnhofplatz über Microliving und Clusterwohnen auf dem Baufeld II hin zu einer klassischeren Wohnnutzung in den südlichen Gebieten bewegt. 

Die Macrolot-Idee, interpretiert als Vielfalt in der Wahrnehmung, findet somit für die beteiligten Architektinnen und Architekten seine Entsprechung sowohl in der Gestalt der Baukörper als auch im Raumprogramm. Der Gestaltungsrahmen, in dem sich die Entwurfsteams beim Wettbewerb bewegen mussten, sorgte dafür, dass mit der neuen Überbauung Rüschlikon in diesem Quartier den Ortsbildcharakter bewahren kann. Ein wesentlicher Punkt bei der Überarbeitung des Projekts «Flügelschlag» vor der Jurierung war die Vereinheitlichung der Dächer. Die unterschiedlichen Schräg- und Sheddächern erachtete man zuvor offenbar als zu «wild» für das bestehende Ortsbild. 

Bis zu einem gewissen Grad wurden dem Vorschlag damit die Flügel gestutzt. Dafür dürfte der Entwurf wohl eher den Konsens der Eingesessenen finden. Es ist abzuwarten, ob bei der Planung von Agglomerationen das «Rüschliker-Modell» vermehrt zur Anwendung kommt.

Nachgefragt... bei Pierre-Emmanuel Schmid, Projektleiter bei ffbk Architekten AG

Was hat Ihr Büro dazu bewogen, sich an diesem Wettbewerb zu beteiligen?

ffbk Architekten wurden von Schwabe Suter angefragt, ob sie mit ihnen zusammen als Generalplaner-Team am Wettbewerb teilnehmen möchten.

Wie war und ist die Arbeitsteilung zwischen den beiden Büros?

Analyse und Konzepte wurden zu Beginn parallel erarbeitet und in kurzen Abständen kontrovers diskutiert. Sobald die gemeinsame Strategie definiert war, teilten wir uns die Gebäude auf. Die Baufelder I und II wurden ffbk zugeordnet, III bis VI Schwabe Suter. Nach der Erarbeitung der Grundrisse, Schnitte und ersten volumetrischen Studien übernahmen Schwabe Suter die finale Entwicklung, die thematische Differenzierung der sechs Baukörper und das Layout der Abgabe. ffbk und der Landschaftsarchitekt fungierten quasi als ‹interne Jury› mit Zwischenkritiken. ffbk erarbeiteten ab diesem Zeitpunkt die Grundlagen für die Grobkostenschätzung.

Durch den Gestaltungsplan und zahlreiche Vorgaben war die kreative Freiheit eher beschränkt. Störte Sie das nicht?

Nein, vordergründig ‹einschränkende› Rahmenbedingungen fördern eher unseren Einfallsreichtum.

Der Auslober des Wettbewerbs verlangte eine Auseinandersetzung mit dem Macrolot-Ansatz. War das neu für Sie? Unterstützte Sie dieser Ansatz bei der Planung und führte er grundsätzlich zu neuen Erkenntnissen?

Den Macrolot-Ansatz kannten wir zwar, aber die konkrete Auseinandersetzung mit dem Thema war uns neu. Grundsätzlich handelt es sich um eine interessante und berechtigte städtebauliche Strategie, welche im Gestaltungsplan stark umgesetzt wurde. Wir hätten uns in diesem Kontext jedoch auch einen anderen Weg vorstellen können.

Bei der Überarbeitung vor der finalen Jurierung mussten Sie die von Ihnen etwas auffälliger und weniger konventionell geplante Dachlandschaft ‹bändigen›. Wie geht man als Architekt mit einer solchen Aufforderung zum Kompromiss um?

Bei uns ist das ‹tägliches Brot›. Auf eine architektonische Frage gibt es für uns fast immer zwei bis drei kohärente Antworten.

Wie schreitet aktuell die Planung voran? Laut der Gemeinde dürfte der Baubeginn frühestens 2023 erfolgen. Sind Sie optimistisch?

Ja wir sind optimistisch, wenn auch die aktuelle Lage den ursprünglichen Terminkalender verzögert.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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