Yvan Pestalozzi, Erfinder des Lozziwurms: Mit grenzenloser Fantasie
Wer in den 70er- und 80er-Jahren über Spielplätze tobte, kennt den Lozziwurm. Die Freude am kreativen Spiel zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk seines Erfinders, des Plastikers Yvan «Lozzi» Pestalozzi. Unser vor wenigen Wochen geschriebenes Porträt ist auf traurige Weise aktuell: Er ist am 3. Juli im Alter von 86 Jahren gestorben.
Quelle: Yvan Pestalozzi
Das ikonische Spielgerät von 1972, der «Lozziwurm», war bunt und sofort spielbereit.
In einer ehemaligen Walder Spinnerei – dem
Lindenhof – hat Yvan Pestalozzi vor einem Jahr sein «Lozzi Museum» eröffnet,
unterstützt von ehrenamtlichen Helfern und seiner Stiftung. Rund 150 Objekte
des Metallplastikers sind auf 200 Quadratmetern ausgestellt, die Pestalozzi zum
Teil in den letzten Jahren wieder zurückgekauft hat. Ein passender Rahmen. Denn
nicht nur viel handwerkliche Arbeit steckt in den Werken, sondern auch jede
Menge «Ideengespinst».
Poetische Fantasiegebilde
Mit seinem Gehstock drückt Yvan Pestalozzi auf ein Fusspedal am Boden. Strom fliesst und in einer Vitrine entfaltet sich wie von Zauberhand ein kleiner Metall-VW-Käfer in seine 14 Einzelteile und wird wieder zusammengesetzt. Den «Magic Beetle» hat der Künstler 2009 geschaffen, einfach aus «Freude am kreativen Spiel». Zahnräder, Motor, Ketten etc. hat Pestalozzi dazu gekauft, alles andere hat er selbst neu gefertigt, wie er betont. Das unterscheide ihn auch von einem anderen Schweizer Künstler, mit dem Pestalozzi oft verglichen wird: Jean Tinguely. Dieser baute ebenfalls kinetische Maschinen, allerdings aus Schrottteilen und Fundstücken.
Gleichermassen spielfreudig ist auch das
Wandmobil von 1976 direkt neben dem Eingang, dass sich viele Jahre am Hauptsitz
des Schweizerischen Bankvereins befand. Eine von vielen Auftragsarbeiten, die
Pestalozzi für die öffentliche Hand, Private und Unternehmen ausgeführt hat.
Das filigrane Wandmobil ist ohne vorherige Zeichnungen oder Pläne entstanden –
typisch für seine Arbeitsweise. «Ich habe das ganze Bild, die ganze
Konstruktion vor dem inneren Auge und brauche deshalb keine Vorlage», erklärt
Yvan Pestalozzi. Vier Monate tüftelte er, bis sich die farbigen Plastikkugeln
problemlos über Rollbahnen bis zu einer Abschussvorrichtung bewegten, die sie
in einen Trichter katapultiert, bevor alles wieder von vorne beginnt. «Ich bin
sehr dankbar für meine handwerkliche Ausbildung als Möbelschreiner», erklärt
der Künstler. «Dadurch habe ich räumliches Vorstellungsvermögen und
Fingerfertigkeit entwickeln können.»
Quelle: Karin Stei
Arbeiten, solange es geht. Denn die Ideen sprudeln trotz schwindender Kräfte weiter. Seine neueste Klein-Plastik: eine Biene aus Modelliermasse.
Kritischer Beobachter
So poetisch-fantastisch der «Magic Beetle»
oder das Wandmobil sind – Yvan Pestalozzi hat auch eine ausgeprägte politische,
gesellschaftskritische Seite. Die «Tritt-in-Arsch-Maschine» von 1976 ist ein
Kommentar auf die Fremdarbeiterpolitik Ende der 1970er-Jahre. In einem
filigranen Drahtgestell, dessen Haube nicht von ungefähr an das Dach des
Bundeshauses erinnert, wird ein Bein mittels eines Rads aufgezogen und tritt
kräftig in ein nacktes Hinterteil. «Nachdem die Gastarbeiter uns in Hoch- und
Tiefbau, Abfuhrwesen, Gastgewerbe, Fabriken usw. wertwolle Dienste geleistet
hatten, wurden sie in der Rezession zu Tausenden in ihr Land zurückgeschafft.»
Eine Tatsache, die den Künstler auch heute noch wurmt.
Quelle: Karin Stei
Der «Magic Beetle» kann sich per Strom zu 14 Einzelteilen auseinanderfalten.
Ähnlich nachdenklich stimmt den Betrachter
die Drahtplastik «Abdankungsmaschine für Heuchler und Erbschleicher» von 1976.
Der Clou: Auf Knopfdruck sprüht klerikales Tränengas aus einer Spraydose, um
die Krokodilstränen fliessen zu lassen. Und angesichts der fortschreitenden
Zerstörung natürlicher Ressourcen und des Klimawandels hat seine Skulptur
«Noah» von 1984 nichts an Aktualität verloren. Denn wer möchte es dem Treck
Tiere verübeln, mittels einer Rakete die Erde zu verlassen. Zwei Seelen wohnen
in Pestalozzis Brust. Die Ernsthaftigkeit komme von der väterlichen,
schweizerischen Seite, das Fröhlich-Verspielte von der mütterlichen,
französischen Seite. «Ich habe eine Welt aus meiner Kunst geschaffen, um die
Welt zu ertragen.»
Kunst aus Wortspielen
Die Welt kritisch zu hinterfragen, ist Yvan
Pestalozzi ein lebenslanges Anliegen. Aber, so betont er: «Es sollte nie
verletzend sein, sondern ins Herz der Menschen treffen.» Und das gelingt ihm
mit Witz und Humor. Erfindungen wie die «Heiligenschein-Polier-Maschine», ein
«Nasenbohr- und Ohrengrüblerset» oder den «Schulterklopfer», mit dem man sich
selbst loben kann, erheitern die Besucher. «Denken wie ein reifer Mensch – sich
freuen können wie ein Kind», lautet sein Lebensmotto.
Quelle: Karin Stei
Die Ideen zu den Kleinplastiken aus Draht beruhen oft auf Wortspielen.
Bestes Beispiel sind die kleinen Figuren
und Objekte aus Modellierton, Draht und Weichmetall, die die Regale
füllen. In einer klassischen Zirkusszene erwartet der «Dompteur», dass
eine Schnecke durch den Reifen springt. Für Pestalozzi ein Symbol für alle
Menschen, die im Beruf und Leben überfordert sind. Was bestimmt vor allem
Frauen schmunzeln lässt: Statt des Geschlechtsteils entspringt einer männlichen
Figur eine Feder – die so genannte «Triebfeder»… «Deshalb bin ich auch als
Kabarettist unter den Künstlern bezeichnet worden», erklärt Yvan Pestalozzi
lächelnd.
Aus den Sorgen, Nöten, Wünschen und Träumen
der Menschen nimmt er die Inspiration für seine Werke. Das macht seine Kunst
trotz der Doppelbödigkeiten äusserst zugänglich. Eine Tatsache, die ihm
vielleicht die Anerkennung bei der Kunstkritik verwehrt habe, mutmasst der
Künstler. Hinzu komme die Vielfältigkeit seiner Objektkunst. Und auch sein
Rückzug aus der «Cüpli-Gesellschaft», in der er sich in frühen Jahren bewegte,
hat seine Popularität nicht gerade gefördert. «Da habe ich den Anschluss
verpasst. Aber die Zeit für meine Arbeit war mir wichtiger.»
Quelle: Yvan Pestalozzi
Die Eisenplastiken drehen und bewegen sich mit natürlicher Energie. Über 80 Windspiele hat der Künstler für die Schweiz, Europa und Fernost entworfen.
Windplastiken und Kreisel
Aber auch so sind seine grossformatigen
Arbeiten vielen Menschen bekannt. Pestalozzis Windplastiken sind nicht nur in
Europa und den USA zu finden, sondern zieren auch einen Park in Singapur. Die
bunten Installationen sind so konstruiert, dass sich die einzelnen Teile
bereits bei sanftem Luftzug bewegen und immer wieder neue Ansichten liefern.
Und sturmresistent sind sie auch. Was verwundert: Die Windplastiken bewegen
sich lautlos. «Die beweglichen Elemente drehen auf massiven, dauergeschmierten
und geschlossenen Kugellagern. Alle Eisenteile sind feuerverzinkt und, wie die
Aluminiumflächen der Windsegel, mit einer bewährten
Zweikomponenten-Farbbeschichtung behandelt», erklärt Pestalozzi.
Seiner Leidenschaft für die Natur und
insbesondere den Insekten als lebenswichtiger Gattung verdanken sich der
«Mückenschwarm» auf dem Kreisel Schossacher in Dübendorf und die riesigen
Ameisen, Biene, Florfliege und Spinne, die die Nutztierklinik in Zürich zieren.
Liegt das letztere eher auf der Hand, erklären sich die Mücken durch die Nähe
zum Militärflughafen. «Mücken sind wendig, aggressiv und verteidigen ihren
Luftraum», sagt Pestalozzi. Seine kleineren Plastiken und Drahtskulpturen baut
er ganz ohne fremde Hilfe, aber die Grossplastiken entstehen in Kollaboration
mit Metallbauern und Schlossern, Ingenieuren, Statikern und vielen anderen
Fachleuten.
Quelle: Yvan Pestalozzi
Zum Wahrzeichen in Dübendorf geworden: der Kreisel mit dem «Mückenschwarm».
Der «Lozziwurm»
Weit bekannt ist auch eine andere
Grossplastik: der «Lozziwurm». 1972 erblickte er auf dem Spielplatz der
Neubausiedlung Benglen bei Fällanden das Licht der Welt. Pestalozzi war
beauftragt worden, ein einfach aufzubauendes und veränderbares Spielelement zu
entwickeln. «Mir schwebte ein Bewegungs- und Sozialspiel vor und daraus
entstand der Lozziwurm.» Die quietschbunte Spielplastik besteht aus mindestens
19 Geraden- und Bogenelementen, die durch Kupplungsringe zusammengehalten
werden. Der Durchmesser der glasfaserverstärkten Kunststoffohre beträgt 90
Zentimeter und erlaubt herrliche Versteckspiele mit Freunden, durch Löcher
kommt man rein und raus, man kann Schrägen herabrutschen und auf den Rohren
entlang balancieren. «Daher kommt auch mein Spitzname Lozzi, die Kinder
konnten meinen Namen nicht aussprechen.» In seiner Blütezeit war der
«Lozziwurm» an über 100 Standorten in Europa auf Spielplätzen, Park- und
Schulanlagen zu finden, 1973 stand er gar vor dem Eingang der Art Basel.
Heute sind viele abgebaut. Der Zahn der
Zeit ist dafür ausschlaggebend, und auch neue Sicherheitsvorschriften für
Spielgeräte, die die Beratungsstelle für Unfallverhütung herausgegeben hat –
Stichwort Rutschgefahr – wie der Künstler erklärt. «Dabei ist in den 50
Jahren seines «Daseins» kein einziger nennenswerter Unfall passiert!» Als
Kunstobjekt und Spielgerät hat der «Lozziwurm» aber noch nicht ausgedient. Seit
2013 steht die Spielplastik zum Beispiel vor dem Carnegie Museum of Art – einem
Kunstmuseum in der Nähe von Pittsburgh. Und bestellen kann man ihn bis heute
bei der Schweizer Firma Knöpfel Kunststoffe AG, und zwar im Original.
Technische Änderungen waren zwar kurzzeitig einmal angedacht worden, aber als
zu teuer und zu weit von der Ursprungsidee verworfen worden. «Für einen neuen
Standort würden wir von Fall zu Fall nach einer Lösung suchen», so Pestalozzi.
Quelle: Yvan Pestalozzi
So kann Zeit auch aussehen: In der «Zeitmaschine» stürzten ab 1983 24 Kunststoffkugeln in ein Wasserbecken und markierten so den Verlauf der Tageszeit.
Luftikus mit Tiefgang
Eine kleine Ecke ist Pestalozzis
Leidenschaft der Fliegerei gewidmet. Da-Vinci-artige Flugmaschinen hängen von
der Decke, Flug-Fotos aus seiner aktiven Zeit illustrieren den spät
verwirklichten Traum. «Schon als Kind habe ich Flugmodelle gebaut. Ich habe
mich in der Luft immer wohl gefühlt.» Erst mit 40 Jahren hat er den
Segelflugschein gemacht, mit 65 die Motor-Flug-Lizenz, mit 70 einen
Ecolight-Motorsegler gekauft und ist damit von Flugplatz zu Flugplatz gehüpft,
bis er aus Altersgründen seine Passion aufgeben musste. Ein Traum, der endete.
Aber einen anderen, grossen Traum konnte sich Yvan Pestalozzi mit der Gründung
des «Lozzi Museums» vor drei Jahren noch erfüllen, trotz einer schweren
Krebserkrankung. «Ich musste das Museum realisieren, weil es so vielen Menschen
Freude macht und ich weiss, was es ihnen bedeutet.» Diese Freude spiegelt sich
in den Gästebucheinträgen wider, die im feinen Humor Pestalozzis Trost
angesichts der Widrigkeiten des Lebens finden.
Auch wenn Yvan Pestalozzi weiss, dass er
mit seinem Museum vielen Menschen eine Freude macht – das Schwinden seiner
Kräfte macht ihm zu schaffen. Über 1000 Objekte hat er in 60 Jahren mit
ungebrochener Kreativität hergestellt. Heute kann er nurmehr kleinere
Plastiken in seinem Atelier in einem Weiler bei Wald ausführen. Hier lebt er
mit seiner Frau und Vertrauten Christine, die seine Arbeit seit 40 Jahren
unterstützt, aber auch kritisch begleitet hat. Ein letztes Gross-Projekt –
neben dem Erhalt des Museums – möchte Yvan Pestalozzi noch gerne verwirklichen.
Die Umsetzung seines «Ökumenischen Traumschlosses», einer Idee von 2009. Eine
begehbare Installation soll es werden, die die Gebäude der grossen Religionen
monumental vereint und damit einer übergreifenden Spiritualität ein Zeichen
setzt. Ein schöner Traum.
Quelle: Karin Stei
Yvan Pestalozzi vor dem Modell des «Ökumenischen Traumschlosses». Die Umsetzung der begehbaren Installation ist das letzte Wunschprojekt des Plastikers.
Quelle: Yvan Pestalozzi
So sieht er also aus, der Eisprung.
Quelle: Yvan Pestalozzi
Yvan Pestalozzi hat zeit seines Lebens gesellschaftliche Entwicklungen aufgegriffen und humoristisch aufs Korn genommen wie auch «Facebook».
Lozzi Museum
- Adresse: Lindenhofstrasse 1, Bleiche, 8636 Wald ZH.
- Webseite: www.lozzimuseum.ch
- Öffnungszeiten: Mittwoch, Samstag und Sonntag von 13.30 – 16.00 Uhr.
- Kontakt: Telefon 044 980 10 31 oder 044 980 08 76
Zur Person
Yvan «Lozzi» Pestalozzi wurde am 13. Dezember 1937 in Glarus geboren. Seine Mutter war Französin, der Vater Deutsch-Schweizer. Bereits als Jugendlicher zeichnete Pestalozzi viel und experimentierte mit allerlei Materialien. Er absolvierte eine Lehre als Möbelschreiner, um Innenarchitekt zu werden. Nach einem schweren Unfall bildete sich Pestalozzi fort und arbeitete ab 1964 als freischaffender Künstler. Bekannt wurde er für seine aus Draht geformten Kleinplastiken sowie kinetischen Arbeiten im öffentlichen Raum. Yvan Pestalozzi lebte und arbeitet e in Wald, einer Gemeinde im Kanton Zürich. Er ist am 3. Juli 2024 gestorben.