09:46 BAUPROJEKTE

Neue Frankfurter Altstadt: Heimat oder Disneyland?

Geschrieben von: Stefan Breitenmoser (bre)
Teaserbild-Quelle: Stefan Breitenmoser

Selten hat ein Projekt zu solchen Kontroversen geführt wie der Wiederaufbau der Altstadt von Frankfurt. Denn wie die Häuser vor dem Krieg ausgesehen haben, weiss man so genau nicht. Deshalb wird offiziell nur von «schöpferischen Nachbauten» gesprochen.

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Die «Neue Altstadt» in Frankfurt glänzt fast so wie die Skyline des Bankenviertels im Hintergrund.

Hier ein Selfie, dort ein Pantomime, hier ein Glas «Ebbelwoi», dort ein Teller mit Grüner Sauce. An einem sonnigen Tag am Wochenende präsentiert sich die Frankfurter Altstadt zwischen Dom und Römer, wie es sich die Stadtregierung wohl gewünscht hat. Asiatische Touristen fotografieren mit ihren Handys und Tablets sich und die «historischen» Bauten und an den Tischen der überteuerten Restaurants sitzen Touristen und einige Fussballfans der Eintracht und lassen sich die lokalen Spezialitäten wie Apfelwein, die berühmten Würstchen oder Handkäs mit Musik schmecken.

Diese touristische Idylle mag aber kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Altstadt so alt gar nicht ist. Selbst die Römerberg-Ostzeile mit ihren schönen Fachwerkhäusern wurde erst in den 80er Jahren erbaut. Sie sind also ungefähr gleich alt wie die dahinter liegende Kunsthalle Schirn, die im Gegensatz dazu eher modern wirkt. Alle anderen Gebäude der Altstadt sind hingegen viel jüngeren Datums.

Der Grossteil, insgesamt 35 Gebäude, wurde erst letzten Herbst feierlich eingeweiht. Einzig das Rathaus, der eigentliche «Römer», ist wirklich alt, schliesslich prägt es schon seit dem 15. Jahrhundert das Stadtbild. Doch selbst vom Rathaus blieb nach den Bombardements der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs nur noch die Fassade stehen, so dass es in den 50er Jahren fast komplett wiederaufgebaut werden musste. Und die charakteristische Fassade erlangte erst nach den Erneuerungen 1974 und 2005 ihr neogotisches Aussehen von 1900 zurück.

«Mickymaus-Mittelalter» und «Fake-Architektur»

Die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg sind der Hauptgrund, wieso es eine Frankfurter Altstadt so nicht gibt. Denn sie wurde damals völlig zerstört. Und insofern gehen auch die Kontroversen um die Altstadt weiter zurück als 2004, als die Stadt erst den Umbau und später den Abbruch des Technischen Rathauses, das den Bereich der Neuen Altstadt belegte, erstmals in Betracht zog. So meinte der deutsche Architekturkritiker Manfred Sack schon 1978: «Es zeugt von einer etwas armseligen Phantasie, dass die Politiker ihren Bürgern nichts weiter vorzusetzen vermögen als ein bisschen Mickymaus-Mittelalter.»

Damit traf Sack schon vor rund 40 Jahren den Nagel auf den Kopf. Denn der «Disneyland»-Vorwurf musste sich das Projekt «Neue Altstadt» mehr als einmal gefallen lassen. So meinte der ehemalige Planungsdezernent Martin Wentz: «In der Altstadt wird ein Stück Disneyland gebaut». Der Architekturkritiker Jürgen Tietz sprach derweil von «Puppenstube» und «Fake-Architektur», und der Architekt Ernst Ulrich Scheffler sagte: «Die ‹Neue Altstadt› ist eine grosse Geschichtsfälschung. Es wird ein Bild einer Stadt erzeugt, das so niemals bestanden hat.»

Die ganze Hitze der Debatte entlud sich insbesondere am Fachwerk. Während es beispielsweise der Frankfurter Architekt Albert Speer 2005 für «Schwachsinn» hielt, «die alte Fachwerkstruktur wieder aufzubauen«, versprach der SPD-Vorsitzende Franz Frey im gleichen Jahr: «Die Bürger haben ein Recht auf Fachwerk.» Den ganzen Disput brachte aber Ernesto Melber, ein Nachfahre Johann Wolfgang Goethes, auf den Punkt, als er 2007 meinte: «Einen einzigen Strassenzug zu rekonstruieren – das können die Modernisten den Frankfurtern doch zugestehen.»

Denn der einen Seite ging es vor allem um die Wiedergewinnung eines Stückchens Heimat, das im Zweiten Weltkrieg verloren ging. Während die andere Seite in Frage stellte, ob denn Frankfurt, das Touristen sowieso eher wegen der Skyline besuchen, überhaupt eine Altstadt – und dazu noch eine historisch inakkurate – brauche oder ob es nicht städtebaulich sinnvollere Projekte gebe.

 Einzig das Rathaus, der eigentliche «Römer», ist wirklich alt.

Quelle: Stefan Breitenmoser

 Einzig das Rathaus, der eigentliche «Römer», ist wirklich alt.

Der Startschuss der Debatte

Doch was war überhaupt passiert? Im Dezember 2004 beschloss die Stadtverordnetenversammlung einen städtebaulichen Wettbewerb für Dom-Römer-Areal zu veranstalten. Denn das Technische Rathaus, welches dieses Areal ab 1974 belegte, war schon seit geraumer Zeit umstritten. Ziel des Wettbewerbs war es, ein Raumprogramm für Wohnen, Einzelhandel, Büro und Gastronomie zu finden und den Krönungsweg zwischen Dom und Römer wiederherzustellen.

Schliesslich wurden hier im Mittelalter 16 römisch-deutsche Könige gekrönt. Aus dem Wettbewerb ging ein Entwurf von KSP Engel und Zimmermann einstimmig als Sieger hervor. Dieser löste aber eine kontroverse Debatte aus. Insbesondere die Verlegung des Krönungsweges, die als zu massig empfundenen Gebäude sowie deren flache Dächer, die nicht mit den Satteldächern der Altstadt harmonierten, wurden kritisiert.

In der Folge traten gut vernetzte Interessengruppen wie beispielsweise die «Freien Wähler» für die Rekonstruktionspläne ein und warben in Presse, Politik und Stadtgesellschaft dafür. Doch durchgesetzt werden konnte das rund 200 Millionen Euro teure Projekte nur, weil zur Zeit der Entscheidung zwischen 2005 und 2007 die finanzielle Situation der Stadt ausgesprochen gut war und das Vorhaben zum Wahlkampfthema gemacht wurde. So bekannte sich unter anderem die CDU in ihrem Wahlkampfprogramm 2005 dafür, die Altstadt «so genau wie möglich» wieder aufzubauen.

Dieses Modell des Siegerentwurfs von KSP Engel und Zimmermann, welcher 2004 erst die grosse Debatte um den Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt auslöste, steht im Deutschen Architekturmuseum.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Dieses Modell des Siegerentwurfs von KSP Engel und Zimmermann, welcher 2004 erst die grosse Debatte um den Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt auslöste, steht im Deutschen Architekturmuseum. 

Strenge Vorgaben für Neubauten

Im September 2007, ein Jahr nach der Kommunalwahl, stimmte die Stadtverordnetenversammlung der schwarz-grünen Magistratsvorlage zu und gab so den Startschuss für den Bau der «Neuen Altstadt». Fortan war diese Vorlage die Basis für alle weiteren Planungsschritte bis hin zur Fertigstellung des Projektes 2018. Sie sah einen neuen städtebaulichen Rahmenplan vor, der sich am Stadtgrundriss der Vorkriegszeit orientierte und die kleinteilige Struktur wiederherstellen sollte. Um die Geschichte des Ortes besser erlebbar zu machen, sollten sieben ehemalige Altstadthäuser rekonstruiert werden, soweit dies nach dem Dokumentationsstand möglich sei.

Diesem Beschluss folgend wurde 2009 die DomRömer GmbH gegründet. Diese hatte den Auftrag, das Areal zu entwickeln und zu bebauen. Ausserdem berief man einen Gestaltungsbeirat unter dem Vorsitz des Architekten Christoph Mäckler ein. Aus dessen Feder stammen auch zwei Hochhäuser – der Tower 185 und der Opernturm – die die Skyline von Frankfurt prägen. Der Beirat sollte als Sachverständigengremium die Qualität des Projektes sichern.

2010 wurde schliesslich mit dem Abriss des Technischen Rathauses begonnen und 2011 schrieb die DomRömer GmbH einen Wettbewerb für die Bebauung des Areals aus. Auf acht der 35 zu bebauenden Parzellen sollten «schöpferische Nachbauten» entstehen. Um im Wettbewerb allerdings eine architektonische Vielfalt zu erlangen, wurden die 27 noch offenen Parzellen auf sieben Lose aufgeteilt, welche zirca vier nicht nebeneinanderliegende Grundstücke umfassten. Je fünf bis acht Architekturbüros teilte man jeweils ein Los zu. Ein solcher Architekturwettbewerb war damals noch ohne Vorbild.

Damit sich die Neubauten allerdings zu einem homogenen Ganzen zusammenfügten, kam eine rigide Gestaltungssatzung zum Tragen, welche vom Gestaltungsbeirat verfasst und vom Stadtparlament genehmigt wurde. Dieser sah neben steilen und mit Schiefer gedeckten Satteldächern eine strenge Fassadengliederung vor: Sockel aus Basaltlava, Erdgeschoss aus rotem Sandstein, stehende Fenster und keine strassenseitigen Balkone. Ausserdem war die Verwendung von Spolien, also historischen Bauteilen oder Überresten, erwünscht.

Diese Grafik zeigt, bei welchen der 35 neuen Häuser es sich um Neubauten (blau) oder um «schöpferische  Nachbauten» (rot) handelt. 

Quelle: Levinger, Giesel

Diese Grafik zeigt, bei welchen der 35 neuen Häuser es sich um Neubauten (blau) oder um «schöpferische  Nachbauten» (rot) handelt. 

Schöpferische Nachbauten für «Neue Altstadt»

Aus dem Wettbewerb gingen 20 Neubauten hervor, die auf sehr unterschiedliche Weise Bezug auf ihre historischen Vorgänger nehmen. Bei sieben weiteren Gebäuden entschied man sich, die alten Gebäude zu rekonstruieren, so dass die Zahl der «schöpferischen Nachbauten» auf 15 stieg. Von historischen Nachbauten durfte man nämlich nicht sprechen, da eine vom Stadtplanungsamt in Auftrag gegebene Studie zum Dokumentationsstand der Altstadthäuser 2006 trotz umfangreicher Recherchen zum Schluss gekommen war, dass für keines der Häuser der Dokumentationsstand für eine historisch getreue Rekonstruktion ausreiche. Ein Wiederaufbau sei deshalb nur in freier, interpretierender Anlehnung an den Originalzustand machbar. Deshalb wurde fortan von Rekonstruktionen oder eben «schöpferischen Nachbauten» gesprochen.

Doch obwohl die Anzahl der Rekonstruktionen von acht auf 15 gestiegen war, formierte sich Widerstand. Denn eine Bürgerinitiative verlangte mehr Nachbauten. Trotzdem fand im Januar 2012 die Kürung der Wettbewerbsgewinner und die symbolische Grundsteinlegung statt. Danach wurde ein grosser Teil der Altstadt bis im Herbst 2018 für die Bauarbeiten gesperrt.

Die Kosten des Projekts stiegen in dieser Zeit von anfangs geschätzten 170 Millionen Euro auf rund 200 Millionen Euro. Die genauen Zahlen werden allerdings erst im Frühjahr 2020 vorgelegt. Nebst den 35 Gebäuden der «Neuen Altstadt» entstanden zwischen 2012 und 2018 mit dem Stadthaus am Markt, das den archäologischen Garten überspannt und gleich neben dem Dom liegt, und dem Neubau des Historischen Museums, das neben dem Römer liegt, ausserdem noch weitere grosse Bauten im Zentrum der Altstadt.

Hitler hatte ähnliche Altstadt-Pläne

Doch trotz der feierlichen Eröffnung letzten Jahres reisst die Kritik an der «Neuen Altstadt» nicht ab. Nebst dem Punkt, dass man für viel Geld eine bescheidene Zahl von 60 Wohnungen gebaut hat, geht es dabei auch vor allem um die Nachkriegsbewältigung. So fand beispielsweise der Architekturprofessor Stephan Trüby internationale Aufmerksamkeit, als er erklärte, die «Neue Altstadt» gehe auf eine Initiative Claus Wolfenschlags zurück, eines «Rechtsradikalen mit Verbindungen ins extremistische Milieu».

Das sei kein Zufall, denn «die Rekonstruktionsarchitektur entwickelt sich in Deutschland derzeit zu einem Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten». Die «Neue Altstadt» sei «unterkomplexes Heile-Welt-Gebaue, das Geschichte auf ein eindimensionales Wunschkonzert reduziert. Eine Historie, in welche der Nationalsozialismus, die deutschen Angriffskriege und der Holocaust allenfalls noch als Anekdoten einer ansonsten bruchlosen Nationalgeschichte überleben». Damit stach Trüby natürlich in eine tiefe Wunde der Deutschen.

Doch tatsächlich hatte schon Hitler unter dem Titel «Altstadtgesundung» 1933 ähnliche Pläne. Ihm ging es damals aber vor allem um die «Verpflanzung assozialer Elemente», denn die Altstadt war lange Zeit der Slum Frankfurts. Doch ob Hitler oder nicht, Trüby hat insofern Recht, als dass man bei Nachbauten aufpassen muss, dass man die Geschichte nicht verzerrt.

Deshalb kann die «Neue Altstadt» auch als Beispiel dienen. Denn in Deutschland wird auch andernorts wie beispielsweise in Dresden über den Wiederaufbau der Altstadt diskutiert. Nicht zu Unrecht schrieb deshalb Jürgen Tietz: «Der grosse Irrtum einer derart fiktionalen Stadtarchitektur ist es, dass sie wie eine gebaute Zeitmaschine wirkt. Doch sie ist nur ein Abziehbild einer deutschen Seelenlandschaft, in der die Verwundungen der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die nach-nachfolgende Generation andauern.»

Der Unterschied zwischen Neubau und «schöpferischem Nachbau» ist zumindest von blossem Auge gut erkennbar.

Quelle: Stefan Breitenmoser

Der Unterschied zwischen Neubau und «schöpferischem Nachbau» ist zumindest von blossem Auge gut erkennbar. 

Befremdliche Interpretation

Wer die «Neue Altstadt» unter diesem Vorwissen durchläuft, kann also sicher etwas lernen. Denn auch wenn die eingebauten Spolien sowie die glänzenden Fassaden etwas befremdlich wirken und einem manchmal das metaphysische Gruseln packt, so ist es doch interessant zu sehen, wie man Geschichte interpretieren kann. Wer allerdings wirklich hessische Fachwerk-Architektur bestaunen will, ist besser beraten, sich einige der umliegenden Städte wie beispielsweise Seligenstadt zu besuchen, die im Krieg nicht völlig zerbombt wurden.

Viele Touristen dürften sich indes an der historischen Ungenauigkeit nicht stören und nur schon für einen Besuch der Schirn Kunsthalle lohnt bei einem Frankfurt-Aufenthalt ein Abstecher in die Altstadt. Ausserdem schmecken sowohl der «Ebbelwoi» als auch die Grüne Sauce mit Blick auf «Fake»-Fachwerk mit ein paar Wolkenkratzern im Hintergrund sicherlich nicht schlechter. Für ein Selfie reicht es zumindest allemal.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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