07:58 BAUPROJEKTE

Dubai-Hochhaus neben Holocaust-Gedenkstätte sorgt für Streit in Jerusalem

Geschrieben von: Felix Wellisch (fwe)
Teaserbild-Quelle: PD

Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem könnte bald von einem 40-stöckigen Wolkenkratzer überschattet werden. Doch unter den Anwohnern regt sich Widerstand. In dem Konflikt spiegelt sich ein weit grösseres Problem in Israel. 

Kindergarten - Thoraschule2

Quelle: Felix Wellisch

Wo bald ein Wolkenkratzer gebaut werden könnte, befindet sich heute ein Kindergarten und eine Thoraschule.

Wer an der Endstation der Jerusalemer Strassenbahnlinie Eins aussteigt, dessen Augen fallen als erstes auf eine rote Stahlskulptur vor bewaldeten, grünen Hügeln. Die meterhohen Stahlbögen des Bildhauers Alexander Calder aus dem Jahr 1977 sind eine Hommage an die Jerusalemer Berge, die sich dahinter erstrecken. Sie markieren den Eingang zu gleich mehreren der wichtigsten Symbolorte Israels, darunter die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Den Plänen der US-amerikanischen Architekten Adrian Smith und Gordon Gill zufolge könnte hier jedoch bald etwas anderes die Aufmerksamkeit der jährlich rund einer Million Besucher auf sich ziehen.

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Quelle: PD

40 Stockwerke mit Blick auf Jerusalems Holocaust-Mahnmal. Der Entwurf der Architekten Smith und Gill geht vielen Anwohnern zu weit.

40 Stockwerke hoch, gebaut aus Glas und Stahl, überragt der geplante Wohnturm auf den Skizzen die umliegenden Gebäude um ein vielfaches. Die Pläne für das Projekt wurden im Frühjahr unter dem Namen «Burdsch Chalifa Jerusalems» bekannt. Der Architekt Adrian Smith hatte Anfang der 2000er den gleichnamigen und bis heute mit 830 Metern höchsten Wolkenkratzer der Welt in Dubai entworfen. 

Braucht «kein weiteres Wahrzeichen»

Bei vielen Bewohnern des Stadtviertels Kiryat Hayovel sorgen die Pläne für Kopfschütteln. «Das passt nicht an diesen Ort», sagt die 76-jährige Rivka Ben Sason, die seit fast 30 Jahren in einem kleinen Haus mit Garten rund 20 Meter von der geplanten Baustelle entfernt wohnt. Auf dem Kopf trägt sie einen Strohhut gegen die Mittagssonne. Über die Rosenstöcke blickt die Rentnerin auf Yad Vashem und den Herzl-Berg. 

Dort liegen Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus sowie mehrere frühere Staatschefs wie Golda Meir und Jitzchak Rabin begraben. Auf der Nordseite liegt Israels wichtigster Soldatenfriedhof. «Der Architekt hat gesagt, das Gebäude wird ein Wahrzeichen von Jerusalem, aber hier braucht es doch gar kein weiteres Wahrzeichen», sagt Sason.

Sason Portrait

Quelle: Felix Wellisch

Rivka Ben Sason wohnt seit fast 30 Jahren in Kiryat Hayovel. Von ihrem Garten aus blickt sie auf Israels wichtigste Gedenkstätte: Den Herzlberg.

Wo bald der Turm stehen soll, befinden sich heute ein Kindergarten und eine Thora-Schule. Kiryat Hayovel zählt rund 25'000 Einwohner, viele von ihnen aus bescheidenen Verhältnissen. «Das Projekt wird viele reiche Leute anziehen, weil die Wohnungen luxuriös und teuer sein werden. Leute aus der Nachbarschaft werden sich das nicht leisten können», sagt Sason.

Wie «Per Anhalter durch die Galaxis»

Bereits jetzt dröhnen in dem in den 1950er Jahren gegründeten Arbeiter- und Einwandererviertel an vielen Orten Baumaschinen, ragen Kräne über die Dächer der drei- oder vierstöckigen Häuser. Vielen ginge der Wandel hier zu schnell, sagt Nirit Rossler, die sich ehrenamtlich in einem Gemeindezentrum engagiert. Sie hat die grauen Haare zu einem Zopf geflochten und trägt ein dunkles Baumwollhemd. 

Von der Stadt veröffentlichte Bauvorhaben landen auf ihrem Schreibtisch. In anderen Nachbarschaften käme ein Bauvorhaben alle paar Wochen oder Monate. In Kiryat Hayovel seien es mehrere pro Woche. «Das ist ein Gefühl wie bei ‹Per Anhalter durch die Galaxis’. Du wachst am Morgen auf und stellst fest, dass vor deinem Haus ein Bulldozer steht und du gerade noch dein Handtuch mitnehmen und weglaufen kannst», sagt sie.

Rossler Portrait

Quelle: Felix Wellisch

Nirit Rossler will bei der Veränderung ihres Stadtteils mitreden.

Der Vorschlag der «Burdsch Chalifa»-Architekten aber habe alles übertroffen, was sie bisher gesehen habe. «Dieses Projekt steht für alles, was hier falsch läuft», sagt Rossler. Zusammen mit anderen gründete sie die Gruppe «Yuvalim 2041» und rief zu Protesten auf. «Wir sind nicht gegen Modernisierung, das Problem ist die Art, wie diese Projekte oft umgesetzt werden», sagt sie. So habe das Viertel bereits heute zu wenig Infrastruktur für die Anzahl seiner Bewohner. Es fehle an Nahverkehr, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Die Stadtverwaltung und die Gedenkstätte Yad Vashem wollen sich derzeit nicht zu dem Projekt äußern. 

Jährlich 60'000 neue Wohneinheiten benötigt

Der Konflikt geht weit über Kiryat Hayovel und Jerusalem hinaus, findet Professor Danny Ben Shahar, der an der Universität Tel Aviv zum Finanz- und Immobilienmarkt forscht. Israel brauche derzeit rund 60'000 neue Wohneinheiten jedes Jahr. Grund dafür ist ein stabiles Bevölkerungswachstum von rund zwei Prozent pro Jahr durch Einwanderung und eine hohe Geburtenrate. Gleichzeitig ist Bauland knapp. In die Höhe zu bauen sieht er daher als alternativlos. Doch Wolkenkratzer mit 30 oder 40 Stockwerken brächten neue Probleme mit sich, etwa dass die Infrastruktur mit der steigenden Bevölkerungsdichte mithalten müsse.

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Quelle: Felix Wellisch

Baukräne gehören zum Stadtbild. Das traditionelle Arbeiterviertel Kiryat Hayovel verändert sich.

Auch die Verdrängung der lokalen Bevölkerung sei wegen der steigenden Preise vielerorts in Israel ein Problem. «Eine Lösung wäre zum Beispiel, 30 Prozent der Wohnungen in solchen Hochhaus-Projekten als Sozialwohnungen zu deklarieren», sagt Shahar. «So könnten auch Menschen mit geringerem Einkommen weiterhin in den renovierten Vierteln wohnen.»

Widerstand zeigt Wirkung

Dass sich mit den Wolkenkratzern auch das Gesicht der Stadt verändert, hat bereits andernorts in Israel zu Streit geführt. So will Haifa, Israels einzige Hafenstadt, eine Beschränkung auf maximal 30 Stockwerke oder 100 Meter Bauhöhe einführen. Umso mehr Konfliktpotential bringt das Thema im symbolträchtigen Jerusalem mit sich, wo einige der wichtigsten Heiligtümer dreier Weltreligionen stehen. 

Der Protest der Anwohnerinitiative «Yuvalim 2041» scheint bereits Wirkung gezeigt zu haben: Aus Planungskreisen heißt es, dass eine Reduzierung auf 30 Stockwerke diskutiert werde. Bevor neben dem Herzlberg die Baukräne in die Höhe wachsen, muss der Vorschlag zudem noch einen Bürgerbeteiligungsprozess durchlaufen. Den Bewohnern von Kiryat Hayovel bleibt also noch Zeit, sich in die Debatte um die Zukunft ihrer Nachbarschaft einzubringen.

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Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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